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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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Erfrischung freilich etwas zu viel, und obendrein kam mir die fatale Geschichte von
einem Manne in den Sinn, der vor ein paar Jahren gerade in dieser Gegend
spurlos im Moor versunken war. Aber was half das alles, ich mußte weiter, und
an ein Zurück war jetzt nicht mehr zu denken.

Ich hatte früher einmal gehört, daß man gefährliche Stellen im Moore mit
der größten Schnelligkeit passieren müsse, um so dem tückischen Grunde keine Zeit
zum Einsinken zu lassen. Ich versuchte deshalb, mich möglichst leicht zu machen
und mit der Grazie einer Elfe über die unheimliche Wiese wegzukommen. Und
-- merkwürdig, was der feste Wille eines Menschen vermag! -- es gelang mir
Wider Erwarten gut. Das Glucksen des Wassers hörte auf, mein Fuß schien nur
die feuchten Grashalme zu streifen, und ein Gefühl der Wonne überkam mich, als
hätte ich das Problem des Fliegens gelöst und könnte nun, von der Materie be¬
freit, wie die seligen Geister über dem Staube oder dem Schlamme unsers Planeten
dahinschweben. Ich weiß nicht, wie lange ich mich dem ungewohnten Kunstgenüsse
hingab, es ist mir nur erinnerlich, daß mein Fuß plötzlich mit einem harten Gegen¬
stand in Berührung kam, der sich als ein Chausseestein entpuppte. Nun war es
mit dem Schweben vorbei, ich spürte wieder das Gewicht des Rucksacks und des
Drillings, die Hühner baumelten an meiner Seite und legten sich mit ihrem durch¬
näßten Gefieder wie ein schwerer Hemmschuh gegen meine Schenkel. Ich zog eine
Schachtel Wachshölzchen aus der Tasche, machte Licht und sah auf die Uhr. Der
große Zeiger stand auf der Minute, wo der Zug in den Torgauer Bahnhof ein¬
laufen mußte! Die ganze Hetze war also umsonst gewesen. Ich hatte die nicht
gerade verlockende Aussicht, in einem Gasthofe der Stadt übernachten und mit dem
Frühzuge die Heimreise antreten zu müssen.

Beim Weitergehn bemerkte ich rechts von der Straße die dunkeln Umrisse
eines einsamen Gehöfts, worin ich nach längerm Überlegen die Abdeckerei, oder
wie sie dort in der Gegend in der Erinnerung an vergangne Zeiten genannt wird,
die Scharfrichterei erkannte. In dem düstern Hause dort, das so friedlich und
idyllisch unter alten, Weitschattenden Linden und Obstbäumen lag, hatte einst der
Henker von Torgau gewohnt, und der Asuius looi war auch heute noch nicht so
anheimelnd, wie es das altertümliche Anwesen mit dem von einer hohen Hecke ein¬
gefaßten, etwas verwilderten Blumengarten sonst wohl verdient hätte.

Da ich ja nichts mehr zu versäumen hatte, beschloß ich, ganz gemächlich nach
Torgau hinein zu spazieren, zuvor aber das angenehme Gruseln, das den nächt¬
lichen Wandrer an unheimlichen und verschrieenen Orten überkommen soll, einmal
am eignen Leibe kennen zu lernen. Ich warf also meinen Rucksack auf einen Stein¬
haufen zur Seite der Chaussee, setzte mich darauf und gab mir die größte Mühe,
irgend etwas zu entdecken, was einer umgehenden armen Seele oder einem ähnlichen
Spuk ähnlich gesehen hätte. Der Mond, der das Versteckspielen hinter den feuchten
Wolken satt bekommen zu haben schien, kam wieder zum Vorschein, nicht gerade in
seiner vollen Klarheit, aber immerhin so hell, daß sein Licht mir erlaubte, die Ge¬
bäude der Scharfrichterei und die weitere Umgebung genauer zu betrachten. Da
gab es nun freilich nichts ungewöhnliches oder gar übernatürliches zu sehen, das
Anwesen war ein Gehöft wie tausend andre hier in der Gegend, und der Umstand,
daß in einem Zimmer des Erdgeschosses Plötzlich eine Gestalt im Nachtgewande mit
einem Licht in der Hand erschien, einen Wandschrank öffnete, eine Flasche hervor¬
holte, erst daran roch und dann einen herzhaften Zug daraus tat, ließ sich beim
besten Willen nicht als ein Vorgang aus der vierten Dimension deuten. Im
übrigen blieb in dem Hause alles still, nur aus dem Stalle klang von Zeit zu
Zeit das Rasseln einer Kette zu mir herüber, und in der weiten Ferne konnte ich
das Schreien und das Plätschern des Wassergeflügels vernehmen, das den nahen
Großen Teich als eine vieltausendköpfige Kolonie bevölkert.

Mit einemmal war mir, als schalte aus der Richtung von Torgau her Pferde¬
getrappel und Nä'derrollen. Ich lauschte einige Augenblicke und kam zu der Über-


Erfrischung freilich etwas zu viel, und obendrein kam mir die fatale Geschichte von
einem Manne in den Sinn, der vor ein paar Jahren gerade in dieser Gegend
spurlos im Moor versunken war. Aber was half das alles, ich mußte weiter, und
an ein Zurück war jetzt nicht mehr zu denken.

Ich hatte früher einmal gehört, daß man gefährliche Stellen im Moore mit
der größten Schnelligkeit passieren müsse, um so dem tückischen Grunde keine Zeit
zum Einsinken zu lassen. Ich versuchte deshalb, mich möglichst leicht zu machen
und mit der Grazie einer Elfe über die unheimliche Wiese wegzukommen. Und
— merkwürdig, was der feste Wille eines Menschen vermag! — es gelang mir
Wider Erwarten gut. Das Glucksen des Wassers hörte auf, mein Fuß schien nur
die feuchten Grashalme zu streifen, und ein Gefühl der Wonne überkam mich, als
hätte ich das Problem des Fliegens gelöst und könnte nun, von der Materie be¬
freit, wie die seligen Geister über dem Staube oder dem Schlamme unsers Planeten
dahinschweben. Ich weiß nicht, wie lange ich mich dem ungewohnten Kunstgenüsse
hingab, es ist mir nur erinnerlich, daß mein Fuß plötzlich mit einem harten Gegen¬
stand in Berührung kam, der sich als ein Chausseestein entpuppte. Nun war es
mit dem Schweben vorbei, ich spürte wieder das Gewicht des Rucksacks und des
Drillings, die Hühner baumelten an meiner Seite und legten sich mit ihrem durch¬
näßten Gefieder wie ein schwerer Hemmschuh gegen meine Schenkel. Ich zog eine
Schachtel Wachshölzchen aus der Tasche, machte Licht und sah auf die Uhr. Der
große Zeiger stand auf der Minute, wo der Zug in den Torgauer Bahnhof ein¬
laufen mußte! Die ganze Hetze war also umsonst gewesen. Ich hatte die nicht
gerade verlockende Aussicht, in einem Gasthofe der Stadt übernachten und mit dem
Frühzuge die Heimreise antreten zu müssen.

Beim Weitergehn bemerkte ich rechts von der Straße die dunkeln Umrisse
eines einsamen Gehöfts, worin ich nach längerm Überlegen die Abdeckerei, oder
wie sie dort in der Gegend in der Erinnerung an vergangne Zeiten genannt wird,
die Scharfrichterei erkannte. In dem düstern Hause dort, das so friedlich und
idyllisch unter alten, Weitschattenden Linden und Obstbäumen lag, hatte einst der
Henker von Torgau gewohnt, und der Asuius looi war auch heute noch nicht so
anheimelnd, wie es das altertümliche Anwesen mit dem von einer hohen Hecke ein¬
gefaßten, etwas verwilderten Blumengarten sonst wohl verdient hätte.

Da ich ja nichts mehr zu versäumen hatte, beschloß ich, ganz gemächlich nach
Torgau hinein zu spazieren, zuvor aber das angenehme Gruseln, das den nächt¬
lichen Wandrer an unheimlichen und verschrieenen Orten überkommen soll, einmal
am eignen Leibe kennen zu lernen. Ich warf also meinen Rucksack auf einen Stein¬
haufen zur Seite der Chaussee, setzte mich darauf und gab mir die größte Mühe,
irgend etwas zu entdecken, was einer umgehenden armen Seele oder einem ähnlichen
Spuk ähnlich gesehen hätte. Der Mond, der das Versteckspielen hinter den feuchten
Wolken satt bekommen zu haben schien, kam wieder zum Vorschein, nicht gerade in
seiner vollen Klarheit, aber immerhin so hell, daß sein Licht mir erlaubte, die Ge¬
bäude der Scharfrichterei und die weitere Umgebung genauer zu betrachten. Da
gab es nun freilich nichts ungewöhnliches oder gar übernatürliches zu sehen, das
Anwesen war ein Gehöft wie tausend andre hier in der Gegend, und der Umstand,
daß in einem Zimmer des Erdgeschosses Plötzlich eine Gestalt im Nachtgewande mit
einem Licht in der Hand erschien, einen Wandschrank öffnete, eine Flasche hervor¬
holte, erst daran roch und dann einen herzhaften Zug daraus tat, ließ sich beim
besten Willen nicht als ein Vorgang aus der vierten Dimension deuten. Im
übrigen blieb in dem Hause alles still, nur aus dem Stalle klang von Zeit zu
Zeit das Rasseln einer Kette zu mir herüber, und in der weiten Ferne konnte ich
das Schreien und das Plätschern des Wassergeflügels vernehmen, das den nahen
Großen Teich als eine vieltausendköpfige Kolonie bevölkert.

Mit einemmal war mir, als schalte aus der Richtung von Torgau her Pferde¬
getrappel und Nä'derrollen. Ich lauschte einige Augenblicke und kam zu der Über-


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[0394] Erfrischung freilich etwas zu viel, und obendrein kam mir die fatale Geschichte von einem Manne in den Sinn, der vor ein paar Jahren gerade in dieser Gegend spurlos im Moor versunken war. Aber was half das alles, ich mußte weiter, und an ein Zurück war jetzt nicht mehr zu denken. Ich hatte früher einmal gehört, daß man gefährliche Stellen im Moore mit der größten Schnelligkeit passieren müsse, um so dem tückischen Grunde keine Zeit zum Einsinken zu lassen. Ich versuchte deshalb, mich möglichst leicht zu machen und mit der Grazie einer Elfe über die unheimliche Wiese wegzukommen. Und — merkwürdig, was der feste Wille eines Menschen vermag! — es gelang mir Wider Erwarten gut. Das Glucksen des Wassers hörte auf, mein Fuß schien nur die feuchten Grashalme zu streifen, und ein Gefühl der Wonne überkam mich, als hätte ich das Problem des Fliegens gelöst und könnte nun, von der Materie be¬ freit, wie die seligen Geister über dem Staube oder dem Schlamme unsers Planeten dahinschweben. Ich weiß nicht, wie lange ich mich dem ungewohnten Kunstgenüsse hingab, es ist mir nur erinnerlich, daß mein Fuß plötzlich mit einem harten Gegen¬ stand in Berührung kam, der sich als ein Chausseestein entpuppte. Nun war es mit dem Schweben vorbei, ich spürte wieder das Gewicht des Rucksacks und des Drillings, die Hühner baumelten an meiner Seite und legten sich mit ihrem durch¬ näßten Gefieder wie ein schwerer Hemmschuh gegen meine Schenkel. Ich zog eine Schachtel Wachshölzchen aus der Tasche, machte Licht und sah auf die Uhr. Der große Zeiger stand auf der Minute, wo der Zug in den Torgauer Bahnhof ein¬ laufen mußte! Die ganze Hetze war also umsonst gewesen. Ich hatte die nicht gerade verlockende Aussicht, in einem Gasthofe der Stadt übernachten und mit dem Frühzuge die Heimreise antreten zu müssen. Beim Weitergehn bemerkte ich rechts von der Straße die dunkeln Umrisse eines einsamen Gehöfts, worin ich nach längerm Überlegen die Abdeckerei, oder wie sie dort in der Gegend in der Erinnerung an vergangne Zeiten genannt wird, die Scharfrichterei erkannte. In dem düstern Hause dort, das so friedlich und idyllisch unter alten, Weitschattenden Linden und Obstbäumen lag, hatte einst der Henker von Torgau gewohnt, und der Asuius looi war auch heute noch nicht so anheimelnd, wie es das altertümliche Anwesen mit dem von einer hohen Hecke ein¬ gefaßten, etwas verwilderten Blumengarten sonst wohl verdient hätte. Da ich ja nichts mehr zu versäumen hatte, beschloß ich, ganz gemächlich nach Torgau hinein zu spazieren, zuvor aber das angenehme Gruseln, das den nächt¬ lichen Wandrer an unheimlichen und verschrieenen Orten überkommen soll, einmal am eignen Leibe kennen zu lernen. Ich warf also meinen Rucksack auf einen Stein¬ haufen zur Seite der Chaussee, setzte mich darauf und gab mir die größte Mühe, irgend etwas zu entdecken, was einer umgehenden armen Seele oder einem ähnlichen Spuk ähnlich gesehen hätte. Der Mond, der das Versteckspielen hinter den feuchten Wolken satt bekommen zu haben schien, kam wieder zum Vorschein, nicht gerade in seiner vollen Klarheit, aber immerhin so hell, daß sein Licht mir erlaubte, die Ge¬ bäude der Scharfrichterei und die weitere Umgebung genauer zu betrachten. Da gab es nun freilich nichts ungewöhnliches oder gar übernatürliches zu sehen, das Anwesen war ein Gehöft wie tausend andre hier in der Gegend, und der Umstand, daß in einem Zimmer des Erdgeschosses Plötzlich eine Gestalt im Nachtgewande mit einem Licht in der Hand erschien, einen Wandschrank öffnete, eine Flasche hervor¬ holte, erst daran roch und dann einen herzhaften Zug daraus tat, ließ sich beim besten Willen nicht als ein Vorgang aus der vierten Dimension deuten. Im übrigen blieb in dem Hause alles still, nur aus dem Stalle klang von Zeit zu Zeit das Rasseln einer Kette zu mir herüber, und in der weiten Ferne konnte ich das Schreien und das Plätschern des Wassergeflügels vernehmen, das den nahen Großen Teich als eine vieltausendköpfige Kolonie bevölkert. Mit einemmal war mir, als schalte aus der Richtung von Torgau her Pferde¬ getrappel und Nä'derrollen. Ich lauschte einige Augenblicke und kam zu der Über-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/394>, abgerufen am 15.01.2025.