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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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Alle organische Entwicklung ist das Ergebnis eines Kompromisses zwischen den
Einflüssen des Außer-Ichs und dem Drange des vom Willen beseelten Ichs,
Aber während in der außermenschlichen organischen Welt und auf den tiefern
Stufen der menschlichen Entwicklung die Naturgewalten über das mehr passive
Ich so herrschen, daß es ein verhältnismäßig geringer Fehler ist. diese
Stadien der organischen Evolution rein naturwissenschaftlich zu betrachten,
werden dagegen alle höher menschlichen Betätigungen, die wir in dem Worte
Kultur zusammenzufassen pflegen, in einem Grade vom spontanen Willen, der
innern Lebenskraft der organischen Welt, beherrscht, daß eine rein natur¬
wissenschaftliche mechanistische Betrachtung zu den seltsamen Einseitigkeiten führt,
die die Wissenschaft der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts beein¬
trächtigt haben.

In der Tat lassen sich die Gärungserscheinungen in der Geistesarbeit der
Gegenwart, von denen ich zu Anfang kurz gesprochen habe, dahin zusammen¬
fassen: Wieviel näher wir auch dem Walten der Natur mit unserm Verständnis
gekommen sein mögen, wie sehr sich auch die Vorstellung von der unvermeid¬
lichen Gewalt dieser unpersönlichen Kraft in unsern Geist gegraben hat, und
wie sehr sie immer wieder anlockt, ihre erhabnen Geheimnisse zu enträtseln, so
gibt es für den modernen Menschen noch etwas andres, das seinen Erkenntnis¬
drang zur Analyse reizt, etwas, dessen Erforschung von den praktischen Be¬
dürfnissen nicht minder geheischt wird: es ist das Wesen der ihres Selbst
bewußten Menschheit, der Gesellschaft. Und da die Ergebnisse der natur¬
wissenschaftlichen Forschung, auf sie angewandt, hier teilweise zu unhaltbaren
Urteilen führen, da sich die philosophischen Grundlagen der mechanistischen
Weltanschauung, an die man als die einfache Wahrheit des aufgeklärten
Menschen geglaubt hatte, als unzureichend erweisen, sucht man nach einem neuen
überragenden Ausgangspunkte, von dem aus mau auch dem Geheimnisse der
Kultur den Schleier zu nehmen vermag. Man muß sich das Problem in seiner
ganzen Größe klar machen:

Seitdem der vorgeschichtliche Mensch unter im großen und ganzen gleichen
natürlichen Bedingungen wie wir heutigen ein tierähnliches, fast völlig passives
Dasein führte, haben sich bis heute in und an uns Veränderungen von solchem
Umfange und so komplizierten! Inhalte vollzogen, die wir als freie Betätigungen
der Menschheit ansehen, daß wir schon nur aus dieser Erscheinung heraus ver-
stehn, was für eine gewaltige Aufgabe eine Wissenschaft vom Menschen hat.
Denn darum handelt es sich gegenüber den ältern, metaphysischen Zeiten der
Geisteswissenschaften: nicht aus apriorischen Kategorien, aus letzten Prinzipien
das Wesen der Kultur samt Religion, Sittlichkeit, Staatenbildung, Ver¬
gesellschaftung, Wirtschaft und Kunst und anderen mehr zu erklären, sondern
nur aus der Evolution des Menschlichen. Ist es ein Fehler, in den Natur¬
wissenschaften die Welt anthropozentrisch zu konstruieren, so kann eine Wissen¬
schaft vom Menschen nur anthropozentrisch sein. Alle Betätigungen der kulti¬
vierten Gesellschaft müssen sich, von den biologischen Elementen abgesehen, als
Ausflüsse der Menschenseele, sei es der Einzelpsyche oder gesellschaftlicher
seelischer Komplexerscheinungen ergeben.


Alle organische Entwicklung ist das Ergebnis eines Kompromisses zwischen den
Einflüssen des Außer-Ichs und dem Drange des vom Willen beseelten Ichs,
Aber während in der außermenschlichen organischen Welt und auf den tiefern
Stufen der menschlichen Entwicklung die Naturgewalten über das mehr passive
Ich so herrschen, daß es ein verhältnismäßig geringer Fehler ist. diese
Stadien der organischen Evolution rein naturwissenschaftlich zu betrachten,
werden dagegen alle höher menschlichen Betätigungen, die wir in dem Worte
Kultur zusammenzufassen pflegen, in einem Grade vom spontanen Willen, der
innern Lebenskraft der organischen Welt, beherrscht, daß eine rein natur¬
wissenschaftliche mechanistische Betrachtung zu den seltsamen Einseitigkeiten führt,
die die Wissenschaft der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts beein¬
trächtigt haben.

In der Tat lassen sich die Gärungserscheinungen in der Geistesarbeit der
Gegenwart, von denen ich zu Anfang kurz gesprochen habe, dahin zusammen¬
fassen: Wieviel näher wir auch dem Walten der Natur mit unserm Verständnis
gekommen sein mögen, wie sehr sich auch die Vorstellung von der unvermeid¬
lichen Gewalt dieser unpersönlichen Kraft in unsern Geist gegraben hat, und
wie sehr sie immer wieder anlockt, ihre erhabnen Geheimnisse zu enträtseln, so
gibt es für den modernen Menschen noch etwas andres, das seinen Erkenntnis¬
drang zur Analyse reizt, etwas, dessen Erforschung von den praktischen Be¬
dürfnissen nicht minder geheischt wird: es ist das Wesen der ihres Selbst
bewußten Menschheit, der Gesellschaft. Und da die Ergebnisse der natur¬
wissenschaftlichen Forschung, auf sie angewandt, hier teilweise zu unhaltbaren
Urteilen führen, da sich die philosophischen Grundlagen der mechanistischen
Weltanschauung, an die man als die einfache Wahrheit des aufgeklärten
Menschen geglaubt hatte, als unzureichend erweisen, sucht man nach einem neuen
überragenden Ausgangspunkte, von dem aus mau auch dem Geheimnisse der
Kultur den Schleier zu nehmen vermag. Man muß sich das Problem in seiner
ganzen Größe klar machen:

Seitdem der vorgeschichtliche Mensch unter im großen und ganzen gleichen
natürlichen Bedingungen wie wir heutigen ein tierähnliches, fast völlig passives
Dasein führte, haben sich bis heute in und an uns Veränderungen von solchem
Umfange und so komplizierten! Inhalte vollzogen, die wir als freie Betätigungen
der Menschheit ansehen, daß wir schon nur aus dieser Erscheinung heraus ver-
stehn, was für eine gewaltige Aufgabe eine Wissenschaft vom Menschen hat.
Denn darum handelt es sich gegenüber den ältern, metaphysischen Zeiten der
Geisteswissenschaften: nicht aus apriorischen Kategorien, aus letzten Prinzipien
das Wesen der Kultur samt Religion, Sittlichkeit, Staatenbildung, Ver¬
gesellschaftung, Wirtschaft und Kunst und anderen mehr zu erklären, sondern
nur aus der Evolution des Menschlichen. Ist es ein Fehler, in den Natur¬
wissenschaften die Welt anthropozentrisch zu konstruieren, so kann eine Wissen¬
schaft vom Menschen nur anthropozentrisch sein. Alle Betätigungen der kulti¬
vierten Gesellschaft müssen sich, von den biologischen Elementen abgesehen, als
Ausflüsse der Menschenseele, sei es der Einzelpsyche oder gesellschaftlicher
seelischer Komplexerscheinungen ergeben.


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[0423] Alle organische Entwicklung ist das Ergebnis eines Kompromisses zwischen den Einflüssen des Außer-Ichs und dem Drange des vom Willen beseelten Ichs, Aber während in der außermenschlichen organischen Welt und auf den tiefern Stufen der menschlichen Entwicklung die Naturgewalten über das mehr passive Ich so herrschen, daß es ein verhältnismäßig geringer Fehler ist. diese Stadien der organischen Evolution rein naturwissenschaftlich zu betrachten, werden dagegen alle höher menschlichen Betätigungen, die wir in dem Worte Kultur zusammenzufassen pflegen, in einem Grade vom spontanen Willen, der innern Lebenskraft der organischen Welt, beherrscht, daß eine rein natur¬ wissenschaftliche mechanistische Betrachtung zu den seltsamen Einseitigkeiten führt, die die Wissenschaft der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts beein¬ trächtigt haben. In der Tat lassen sich die Gärungserscheinungen in der Geistesarbeit der Gegenwart, von denen ich zu Anfang kurz gesprochen habe, dahin zusammen¬ fassen: Wieviel näher wir auch dem Walten der Natur mit unserm Verständnis gekommen sein mögen, wie sehr sich auch die Vorstellung von der unvermeid¬ lichen Gewalt dieser unpersönlichen Kraft in unsern Geist gegraben hat, und wie sehr sie immer wieder anlockt, ihre erhabnen Geheimnisse zu enträtseln, so gibt es für den modernen Menschen noch etwas andres, das seinen Erkenntnis¬ drang zur Analyse reizt, etwas, dessen Erforschung von den praktischen Be¬ dürfnissen nicht minder geheischt wird: es ist das Wesen der ihres Selbst bewußten Menschheit, der Gesellschaft. Und da die Ergebnisse der natur¬ wissenschaftlichen Forschung, auf sie angewandt, hier teilweise zu unhaltbaren Urteilen führen, da sich die philosophischen Grundlagen der mechanistischen Weltanschauung, an die man als die einfache Wahrheit des aufgeklärten Menschen geglaubt hatte, als unzureichend erweisen, sucht man nach einem neuen überragenden Ausgangspunkte, von dem aus mau auch dem Geheimnisse der Kultur den Schleier zu nehmen vermag. Man muß sich das Problem in seiner ganzen Größe klar machen: Seitdem der vorgeschichtliche Mensch unter im großen und ganzen gleichen natürlichen Bedingungen wie wir heutigen ein tierähnliches, fast völlig passives Dasein führte, haben sich bis heute in und an uns Veränderungen von solchem Umfange und so komplizierten! Inhalte vollzogen, die wir als freie Betätigungen der Menschheit ansehen, daß wir schon nur aus dieser Erscheinung heraus ver- stehn, was für eine gewaltige Aufgabe eine Wissenschaft vom Menschen hat. Denn darum handelt es sich gegenüber den ältern, metaphysischen Zeiten der Geisteswissenschaften: nicht aus apriorischen Kategorien, aus letzten Prinzipien das Wesen der Kultur samt Religion, Sittlichkeit, Staatenbildung, Ver¬ gesellschaftung, Wirtschaft und Kunst und anderen mehr zu erklären, sondern nur aus der Evolution des Menschlichen. Ist es ein Fehler, in den Natur¬ wissenschaften die Welt anthropozentrisch zu konstruieren, so kann eine Wissen¬ schaft vom Menschen nur anthropozentrisch sein. Alle Betätigungen der kulti¬ vierten Gesellschaft müssen sich, von den biologischen Elementen abgesehen, als Ausflüsse der Menschenseele, sei es der Einzelpsyche oder gesellschaftlicher seelischer Komplexerscheinungen ergeben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/423>, abgerufen am 16.01.2025.