Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.Die Entwicklung der Familie als soziologisches Problem Nun kam freilich nicht eine Disziplin eine so gewaltige Aufgabe übernehmen. Das moderne Streben nach einem Studium des Menschen als handelndes Jegliche Institution der Gesellschaft hat eine ethische Seite. Aber ehe wir Die Entwicklung der Familie als soziologisches Problem Nun kam freilich nicht eine Disziplin eine so gewaltige Aufgabe übernehmen. Das moderne Streben nach einem Studium des Menschen als handelndes Jegliche Institution der Gesellschaft hat eine ethische Seite. Aber ehe wir <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0424" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/296435"/> <fw type="header" place="top"> Die Entwicklung der Familie als soziologisches Problem</fw><lb/> <p xml:id="ID_2338"> Nun kam freilich nicht eine Disziplin eine so gewaltige Aufgabe übernehmen.<lb/> Es handelt sich um die anthropologische Tendenz, die alle Geisteswissenschaften<lb/> durchdringen sollte und zum Teil auch schon durchdringt. Dem Svzialphilo-<lb/> sophen bleibt, wie mir scheinen will, eine speziellere Teilaufgabe von verhältnis¬<lb/> mäßig geringem Umfange, aber besonders reichem Inhalt. Bei der Ausdehnung,<lb/> die die Einzelwissenschaften des Geistes genommen haben, wäre es eine Vermessen¬<lb/> heit, zu fordern, der Soziologe solle ihre letzten Ergebnisse als Betätigungen<lb/> des Zusammenwirkens der Menschen zu einer einheitlichen Synthese gestalten.<lb/> Wenn es, wie ich glaube, Aufgabe gesellschaftswissenschaftlicher Untersuchungen<lb/> ist, die Beziehungen zwischen den Einzelmenschen und den von ihnen gebildeten<lb/> Gruppen, ferner zwischen diesen untereinander und den von ihnen entwickelten<lb/> Kulturshstemen klar zu machen, so ist damit die äußere Aufgabe als Analyse<lb/> der Vergesellschaftungsformen festgelegt. Aber das Wesentliche ist die inhalt¬<lb/> liche Bestimmung; der Grundsatz für die Behandlung dieses Problems ist, wie<lb/> aus dem vorher gesagten vielleicht hervorgeht, anthropologisch-ethisch; auf dem<lb/> Grunde der formalen Fragen liegen die tiefern: Wie verwebt sich das Einzel¬<lb/> schicksal mit dem Massenschicksal? Welche Motive veranlassen das menschliche<lb/> Handeln? Wie knüpfen sich die seelischen Bande von Person zu Person, von<lb/> Gruppe zu Gruppe?</p><lb/> <p xml:id="ID_2339"> Das moderne Streben nach einem Studium des Menschen als handelndes<lb/> Wesen entstammt ja wesentlich dem Verlangen nach einer unsern heutigen<lb/> menschlichen Beziehungen entsprechenden Ethik. Die alte metaphysische Moral<lb/> legte nach gewissen Prinzipien das Sittengebot wie eine drückende Last auf die<lb/> schwachen Menschenschultern mit einem gebieterischen: Du sollst! In ihr war<lb/> die Furcht ein wesentliches Element. Deshalb zeugte sie auch so oft die Ge¬<lb/> spenster des Aberglaubens. Die naturwissenschaftliche Ethik kennzeichnet sich<lb/> durch ihre Indifferenz gegenüber dem persönlichen Schicksal; alles Subjektive<lb/> liegt ihr fern. Das, was wir Kinder des zwanzigsten Jahrhunderts wollen,<lb/> ist, daß die Postulate, die man uns auferlegt, unsre Natur und unsre Fähig¬<lb/> keiten berücksichtige». Aber eine solche Sittenlehre muß eine Grundlage haben,<lb/> in der deutlich wird, wie wir im Laufe der Jahrtausende geworden sind. Das<lb/> Wesen unsrer innern Natur, die Bedingungen unsers gesellschaftlichen Daseins<lb/> müssen in kausaler Erklärung verdeutlicht sein, ehe wir teleologisch die Möglich¬<lb/> keiten unsers Müssens postulieren.</p><lb/> <p xml:id="ID_2340" next="#ID_2341"> Jegliche Institution der Gesellschaft hat eine ethische Seite. Aber ehe wir<lb/> aus ihr Forderungen für Volk und Person entnehmen, müssen wir sie selbst<lb/> von Grund aus kennen. Wissenschaftliche Durchdringung wurde nun zumeist<lb/> durch völlige Objektivierung des Gegenstandes versucht. Mau abstrahierte so<lb/> weit wie möglich von der konkreten Beseelung durch das schwankende Menschlich-<lb/> Lebendige. Der Gegenstand wurde wie ein platonisches Jdeensystem als ein selb¬<lb/> ständiges Gedaukengebciude betrachtet, das nach eignen logischen Gesetzen lebte,<lb/> dessen Verständnis aus sich selbst möglich wurde. Gewiß kam man durch diese<lb/> Methode zu einer gewissen Gesetzmäßigkeit, zu einer Regelbildung, nach der<lb/> unser kompliziertes und launisches Leben eine schematische Harmonie und Stetig¬<lb/> keit aufwies, die alle, die ihr Dasein wirklich leben, in nicht geringes Erstaunen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0424]
Die Entwicklung der Familie als soziologisches Problem
Nun kam freilich nicht eine Disziplin eine so gewaltige Aufgabe übernehmen.
Es handelt sich um die anthropologische Tendenz, die alle Geisteswissenschaften
durchdringen sollte und zum Teil auch schon durchdringt. Dem Svzialphilo-
sophen bleibt, wie mir scheinen will, eine speziellere Teilaufgabe von verhältnis¬
mäßig geringem Umfange, aber besonders reichem Inhalt. Bei der Ausdehnung,
die die Einzelwissenschaften des Geistes genommen haben, wäre es eine Vermessen¬
heit, zu fordern, der Soziologe solle ihre letzten Ergebnisse als Betätigungen
des Zusammenwirkens der Menschen zu einer einheitlichen Synthese gestalten.
Wenn es, wie ich glaube, Aufgabe gesellschaftswissenschaftlicher Untersuchungen
ist, die Beziehungen zwischen den Einzelmenschen und den von ihnen gebildeten
Gruppen, ferner zwischen diesen untereinander und den von ihnen entwickelten
Kulturshstemen klar zu machen, so ist damit die äußere Aufgabe als Analyse
der Vergesellschaftungsformen festgelegt. Aber das Wesentliche ist die inhalt¬
liche Bestimmung; der Grundsatz für die Behandlung dieses Problems ist, wie
aus dem vorher gesagten vielleicht hervorgeht, anthropologisch-ethisch; auf dem
Grunde der formalen Fragen liegen die tiefern: Wie verwebt sich das Einzel¬
schicksal mit dem Massenschicksal? Welche Motive veranlassen das menschliche
Handeln? Wie knüpfen sich die seelischen Bande von Person zu Person, von
Gruppe zu Gruppe?
Das moderne Streben nach einem Studium des Menschen als handelndes
Wesen entstammt ja wesentlich dem Verlangen nach einer unsern heutigen
menschlichen Beziehungen entsprechenden Ethik. Die alte metaphysische Moral
legte nach gewissen Prinzipien das Sittengebot wie eine drückende Last auf die
schwachen Menschenschultern mit einem gebieterischen: Du sollst! In ihr war
die Furcht ein wesentliches Element. Deshalb zeugte sie auch so oft die Ge¬
spenster des Aberglaubens. Die naturwissenschaftliche Ethik kennzeichnet sich
durch ihre Indifferenz gegenüber dem persönlichen Schicksal; alles Subjektive
liegt ihr fern. Das, was wir Kinder des zwanzigsten Jahrhunderts wollen,
ist, daß die Postulate, die man uns auferlegt, unsre Natur und unsre Fähig¬
keiten berücksichtige». Aber eine solche Sittenlehre muß eine Grundlage haben,
in der deutlich wird, wie wir im Laufe der Jahrtausende geworden sind. Das
Wesen unsrer innern Natur, die Bedingungen unsers gesellschaftlichen Daseins
müssen in kausaler Erklärung verdeutlicht sein, ehe wir teleologisch die Möglich¬
keiten unsers Müssens postulieren.
Jegliche Institution der Gesellschaft hat eine ethische Seite. Aber ehe wir
aus ihr Forderungen für Volk und Person entnehmen, müssen wir sie selbst
von Grund aus kennen. Wissenschaftliche Durchdringung wurde nun zumeist
durch völlige Objektivierung des Gegenstandes versucht. Mau abstrahierte so
weit wie möglich von der konkreten Beseelung durch das schwankende Menschlich-
Lebendige. Der Gegenstand wurde wie ein platonisches Jdeensystem als ein selb¬
ständiges Gedaukengebciude betrachtet, das nach eignen logischen Gesetzen lebte,
dessen Verständnis aus sich selbst möglich wurde. Gewiß kam man durch diese
Methode zu einer gewissen Gesetzmäßigkeit, zu einer Regelbildung, nach der
unser kompliziertes und launisches Leben eine schematische Harmonie und Stetig¬
keit aufwies, die alle, die ihr Dasein wirklich leben, in nicht geringes Erstaunen
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