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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Gewalt gebracht hatte. Die "Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie," die Neue
Zeit, schreibt in ihrer Nummer vom 4, November in einem Artikel, worin sie die
russischen Arbeiter als "die Preisfechter des europäischen Proletariats" bezeichnet:

"Sie haben den Kleinmut beschämt, der vieles für unmöglich hielt, was sie
als möglich erwiesen haben; die europäischen Arbeiter wissen heute, daß die Kampf¬
methoden der alten Revolution sich nur überlebt haben, um neuen und scharfem
Kampfmethoden in der Geschichte ihres Emanzipationskampfes zu weichen. In die
Arbeiterklasse jedes europäischen Landes sind Funken von der Feuertaufe der russischen
Revolution gefallen, und in Österreich glimmen die hellen Brände schon auf. Nicht
zuletzt auch die deutschen Arbeiter stehn mit in dem Kampfe, den ihre russischen
Brüder (!) führen; der preußisch-deutsche Vasallenstaat ist so eng mit dem Schicksal
des Zarismus verflochten, daß dessen Sturz für das Reich der ostelbischen Junker
die tiefsten Wirkungen haben wird. . . . Auf die Dauer läßt sich die russische Re¬
volution so wenig in die russischen Grenzen sperren, wie sich einst die französische
Revolution in die französischen Grenzen sperren ließ, und das weiß niemand besser
mis die herrschenden Klassen in Deutschland. Wir können sicher sein, daß sie die
Entwicklung der russischen Revolution mit der gespanntesten Aufmerksamkeit ver¬
folgen und den Augenblick ergreifen werden, wo sie mit einiger Aussicht auf Erfolg
gegen sie einen vernichtenden Schlag glauben führen zu können. Um so weniger
darf die deutsche Arbeiterschaft vergessen, daß die Sache ihrer russischen
Brüder auch die ihre ist."

Mit großer Geschicklichkeit ist hier die Ursache zur Wirkung, die Prämisse zur
Folgerung gemacht worden. Den "herrschenden Klassen" in Deutschland wird
imputiert, daß sie einen vernichtenden Schlag gegen die russische Revolution planen,
deshalb sollen die deutschen Arbeiter nicht vergessen, "daß die Sache ihrer rus¬
sischen Brüder auch die ihre ist"! Wir wollen der Frage, ob die deutsche Sozial¬
demokratie an den "russischen Brüdern" nicht noch manche Enttäuschung erleben
wird, hier noch gar nicht einmal nähertreten, können aber doch nicht umhin, die
.,Wissenschaftlichkeit" zu beleuchten, die bei der Parallele zwischen der russischen
Revolution und der französischen zutage tritt. Die französische Revolution zog ihre
propagandistische Kraft wesentlich aus dem Umstände, daß Frankreich damals rings
von Staaten umgeben war, deren politische Einrichtungen längst ebenso einer weisen
reformierenden Hand bedurft hätten wie ihre militärischen. Nach England hat die
französische Revolution nicht hinübergegriffen, weil sie dort auf überlegne poli¬
tische Einrichtungen stieß. England hatte seine Bürgerkriege mit ihren opferreichen
Erfahrungen hinter sich, und die Nation trug kein Begehr nach deren Wieder¬
holung. Im sichern Besitz ihrer politischen Institutionen lehnte die Bevölkerung
Großbritanniens die Neuerungen der französischen Revolution entschlossen und so
bestimmt ab, daß es dem jüngern Pitt bekanntlich nicht einmal möglich war, eine
Reform des Unterhauses auch nur durch Einsetzung eiues Ausschusses anzubahnen.
Welche politische Freiheit soll uns nun wohl von Rußland kommen? Das allge¬
meine Stimmrecht? Unser Wahlrecht ist -- leider -- das weitestgehende in ganz
Europa und durch kein Oberhaus und keinen Senat in seinen Wirkungen eingeschränkt.
Die Preßfreiheit, eine geordnete Rechtspflege, alle erdenkbaren parlamentarischen
Rechte und bürgerlichen Freiheiten sind reichlich vorhanden. Ob und wie lange
Rußland mit seinen heterogenen Völkermassen es überhaupt vertragen wird, durch
Gewährung denkbar freiheitlichster Berfassnngsinstitutioueu von einem Extrem ins
""dre geworfen zu werden, bleibt abzuwarten. Auch in diesen überschäumenden
Wein wird aus der Hand der Erfahrung noch mancher Tropfen Wasser fließen
müssen, nicht etwa als "Reaktion," sondern als selbstverständlicher Rücklauf
aller Übertreibungen. Deutschlands verfassungsmäßige Einrichtungen, schon
weil sie die ältern und in bezug auf die Grenzen des Möglichen erprobten, von
einer weit größern politischen Intelligenz getragnen sind, werden sich den rus¬
sischen immer weit überlegen zeigen. Wann wird Rußland seiner Arbeiterbevölkerung
eine so prompt funktionierende und so wohltätige Bcrsichernngsgesehgebung, Krankheit-,


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Gewalt gebracht hatte. Die „Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie," die Neue
Zeit, schreibt in ihrer Nummer vom 4, November in einem Artikel, worin sie die
russischen Arbeiter als „die Preisfechter des europäischen Proletariats" bezeichnet:

„Sie haben den Kleinmut beschämt, der vieles für unmöglich hielt, was sie
als möglich erwiesen haben; die europäischen Arbeiter wissen heute, daß die Kampf¬
methoden der alten Revolution sich nur überlebt haben, um neuen und scharfem
Kampfmethoden in der Geschichte ihres Emanzipationskampfes zu weichen. In die
Arbeiterklasse jedes europäischen Landes sind Funken von der Feuertaufe der russischen
Revolution gefallen, und in Österreich glimmen die hellen Brände schon auf. Nicht
zuletzt auch die deutschen Arbeiter stehn mit in dem Kampfe, den ihre russischen
Brüder (!) führen; der preußisch-deutsche Vasallenstaat ist so eng mit dem Schicksal
des Zarismus verflochten, daß dessen Sturz für das Reich der ostelbischen Junker
die tiefsten Wirkungen haben wird. . . . Auf die Dauer läßt sich die russische Re¬
volution so wenig in die russischen Grenzen sperren, wie sich einst die französische
Revolution in die französischen Grenzen sperren ließ, und das weiß niemand besser
mis die herrschenden Klassen in Deutschland. Wir können sicher sein, daß sie die
Entwicklung der russischen Revolution mit der gespanntesten Aufmerksamkeit ver¬
folgen und den Augenblick ergreifen werden, wo sie mit einiger Aussicht auf Erfolg
gegen sie einen vernichtenden Schlag glauben führen zu können. Um so weniger
darf die deutsche Arbeiterschaft vergessen, daß die Sache ihrer russischen
Brüder auch die ihre ist."

Mit großer Geschicklichkeit ist hier die Ursache zur Wirkung, die Prämisse zur
Folgerung gemacht worden. Den „herrschenden Klassen" in Deutschland wird
imputiert, daß sie einen vernichtenden Schlag gegen die russische Revolution planen,
deshalb sollen die deutschen Arbeiter nicht vergessen, „daß die Sache ihrer rus¬
sischen Brüder auch die ihre ist"! Wir wollen der Frage, ob die deutsche Sozial¬
demokratie an den „russischen Brüdern" nicht noch manche Enttäuschung erleben
wird, hier noch gar nicht einmal nähertreten, können aber doch nicht umhin, die
.,Wissenschaftlichkeit" zu beleuchten, die bei der Parallele zwischen der russischen
Revolution und der französischen zutage tritt. Die französische Revolution zog ihre
propagandistische Kraft wesentlich aus dem Umstände, daß Frankreich damals rings
von Staaten umgeben war, deren politische Einrichtungen längst ebenso einer weisen
reformierenden Hand bedurft hätten wie ihre militärischen. Nach England hat die
französische Revolution nicht hinübergegriffen, weil sie dort auf überlegne poli¬
tische Einrichtungen stieß. England hatte seine Bürgerkriege mit ihren opferreichen
Erfahrungen hinter sich, und die Nation trug kein Begehr nach deren Wieder¬
holung. Im sichern Besitz ihrer politischen Institutionen lehnte die Bevölkerung
Großbritanniens die Neuerungen der französischen Revolution entschlossen und so
bestimmt ab, daß es dem jüngern Pitt bekanntlich nicht einmal möglich war, eine
Reform des Unterhauses auch nur durch Einsetzung eiues Ausschusses anzubahnen.
Welche politische Freiheit soll uns nun wohl von Rußland kommen? Das allge¬
meine Stimmrecht? Unser Wahlrecht ist — leider — das weitestgehende in ganz
Europa und durch kein Oberhaus und keinen Senat in seinen Wirkungen eingeschränkt.
Die Preßfreiheit, eine geordnete Rechtspflege, alle erdenkbaren parlamentarischen
Rechte und bürgerlichen Freiheiten sind reichlich vorhanden. Ob und wie lange
Rußland mit seinen heterogenen Völkermassen es überhaupt vertragen wird, durch
Gewährung denkbar freiheitlichster Berfassnngsinstitutioueu von einem Extrem ins
""dre geworfen zu werden, bleibt abzuwarten. Auch in diesen überschäumenden
Wein wird aus der Hand der Erfahrung noch mancher Tropfen Wasser fließen
müssen, nicht etwa als „Reaktion," sondern als selbstverständlicher Rücklauf
aller Übertreibungen. Deutschlands verfassungsmäßige Einrichtungen, schon
weil sie die ältern und in bezug auf die Grenzen des Möglichen erprobten, von
einer weit größern politischen Intelligenz getragnen sind, werden sich den rus¬
sischen immer weit überlegen zeigen. Wann wird Rußland seiner Arbeiterbevölkerung
eine so prompt funktionierende und so wohltätige Bcrsichernngsgesehgebung, Krankheit-,


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[0399] Maßgebliches und Unmaßgebliches Gewalt gebracht hatte. Die „Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie," die Neue Zeit, schreibt in ihrer Nummer vom 4, November in einem Artikel, worin sie die russischen Arbeiter als „die Preisfechter des europäischen Proletariats" bezeichnet: „Sie haben den Kleinmut beschämt, der vieles für unmöglich hielt, was sie als möglich erwiesen haben; die europäischen Arbeiter wissen heute, daß die Kampf¬ methoden der alten Revolution sich nur überlebt haben, um neuen und scharfem Kampfmethoden in der Geschichte ihres Emanzipationskampfes zu weichen. In die Arbeiterklasse jedes europäischen Landes sind Funken von der Feuertaufe der russischen Revolution gefallen, und in Österreich glimmen die hellen Brände schon auf. Nicht zuletzt auch die deutschen Arbeiter stehn mit in dem Kampfe, den ihre russischen Brüder (!) führen; der preußisch-deutsche Vasallenstaat ist so eng mit dem Schicksal des Zarismus verflochten, daß dessen Sturz für das Reich der ostelbischen Junker die tiefsten Wirkungen haben wird. . . . Auf die Dauer läßt sich die russische Re¬ volution so wenig in die russischen Grenzen sperren, wie sich einst die französische Revolution in die französischen Grenzen sperren ließ, und das weiß niemand besser mis die herrschenden Klassen in Deutschland. Wir können sicher sein, daß sie die Entwicklung der russischen Revolution mit der gespanntesten Aufmerksamkeit ver¬ folgen und den Augenblick ergreifen werden, wo sie mit einiger Aussicht auf Erfolg gegen sie einen vernichtenden Schlag glauben führen zu können. Um so weniger darf die deutsche Arbeiterschaft vergessen, daß die Sache ihrer russischen Brüder auch die ihre ist." Mit großer Geschicklichkeit ist hier die Ursache zur Wirkung, die Prämisse zur Folgerung gemacht worden. Den „herrschenden Klassen" in Deutschland wird imputiert, daß sie einen vernichtenden Schlag gegen die russische Revolution planen, deshalb sollen die deutschen Arbeiter nicht vergessen, „daß die Sache ihrer rus¬ sischen Brüder auch die ihre ist"! Wir wollen der Frage, ob die deutsche Sozial¬ demokratie an den „russischen Brüdern" nicht noch manche Enttäuschung erleben wird, hier noch gar nicht einmal nähertreten, können aber doch nicht umhin, die .,Wissenschaftlichkeit" zu beleuchten, die bei der Parallele zwischen der russischen Revolution und der französischen zutage tritt. Die französische Revolution zog ihre propagandistische Kraft wesentlich aus dem Umstände, daß Frankreich damals rings von Staaten umgeben war, deren politische Einrichtungen längst ebenso einer weisen reformierenden Hand bedurft hätten wie ihre militärischen. Nach England hat die französische Revolution nicht hinübergegriffen, weil sie dort auf überlegne poli¬ tische Einrichtungen stieß. England hatte seine Bürgerkriege mit ihren opferreichen Erfahrungen hinter sich, und die Nation trug kein Begehr nach deren Wieder¬ holung. Im sichern Besitz ihrer politischen Institutionen lehnte die Bevölkerung Großbritanniens die Neuerungen der französischen Revolution entschlossen und so bestimmt ab, daß es dem jüngern Pitt bekanntlich nicht einmal möglich war, eine Reform des Unterhauses auch nur durch Einsetzung eiues Ausschusses anzubahnen. Welche politische Freiheit soll uns nun wohl von Rußland kommen? Das allge¬ meine Stimmrecht? Unser Wahlrecht ist — leider — das weitestgehende in ganz Europa und durch kein Oberhaus und keinen Senat in seinen Wirkungen eingeschränkt. Die Preßfreiheit, eine geordnete Rechtspflege, alle erdenkbaren parlamentarischen Rechte und bürgerlichen Freiheiten sind reichlich vorhanden. Ob und wie lange Rußland mit seinen heterogenen Völkermassen es überhaupt vertragen wird, durch Gewährung denkbar freiheitlichster Berfassnngsinstitutioueu von einem Extrem ins ""dre geworfen zu werden, bleibt abzuwarten. Auch in diesen überschäumenden Wein wird aus der Hand der Erfahrung noch mancher Tropfen Wasser fließen müssen, nicht etwa als „Reaktion," sondern als selbstverständlicher Rücklauf aller Übertreibungen. Deutschlands verfassungsmäßige Einrichtungen, schon weil sie die ältern und in bezug auf die Grenzen des Möglichen erprobten, von einer weit größern politischen Intelligenz getragnen sind, werden sich den rus¬ sischen immer weit überlegen zeigen. Wann wird Rußland seiner Arbeiterbevölkerung eine so prompt funktionierende und so wohltätige Bcrsichernngsgesehgebung, Krankheit-,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/399>, abgerufen am 15.01.2025.