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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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Der Verfassungskonflikt in Ungarn

zu wahren. Auch die Delegationswahlen wurden absichtlich verzögert, um die
Krone in eine Zwangslage zu versetzen, und erst im letzten Moment, als die
österreichische Delegation schon lange tagte, kündigte Tisza die Verschärfung
der Geschäftsordnung an (28. Januar). Nun ging auf einmal alles, und nach
Schluß der Delegationen ereignete sich sogar (am 10. März) eine große thea¬
tralische Versöhmmgsszcne, in der die Oppositionsführer erklärten, sie würden
nicht mehr gegen die Rekrutenvorlage obstruieren, worauf Tisza seine Vorlage
auf Abänderung der Hausordnung zurückzog.

Man war also an diesem "historisch denkwürdigen Tage" mit der Taktik
Tiszas ganz zufrieden und bewilligte jetzt auch, obgleich man seit dem Oktober
1902 gegen jedes Rekrutengesetz obstruiert hatte, die Rekrutenvorlage. Der
Zweck dieses Einschwenkens war offenbar wieder, auf die Krone einzuwirken.
Je mehr man ihr an militärischen Forderungen abzupressen gedachte, um so
weniger konnte ein Beweis dafür schaden, daß man auch besser sein könne
als andre Menschen, denn damals gerade waren die Verhältnisse im öster¬
reichischen Abgeordnetenhause so, daß dort die Nekrutenvorlage nicht zustande
kommen konnte. Aber auch dieser Wink blieb in der Hofburg zu Wien un¬
bemerkt. Die Parlamentsferien im Sommer verliefen für Tisza und die
liberale Partei ungünstig, denn immer mehr kam man in Ungarn dahinter,
daß die militärischen Zugeständnisse, die Tisza so sehr herausgestrichen hatte,
in Wirklichkeit sehr wenig zu bedeuten hatten, und daß die klagenden Posaunen¬
stöße der Wiener Blätter über die Zertrümmerung der Armee nur den Zweck
hatten, der gesmnungsverwandten Partei in Ungarn beizuspringen. Mit dieser
Erkenntnis lebte die alte Erbitterung gegen die gewalttätige liberale Partei
wieder ans, die die Unabhängigkeitspartei in ihrem Sinne rührig schürte, und
als Tisza am 10. Oktober den Reichstag wieder eröffnete, lauerte die Ob¬
struktion schon im Hintergrunde. Zunächst mußte aber noch der Handels¬
vertrag mit Italien erledigt werden, dessen die ungarischen Weinbauer dringend
bedurften. Nachdem er am 28. Oktober angenommen worden war, ging am
4. November die Obstruktion los. Die Ankündigung Tiszas, daß die Honved-
armee Divisionsartillerie bekommen werde, half nichts mehr, und er sah nun
ein, daß es sich diesesmal um die Herrschaft seiner Partei handle. Um die
Opposition mundtot zu machen, wandte er das Mittel an, das Bädern fünf
Jahre früher in Wien versucht hatte. Er ließ am 18. November einen An¬
trag Daniel auf Einführung einer provisorischen Hausordnung unter allge¬
meinem Toben der Opposition durch den Präsidenten als angenommen er¬
klären und vertagte darauf sofort das Haus. Es war die letzte Gewalttat
der liberalen Partei. Als am 13. Dezember das Abgeordnetenhaus wieder
zusammentreten sollte, erschien vor Beginn der Sitzung die Opposition im
Hause, zerschlug die Präsidcntenestmde und die Ministersessel und warf die
neue Parlamentswache hinaus. Der Reichstag mußte am 19. bis zum
28. Dezember vertagt werden, trat aber überhaupt nicht mehr zusammen und
wurde am 5. Januar 1905 aufgelöst. Dann folgte die Katastrophe der
liberalen Partei bei den Neuwahlen am 26. Januar, die ziemlich überraschend
kam, denn man hatte von der Rücksichtslosigkeit Tiszas doch mehr erwartet.


Der Verfassungskonflikt in Ungarn

zu wahren. Auch die Delegationswahlen wurden absichtlich verzögert, um die
Krone in eine Zwangslage zu versetzen, und erst im letzten Moment, als die
österreichische Delegation schon lange tagte, kündigte Tisza die Verschärfung
der Geschäftsordnung an (28. Januar). Nun ging auf einmal alles, und nach
Schluß der Delegationen ereignete sich sogar (am 10. März) eine große thea¬
tralische Versöhmmgsszcne, in der die Oppositionsführer erklärten, sie würden
nicht mehr gegen die Rekrutenvorlage obstruieren, worauf Tisza seine Vorlage
auf Abänderung der Hausordnung zurückzog.

Man war also an diesem „historisch denkwürdigen Tage" mit der Taktik
Tiszas ganz zufrieden und bewilligte jetzt auch, obgleich man seit dem Oktober
1902 gegen jedes Rekrutengesetz obstruiert hatte, die Rekrutenvorlage. Der
Zweck dieses Einschwenkens war offenbar wieder, auf die Krone einzuwirken.
Je mehr man ihr an militärischen Forderungen abzupressen gedachte, um so
weniger konnte ein Beweis dafür schaden, daß man auch besser sein könne
als andre Menschen, denn damals gerade waren die Verhältnisse im öster¬
reichischen Abgeordnetenhause so, daß dort die Nekrutenvorlage nicht zustande
kommen konnte. Aber auch dieser Wink blieb in der Hofburg zu Wien un¬
bemerkt. Die Parlamentsferien im Sommer verliefen für Tisza und die
liberale Partei ungünstig, denn immer mehr kam man in Ungarn dahinter,
daß die militärischen Zugeständnisse, die Tisza so sehr herausgestrichen hatte,
in Wirklichkeit sehr wenig zu bedeuten hatten, und daß die klagenden Posaunen¬
stöße der Wiener Blätter über die Zertrümmerung der Armee nur den Zweck
hatten, der gesmnungsverwandten Partei in Ungarn beizuspringen. Mit dieser
Erkenntnis lebte die alte Erbitterung gegen die gewalttätige liberale Partei
wieder ans, die die Unabhängigkeitspartei in ihrem Sinne rührig schürte, und
als Tisza am 10. Oktober den Reichstag wieder eröffnete, lauerte die Ob¬
struktion schon im Hintergrunde. Zunächst mußte aber noch der Handels¬
vertrag mit Italien erledigt werden, dessen die ungarischen Weinbauer dringend
bedurften. Nachdem er am 28. Oktober angenommen worden war, ging am
4. November die Obstruktion los. Die Ankündigung Tiszas, daß die Honved-
armee Divisionsartillerie bekommen werde, half nichts mehr, und er sah nun
ein, daß es sich diesesmal um die Herrschaft seiner Partei handle. Um die
Opposition mundtot zu machen, wandte er das Mittel an, das Bädern fünf
Jahre früher in Wien versucht hatte. Er ließ am 18. November einen An¬
trag Daniel auf Einführung einer provisorischen Hausordnung unter allge¬
meinem Toben der Opposition durch den Präsidenten als angenommen er¬
klären und vertagte darauf sofort das Haus. Es war die letzte Gewalttat
der liberalen Partei. Als am 13. Dezember das Abgeordnetenhaus wieder
zusammentreten sollte, erschien vor Beginn der Sitzung die Opposition im
Hause, zerschlug die Präsidcntenestmde und die Ministersessel und warf die
neue Parlamentswache hinaus. Der Reichstag mußte am 19. bis zum
28. Dezember vertagt werden, trat aber überhaupt nicht mehr zusammen und
wurde am 5. Januar 1905 aufgelöst. Dann folgte die Katastrophe der
liberalen Partei bei den Neuwahlen am 26. Januar, die ziemlich überraschend
kam, denn man hatte von der Rücksichtslosigkeit Tiszas doch mehr erwartet.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/703>, abgerufen am 15.01.2025.