Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.von Zölibat, Brevier, Meßstipendien und Klosterwesen geändert. Dem Geistlichen steht, wie jedem andern gebildeten Manne, soviel Ist es so an sich schon eine ungehörige Zumutung, daß der Geistliche *) Diese gewaltige Strafpredigt enthält die entschiedenste Verurteilung der Hierarchie, des
priesterlichen Sithnewesens und aller Zeremonialgesetze. Um dem richtigen Verständnis einiger¬ maßen vorzubeugen, hat Allioli in seiner deutschen Bibel die pfiffige Überschrift darüber gesetzt- "Christus ermahnt zum Gehorsam gegen die Vorsteher. Ehrsucht, Eigennützigkeit und Gleisnerei der Pharisäer." von Zölibat, Brevier, Meßstipendien und Klosterwesen geändert. Dem Geistlichen steht, wie jedem andern gebildeten Manne, soviel Ist es so an sich schon eine ungehörige Zumutung, daß der Geistliche *) Diese gewaltige Strafpredigt enthält die entschiedenste Verurteilung der Hierarchie, des
priesterlichen Sithnewesens und aller Zeremonialgesetze. Um dem richtigen Verständnis einiger¬ maßen vorzubeugen, hat Allioli in seiner deutschen Bibel die pfiffige Überschrift darüber gesetzt- „Christus ermahnt zum Gehorsam gegen die Vorsteher. Ehrsucht, Eigennützigkeit und Gleisnerei der Pharisäer." <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0540" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/296551"/> <fw type="header" place="top"> von Zölibat, Brevier, Meßstipendien und Klosterwesen</fw><lb/> <p xml:id="ID_2802" prev="#ID_2801"> geändert. Dem Geistlichen steht, wie jedem andern gebildeten Manne, soviel<lb/> geistige Nahrung zur Verfügung, daß er sie nicht zu bewältigen vermag, und<lb/> daß die Zeit, die er aufs Brevier verwenden muß, viel nützlicher angewandt<lb/> werden kann. Unter den heutigen Verhältnissen ist das Brevier nicht bloß ein<lb/> überflüssiges, sondern ein schlechtes Erbauungs- und Velehrungsmittel. Sein<lb/> Hauptbestandteil ist der Psalter, und zwar der Psalter in einer sehr mangel¬<lb/> haften, stellenweise sinnlosen lateinischen Übersetzung. Nun hat das richtige<lb/> Psalmenwort zur richtigen Zeit eine große Wirkung, und wer den Psalter<lb/> kennt, der wird ihn hie und da aufschlagen, um einige, der augenblicklichen<lb/> Stimmung gemäße Verse herauszusuchen. Aber ein Dutzend Psalmen, die ein<lb/> andrer ausgewählt und zusammengestellt hat, alle Tage herzusagen, ja alle<lb/> Tage einen und denselben, zwar wunderbar schönen aber 176 Verse langen<lb/> Psalm, den 119., herzusagen, fühlt sich kein heutiger Mensch aufgelegt, und<lb/> der Zwang zu dieser Fron verleidet dem Fröner das Buch, aus dem er, wenn<lb/> er es nur nach Bedarf und Herzensdrang benutzen dürfte, Erleuchtung, Trost<lb/> und Stärkung schöpfen würde. Die übrigen Schriftteile kommen durch die<lb/> Zerstückelung um alle Wirkung, und da bei weitem nicht die ganze Bibel ins<lb/> Brevier aufgenommen ist, so lernen katholische Geistliche, die nicht neben diesem<lb/> auch noch jene lesen, die Heilige Schrift gar nicht kennen. Denn man kennt<lb/> sie nur dann, wenn man sie vollständig kennt. Und gerade die am meisten<lb/> charakteristischen und für den Geist der Offenbarung, namentlich der neutestament-<lb/> lichen, entscheidenden Abschnitte wie das dreiundzwanzigste Kapitel des Matthüus-<lb/> evangelismus,*) lernt ein solcher nicht kennen, denn was der Hierarchie wider<lb/> den Strich geht, hat sie natürlich vom Brevier ausgeschlossen. Die Homilien<lb/> sind unbedeutend; sie enthalten bei weitem nicht das beste, was man der<lb/> patristischen Literatur hätte entnehmen können, und die neuere Literatur bietet<lb/> mehr wertvolles als die ganze Patristik. Die Heiligengeschichten des zweiten<lb/> Nokturn endlich (das Matutinum besteht aus drei Nokturnen) sind zu einem<lb/> großen Teil mehr anstößig als erbaulich.</p><lb/> <p xml:id="ID_2803" next="#ID_2804"> Ist es so an sich schon eine ungehörige Zumutung, daß der Geistliche<lb/> täglich um dieser Fron willen eine Stunde entweder wichtigern Geschäften und<lb/> nützlichen Studien oder seiner Erholung entziehn soll, so wird diese Fron zudem<lb/> vielfach geradezu ein Schaden für ihn. Die heutige Mannigfaltigkeit und<lb/> Raschheit des Lebens beschleunigt im einzelnen Menschen den Gedankenablauf,<lb/> und es geht einem regen Geiste über die Kraft, seine Gedanken bei einer<lb/> größtenteils uninteressanter Gebetslektüre an den Worten, die er liest, festzu¬<lb/> halten. Die Gedanken schweifen ab, aus dem Gebet wird ein mechanisches, be¬<lb/> wußtloses Herunterhaspeln, und wie das bei erzwungnen, die Aufmerksamkeit<lb/> nicht fesselnden Tätigkeiten der Fall zu sein pflegt, die abschweifenden Gedanken<lb/> geraten öfter auf gefährliche und schädliche als auf nützliche und edle Gegen-</p><lb/> <note xml:id="FID_34" place="foot"> *) Diese gewaltige Strafpredigt enthält die entschiedenste Verurteilung der Hierarchie, des<lb/> priesterlichen Sithnewesens und aller Zeremonialgesetze. Um dem richtigen Verständnis einiger¬<lb/> maßen vorzubeugen, hat Allioli in seiner deutschen Bibel die pfiffige Überschrift darüber gesetzt-<lb/> „Christus ermahnt zum Gehorsam gegen die Vorsteher. Ehrsucht, Eigennützigkeit und Gleisnerei<lb/> der Pharisäer."</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0540]
von Zölibat, Brevier, Meßstipendien und Klosterwesen
geändert. Dem Geistlichen steht, wie jedem andern gebildeten Manne, soviel
geistige Nahrung zur Verfügung, daß er sie nicht zu bewältigen vermag, und
daß die Zeit, die er aufs Brevier verwenden muß, viel nützlicher angewandt
werden kann. Unter den heutigen Verhältnissen ist das Brevier nicht bloß ein
überflüssiges, sondern ein schlechtes Erbauungs- und Velehrungsmittel. Sein
Hauptbestandteil ist der Psalter, und zwar der Psalter in einer sehr mangel¬
haften, stellenweise sinnlosen lateinischen Übersetzung. Nun hat das richtige
Psalmenwort zur richtigen Zeit eine große Wirkung, und wer den Psalter
kennt, der wird ihn hie und da aufschlagen, um einige, der augenblicklichen
Stimmung gemäße Verse herauszusuchen. Aber ein Dutzend Psalmen, die ein
andrer ausgewählt und zusammengestellt hat, alle Tage herzusagen, ja alle
Tage einen und denselben, zwar wunderbar schönen aber 176 Verse langen
Psalm, den 119., herzusagen, fühlt sich kein heutiger Mensch aufgelegt, und
der Zwang zu dieser Fron verleidet dem Fröner das Buch, aus dem er, wenn
er es nur nach Bedarf und Herzensdrang benutzen dürfte, Erleuchtung, Trost
und Stärkung schöpfen würde. Die übrigen Schriftteile kommen durch die
Zerstückelung um alle Wirkung, und da bei weitem nicht die ganze Bibel ins
Brevier aufgenommen ist, so lernen katholische Geistliche, die nicht neben diesem
auch noch jene lesen, die Heilige Schrift gar nicht kennen. Denn man kennt
sie nur dann, wenn man sie vollständig kennt. Und gerade die am meisten
charakteristischen und für den Geist der Offenbarung, namentlich der neutestament-
lichen, entscheidenden Abschnitte wie das dreiundzwanzigste Kapitel des Matthüus-
evangelismus,*) lernt ein solcher nicht kennen, denn was der Hierarchie wider
den Strich geht, hat sie natürlich vom Brevier ausgeschlossen. Die Homilien
sind unbedeutend; sie enthalten bei weitem nicht das beste, was man der
patristischen Literatur hätte entnehmen können, und die neuere Literatur bietet
mehr wertvolles als die ganze Patristik. Die Heiligengeschichten des zweiten
Nokturn endlich (das Matutinum besteht aus drei Nokturnen) sind zu einem
großen Teil mehr anstößig als erbaulich.
Ist es so an sich schon eine ungehörige Zumutung, daß der Geistliche
täglich um dieser Fron willen eine Stunde entweder wichtigern Geschäften und
nützlichen Studien oder seiner Erholung entziehn soll, so wird diese Fron zudem
vielfach geradezu ein Schaden für ihn. Die heutige Mannigfaltigkeit und
Raschheit des Lebens beschleunigt im einzelnen Menschen den Gedankenablauf,
und es geht einem regen Geiste über die Kraft, seine Gedanken bei einer
größtenteils uninteressanter Gebetslektüre an den Worten, die er liest, festzu¬
halten. Die Gedanken schweifen ab, aus dem Gebet wird ein mechanisches, be¬
wußtloses Herunterhaspeln, und wie das bei erzwungnen, die Aufmerksamkeit
nicht fesselnden Tätigkeiten der Fall zu sein pflegt, die abschweifenden Gedanken
geraten öfter auf gefährliche und schädliche als auf nützliche und edle Gegen-
*) Diese gewaltige Strafpredigt enthält die entschiedenste Verurteilung der Hierarchie, des
priesterlichen Sithnewesens und aller Zeremonialgesetze. Um dem richtigen Verständnis einiger¬
maßen vorzubeugen, hat Allioli in seiner deutschen Bibel die pfiffige Überschrift darüber gesetzt-
„Christus ermahnt zum Gehorsam gegen die Vorsteher. Ehrsucht, Eigennützigkeit und Gleisnerei
der Pharisäer."
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