Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.Der Verfassungskonflikt in Ungarn seinen Standpunkt gegenüber der künstlich erzeugten "öffentlichen Meinung" In Preußen war es seinerzeit genau so, und die große Mehrzahl der Grenzboten IV 1906 91
Der Verfassungskonflikt in Ungarn seinen Standpunkt gegenüber der künstlich erzeugten „öffentlichen Meinung" In Preußen war es seinerzeit genau so, und die große Mehrzahl der Grenzboten IV 1906 91
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Der Verfassungskonflikt in Ungarn
seinen Standpunkt gegenüber der künstlich erzeugten „öffentlichen Meinung"
zu vertreten wagten — bis er auf Bismarck kam. Ebenso unverstanden und
nahezu verlassen steht der Erbe des über sechs Jahrhunderte die deutsche Ost¬
mark beherrschenden Geschlechts, der greise Kaiser Franz Joseph, heute in
seinen Landen da, unverstanden und verlassen sogar von den Nachkommen der
Deutschen, die einst die Ostmark gründen halfen. Das ist die Signatur unsrer
Tage, sie erklärt die gegenwärtigen Zustände in der Habsburgischen Monarchie
vollkommen: die Deutschen versagen, und mit den andern ist das Reich nicht
vorwärts zu bringen. Die Habsburgische Monarchie hat den Kampf um die
Krourechte gegen die parlamentarische Auffassung des vorigen Jahrhunderts
noch nicht durchgemacht wie Preußen. In Österreich war ein solcher bei den
traurigen Parlamentsverhnltnissen gar nicht möglich, aber in Ungarn, wo ge¬
schlossene nationale Parteien bestehn, ist er ausgebrochen und wird vom Kaiser
Franz Joseph oder seinem Nachfolger ausgekämpft werden müssen. Man kann
von den Habsburgern ebensowenig erwarten wie von den Hohenzollern, daß
sie in der Frage der Hoheit über die Armee nachgeben werden. Bei dieser
grundsätzlichen Bedeutuug des Konflikts mit Ungarn ist es nicht zu verwundern,
daß ebenso wie seinerzeit in Preußen alle Anhänger des demokratischen Parla¬
mentarismus offen oder im geheimen auf der Seite der „liberalen" Ungarn
stehn und in der Behandlung der ganzen Angelegenheit wenigstens alles tun,
um die öffentliche Meinung einseitig zu belehren, damit niemand für die be¬
drängten Kronrechte Partei ergreife.
In Preußen war es seinerzeit genau so, und die große Mehrzahl der
Bevölkerung konnte hinterher zur Entschuldigung nur sagen: Ja, wenn wir
das gewußt Hütten! In Deutschösterreich hat man, seit Jahrzehnten von der
parlamentarischen Presse bearbeitet, keine rechte Teilnahme für die Armee und
gar kein Verständnis für die Bedeutung des einheitlichen Heeres der Monarchie
um die Stellung des gesamten Deutschtums in Europa. Das Heer ist aber
doch noch der letzte Rest der Einheit der durch den Dualismus zerstückelten
Monarchie und vielleicht die einzige Stütze eiuer einst notwendig werdenden
Neubildung, bei der die Deutschen sicher nicht schlechter fahren werden als bei
der heutigen Terrorisiernng des Reichs durch die Magyaren. Die Ungarn
sehen weiter und suchen für alle Fälle die Hand auf das Heer zu legen.
Auch die Deutschen im Reiche haben ein Interesse daran, daß dies nicht ge¬
schieht, denn auch ihre Weltstellung wird geschwächt, wenn sich eine ungarische
Armee von der österreichischen abzweigt. Der Sieg des parlamentarischen
Systems in Ungarn könnte doch bloß Phantasten dafür einen Ersatz bieten.
Die Deutschösterreicher lassen sich über den entscheidenden Ernst der Stunde
leicht durch die Darstellungen der parlamentarischen Presse hinwegtäuschen, daß
durch die sprachlichen Zugeständnisse der Krone an die Ungarn die Einheitlich¬
keit der Armee schon aufgegeben sei. Durch einiges Kümmelblättcheuspiel mit
den Worten „Arineesprache" und „Regimentssprache" läßt sich ja so etwas
leicht plausibel macheu. Wer das glaubt, entbindet sich damit zugleich der
Pflicht, einen politischen Entschluß zu fassen und mag, zerknirscht über die
angebliche Schwäche der Krone, tief gerührt sein Pilsner weiter trinken. Wer
Grenzboten IV 1906 91
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