Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.Die russische Volksvertretung der Gesellschaft, die am schroffsten zurückgewiesen wurden, werden am lautesten In Nußland wurden bisher alle "kulturellen" und sozialen Wünsche für Die russische Volksvertretung der Gesellschaft, die am schroffsten zurückgewiesen wurden, werden am lautesten In Nußland wurden bisher alle „kulturellen" und sozialen Wünsche für <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0416" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/296427"/> <fw type="header" place="top"> Die russische Volksvertretung</fw><lb/> <p xml:id="ID_2315" prev="#ID_2314"> der Gesellschaft, die am schroffsten zurückgewiesen wurden, werden am lautesten<lb/> wiederholt werden. Rousseau gab diesem durch den physischen Druck hervor-<lb/> gernfnen psychischen Vorgang mit den Worten Ausdruck, der friedlichen oder<lb/> gewaltsamen Änderung eines Staatssystems sei immer eine Umbildung, eine<lb/> Revolution in den Anschauungen des Volkes vorangegangen. Es wäre grund¬<lb/> falsch, wollten wir diesen Satz, wie es die russischen Liberalen zu tun belieben,<lb/> anch auf den Vorgang anwenden, der sich gegenwärtig in Rußland vollzieht.<lb/> Als Rousseau schrieb, ist die französische Regierung allerdings unter dem Druck<lb/> der Wunsche des Volkes zu einem Systemwechsel gezwungen worden. Das<lb/> System hatte sich selbst bis zur Ohnmacht geschwächt. Die russische Negierung<lb/> ist dagegen infolge eines leichtfertig nnternommnen, nicht genügend vorbereiteten<lb/> Kolonialnbenteuers wohl geschwächt, nicht aber vernichtet worden. Die<lb/> Strömungen in der Gesellschaft haben ebenfalls nur eine Schwächung, nicht<lb/> einen Zusammenbruch des herrschenden Systems gebracht. Noch waren sie<lb/> nicht stark genng dazu. Schon ehe die Regierung durch die Ablenkung ihrer<lb/> Aufmerksamkeit auf den Krieg mit Japan an physischer Kraft eingebüßt hatte,<lb/> war allerdings eine unheilvolle Zersetzung der staatserhaltenden Kräfte vor<lb/> sich gegangen. Willkür, Rechtlosigkeit und der Unwille weiter Kreise hat an<lb/> ihnen genagt. Aber trotz Mulden und Tschnschima, trotz der Vorgänge in<lb/> Polen, Livland und Baku, trotz aller Meutereien in der Marine herrscht Nikolaus<lb/> der Zweite selbstherrlich, und die Stärke der Negierung wächst von Tag zu<lb/> Tag. Eine tiefe Transformation der politischen Ideen des ganzen russischen<lb/> Volkes, von der Rousseau sprechen konnte, die den Sturz des untergrabnen<lb/> Regierungssystems unbedingt zur Folge haben mußte, ist, so tief auch die<lb/> westeuropäischen Ideen in Rußland Wurzel gefaßt haben mögen, bis heute<lb/> noch nicht vor sich gegangen. Darum aber wäre eine Revolution in Rußland<lb/> ein gar nicht faßbarer Schrecken; denn ein Volk ohne ein Ideal, ein Ziel vor<lb/> Augen ist ein sinnloser, tierischer Haufe.</p><lb/> <p xml:id="ID_2316"> In Nußland wurden bisher alle „kulturellen" und sozialen Wünsche für<lb/> Rechnung eines Patriotismus zurückgedrängt, den die fortschrittliche Gesellschaft<lb/> als Barbarismus in tiefster Seele verabscheut. Darum stehn bei der fort¬<lb/> schrittlichen Gesellschaft alle Kultur- und sozialen Fragen weit höher im Preise<lb/> als nationale. Hierin liegt die größte Gefahr für den Bestand des russischen<lb/> Reiches. Sie ist um so größer, als sich die Polen und das halbe Hundert<lb/> der kaukasischen Volksstämme, nachdem ihre Nationalität in so rücksichtsloser<lb/> Weise unterdrückt worden ist, eine ansgesprochne, dem russischen Patriotismus<lb/> feindlich gegenüberstehende nationale Gesinnung bewahrt haben. Die Gefahr<lb/> eines Zerfalls des Reichs wird abgeschwächt dnrch die Juden als ein Volk,<lb/> das mir künstlich uns einen begrenzten Teil des Reichs zusammengedrängt<lb/> wird. Würden bellte die Beschränkungen für das Wvhnrecht der Juden auf¬<lb/> gehoben, dann wäre meines Erachtens der sozialen Frage in Rußland die<lb/> Schärfe genommen, und die Juden würden ans einem das Reich störenden<lb/> Bestandteil durch ihre händlerischc Tätigkeit zu einem das Reich zusammen¬<lb/> haltenden. Der sozialen Arbeiterfrage nach Ausscheidung der Judenfrage kann<lb/> ich die Bedeutung einer staatszerstörendeil nicht beimessen,</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0416]
Die russische Volksvertretung
der Gesellschaft, die am schroffsten zurückgewiesen wurden, werden am lautesten
wiederholt werden. Rousseau gab diesem durch den physischen Druck hervor-
gernfnen psychischen Vorgang mit den Worten Ausdruck, der friedlichen oder
gewaltsamen Änderung eines Staatssystems sei immer eine Umbildung, eine
Revolution in den Anschauungen des Volkes vorangegangen. Es wäre grund¬
falsch, wollten wir diesen Satz, wie es die russischen Liberalen zu tun belieben,
anch auf den Vorgang anwenden, der sich gegenwärtig in Rußland vollzieht.
Als Rousseau schrieb, ist die französische Regierung allerdings unter dem Druck
der Wunsche des Volkes zu einem Systemwechsel gezwungen worden. Das
System hatte sich selbst bis zur Ohnmacht geschwächt. Die russische Negierung
ist dagegen infolge eines leichtfertig nnternommnen, nicht genügend vorbereiteten
Kolonialnbenteuers wohl geschwächt, nicht aber vernichtet worden. Die
Strömungen in der Gesellschaft haben ebenfalls nur eine Schwächung, nicht
einen Zusammenbruch des herrschenden Systems gebracht. Noch waren sie
nicht stark genng dazu. Schon ehe die Regierung durch die Ablenkung ihrer
Aufmerksamkeit auf den Krieg mit Japan an physischer Kraft eingebüßt hatte,
war allerdings eine unheilvolle Zersetzung der staatserhaltenden Kräfte vor
sich gegangen. Willkür, Rechtlosigkeit und der Unwille weiter Kreise hat an
ihnen genagt. Aber trotz Mulden und Tschnschima, trotz der Vorgänge in
Polen, Livland und Baku, trotz aller Meutereien in der Marine herrscht Nikolaus
der Zweite selbstherrlich, und die Stärke der Negierung wächst von Tag zu
Tag. Eine tiefe Transformation der politischen Ideen des ganzen russischen
Volkes, von der Rousseau sprechen konnte, die den Sturz des untergrabnen
Regierungssystems unbedingt zur Folge haben mußte, ist, so tief auch die
westeuropäischen Ideen in Rußland Wurzel gefaßt haben mögen, bis heute
noch nicht vor sich gegangen. Darum aber wäre eine Revolution in Rußland
ein gar nicht faßbarer Schrecken; denn ein Volk ohne ein Ideal, ein Ziel vor
Augen ist ein sinnloser, tierischer Haufe.
In Nußland wurden bisher alle „kulturellen" und sozialen Wünsche für
Rechnung eines Patriotismus zurückgedrängt, den die fortschrittliche Gesellschaft
als Barbarismus in tiefster Seele verabscheut. Darum stehn bei der fort¬
schrittlichen Gesellschaft alle Kultur- und sozialen Fragen weit höher im Preise
als nationale. Hierin liegt die größte Gefahr für den Bestand des russischen
Reiches. Sie ist um so größer, als sich die Polen und das halbe Hundert
der kaukasischen Volksstämme, nachdem ihre Nationalität in so rücksichtsloser
Weise unterdrückt worden ist, eine ansgesprochne, dem russischen Patriotismus
feindlich gegenüberstehende nationale Gesinnung bewahrt haben. Die Gefahr
eines Zerfalls des Reichs wird abgeschwächt dnrch die Juden als ein Volk,
das mir künstlich uns einen begrenzten Teil des Reichs zusammengedrängt
wird. Würden bellte die Beschränkungen für das Wvhnrecht der Juden auf¬
gehoben, dann wäre meines Erachtens der sozialen Frage in Rußland die
Schärfe genommen, und die Juden würden ans einem das Reich störenden
Bestandteil durch ihre händlerischc Tätigkeit zu einem das Reich zusammen¬
haltenden. Der sozialen Arbeiterfrage nach Ausscheidung der Judenfrage kann
ich die Bedeutung einer staatszerstörendeil nicht beimessen,
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