Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.Es scheint mir nun natürlich, daß in den ungebildeten Schichten eines In den ungebildeten Schichten des russischen Volks liegt die Kraft des Aus diesem Zwiespalt soll die Institution der Ncichsduma das Land Sowohl in materieller wie in technischer Beziehung hat die Regierung Es scheint mir nun natürlich, daß in den ungebildeten Schichten eines In den ungebildeten Schichten des russischen Volks liegt die Kraft des Aus diesem Zwiespalt soll die Institution der Ncichsduma das Land Sowohl in materieller wie in technischer Beziehung hat die Regierung <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0417" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/296428"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_2317"> Es scheint mir nun natürlich, daß in den ungebildeten Schichten eines<lb/> Volks ein Gegensatz zwischen sozialem und nationalem Fühlen — ich füge<lb/> absichtlich „Fühlen" und nicht „Denken," weil nach meiner Auffassung die<lb/> große Masse des russischen Volks noch nicht an das Denken herangereift ist;<lb/> infolgedessen sind seine Empfindungen überwiegend das Produkt von Gefühlen<lb/> und nicht das aus Gefühlen und Gedanken; mit steigender Kultur ordnen<lb/> sich die Gefühle den Gedanken unter — sich um so weniger ausbildet, je<lb/> größer die Anspruchslosigkeit der Schicht und je primitiver ihre materiellen<lb/> Wünsche sind. In den breiten Schichten des russischen Volks, die zu den<lb/> Arbeiten der Reichsdumn Zutritt haben, herrscht eine höchst einfache, auf<lb/> materiellen Besitz gerichtete Lebensauffassung vor, daher die auch beim Bauern<lb/> stark entwickelte Neigung zum Handel. Diese weiten Kreise sind aber bisher<lb/> weder auf sozialem noch ans politischem Gebiet in Konflikt mit ihrem Patrio¬<lb/> tismus geraten; im Gegenteil, der offizielle Patriotismus ist ihren Wünschen<lb/> scheinbar entgegen gekommen. Nur die aus dieser Schicht hcrvorgegaugnen<lb/> „Enterbten," die dnrch Anlage und materielle Not den Sekten aller Art zu-<lb/> getricbnen und, als gefährlichste Klasse, die Halbgebildete,?, die die ehrliche<lb/> Arbeit des Vaters verachten — nur diese sich allerdings von Jahr zu Jahr<lb/> «lehrenden Abkömmlinge jener breiten Schicht spüren in dem Patriotismus eine<lb/> Beschränkung ihres Wohlbefindens. Doch auch hier tritt in den meisten Fällen<lb/> das persönliche Interesse hinter dem nationalen zurück. Das Wort Zar-Väterchen<lb/> wacht sie alle durch Tolstoi, Pobjedonostzew, Plehwc zugefügten Leiden ver¬<lb/> gessen, und der Sektierer, der im Begriff steht, sich den: politischen Druck in<lb/> der Heimat durch Auswanderung zu entziehn, wird beim Klänge des „Gott<lb/> sei des Kaisers Schutz" seine Mütze ziehn, sich für das Wohl des Zaren be¬<lb/> kreuzigen und mit Inbrunst die Worte des schönen Liedes wiederholen!</p><lb/> <p xml:id="ID_2318"> In den ungebildeten Schichten des russischen Volks liegt die Kraft des<lb/> russischen Staats. Hier in dieser zähen, schwer beweglichen Masse liegt das<lb/> Fuudciment der nahen und fernen Zukunft Rußlands. Wie sich diese Zukunft<lb/> gestalten wird, hängt davon ab, welche der im Lande streitenden Kräfte auf<lb/> ihm bauen wird. Das bisherige System hat Kultur- und soziale Aufgaben<lb/> zugunsten nationalpvlitischer sündhaft vernachlässigt. Die fortschrittliche Ge¬<lb/> sellschaft steht im Begriff, in das Extrem zu verfallen, indem sie die Not¬<lb/> wendigkeit einer nationalen Politik einstweilen in Abrede stellt.</p><lb/> <p xml:id="ID_2319"> Aus diesem Zwiespalt soll die Institution der Ncichsduma das Land<lb/> hinausführen.</p><lb/> <p xml:id="ID_2320" next="#ID_2321"> Sowohl in materieller wie in technischer Beziehung hat die Regierung<lb/> bei der Schaffung des Gesetzes eine glückliche Hand bewiesen. Sie will den<lb/> russischen Staat reformieren, ohne ihn den gefährlichen Erschütterungen eines<lb/> Bürgerkrieges auszusetzen. Was Rußland not tut, weiß die Regierung: eine<lb/> weitnusschauende Agrarreform, die Lösung der Judenfrage und die Volks¬<lb/> bildung. Alle andern von den Demokraten in den Vordergrund gedrängten<lb/> Fragen, insbesondre die Nationalitäteufrage, die Fabrikarbeiterfrage usw., sind<lb/> von sekundärer Bedeutung für das Volkswohl, enthalten aber, sobald sie falsch<lb/> angefaßt werde», eine große Gefahr für den Bestand des Reichs. Die Finanzen</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0417]
Es scheint mir nun natürlich, daß in den ungebildeten Schichten eines
Volks ein Gegensatz zwischen sozialem und nationalem Fühlen — ich füge
absichtlich „Fühlen" und nicht „Denken," weil nach meiner Auffassung die
große Masse des russischen Volks noch nicht an das Denken herangereift ist;
infolgedessen sind seine Empfindungen überwiegend das Produkt von Gefühlen
und nicht das aus Gefühlen und Gedanken; mit steigender Kultur ordnen
sich die Gefühle den Gedanken unter — sich um so weniger ausbildet, je
größer die Anspruchslosigkeit der Schicht und je primitiver ihre materiellen
Wünsche sind. In den breiten Schichten des russischen Volks, die zu den
Arbeiten der Reichsdumn Zutritt haben, herrscht eine höchst einfache, auf
materiellen Besitz gerichtete Lebensauffassung vor, daher die auch beim Bauern
stark entwickelte Neigung zum Handel. Diese weiten Kreise sind aber bisher
weder auf sozialem noch ans politischem Gebiet in Konflikt mit ihrem Patrio¬
tismus geraten; im Gegenteil, der offizielle Patriotismus ist ihren Wünschen
scheinbar entgegen gekommen. Nur die aus dieser Schicht hcrvorgegaugnen
„Enterbten," die dnrch Anlage und materielle Not den Sekten aller Art zu-
getricbnen und, als gefährlichste Klasse, die Halbgebildete,?, die die ehrliche
Arbeit des Vaters verachten — nur diese sich allerdings von Jahr zu Jahr
«lehrenden Abkömmlinge jener breiten Schicht spüren in dem Patriotismus eine
Beschränkung ihres Wohlbefindens. Doch auch hier tritt in den meisten Fällen
das persönliche Interesse hinter dem nationalen zurück. Das Wort Zar-Väterchen
wacht sie alle durch Tolstoi, Pobjedonostzew, Plehwc zugefügten Leiden ver¬
gessen, und der Sektierer, der im Begriff steht, sich den: politischen Druck in
der Heimat durch Auswanderung zu entziehn, wird beim Klänge des „Gott
sei des Kaisers Schutz" seine Mütze ziehn, sich für das Wohl des Zaren be¬
kreuzigen und mit Inbrunst die Worte des schönen Liedes wiederholen!
In den ungebildeten Schichten des russischen Volks liegt die Kraft des
russischen Staats. Hier in dieser zähen, schwer beweglichen Masse liegt das
Fuudciment der nahen und fernen Zukunft Rußlands. Wie sich diese Zukunft
gestalten wird, hängt davon ab, welche der im Lande streitenden Kräfte auf
ihm bauen wird. Das bisherige System hat Kultur- und soziale Aufgaben
zugunsten nationalpvlitischer sündhaft vernachlässigt. Die fortschrittliche Ge¬
sellschaft steht im Begriff, in das Extrem zu verfallen, indem sie die Not¬
wendigkeit einer nationalen Politik einstweilen in Abrede stellt.
Aus diesem Zwiespalt soll die Institution der Ncichsduma das Land
hinausführen.
Sowohl in materieller wie in technischer Beziehung hat die Regierung
bei der Schaffung des Gesetzes eine glückliche Hand bewiesen. Sie will den
russischen Staat reformieren, ohne ihn den gefährlichen Erschütterungen eines
Bürgerkrieges auszusetzen. Was Rußland not tut, weiß die Regierung: eine
weitnusschauende Agrarreform, die Lösung der Judenfrage und die Volks¬
bildung. Alle andern von den Demokraten in den Vordergrund gedrängten
Fragen, insbesondre die Nationalitäteufrage, die Fabrikarbeiterfrage usw., sind
von sekundärer Bedeutung für das Volkswohl, enthalten aber, sobald sie falsch
angefaßt werde», eine große Gefahr für den Bestand des Reichs. Die Finanzen
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