Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches Zeit als einer unsrer tüchtigsten Diplomaten galt. Bei der Empfindlichkeit Spaniens Die eine Zeit lang viel erörterte Frage der Umgestaltung und der Neugestaltung "H" Stadt und Land. Es gehört zu der das ganze Dasein beherrschenden Grenzboten IV 1905 44
Maßgebliches und Unmaßgebliches Zeit als einer unsrer tüchtigsten Diplomaten galt. Bei der Empfindlichkeit Spaniens Die eine Zeit lang viel erörterte Frage der Umgestaltung und der Neugestaltung »H» Stadt und Land. Es gehört zu der das ganze Dasein beherrschenden Grenzboten IV 1905 44
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0347" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/296358"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_2073" prev="#ID_2072"> Zeit als einer unsrer tüchtigsten Diplomaten galt. Bei der Empfindlichkeit Spaniens<lb/> in bezug auf Marokko dürfte Herr von Radowitz in der Lage gewesen sein, den<lb/> Wandlungen der marokkanischen Angelegenheit rechtzeitig und mit sicherm Blick zu<lb/> folgen. Erwähnt sei übrigens, daß in den vornehmen Berliner Gesellschaftskreisen<lb/> der bisherige Regent von Sachsen-Koburg-Gotha, der Erbprinz von Hohenlohe-<lb/> Lcmgenburg, mit Nachdruck als eine für eine hohe diplomatische Stellung geeignete<lb/> und in Aussicht genommne Persönlichkeit bezeichnet wird. Der Prinz hat seine<lb/> Laufbahn bei den Gardedragonern begonnen, trat dann in den diplomatischen Dienst,<lb/> war Legationssekretär in Petersburg, längere Zeit bei der Botschaft in London,<lb/> arbeitete nach der Übernahme der Statthalterschaft durch seinen Vater auf dem<lb/> Ministerium in Straßburg und nahm bei seiner Vermählung mit einer Prinzessin<lb/> von Sachsen-Koburg-Gotha seinen Abschied als kaiserlicher Legationsrat. In der<lb/> Führung der Regentschaft hat er viel Umsicht, Takt und staatsmännische Geschick-<lb/> lichkeit bewiesen.</p><lb/> <p xml:id="ID_2074"> Die eine Zeit lang viel erörterte Frage der Umgestaltung und der Neugestaltung<lb/> unsrer Kolonialverwaltung ist nun dahin entschieden, daß ganze Arbeit gemacht und<lb/> endlich ein eignes Kolonialamt mit einem Staatssekretär an der Spitze aufgestellt<lb/> werden soll. Zugleich mit dem Kolonialamt würden voraussichtlich Deutsch-Ostafrika<lb/> und allem Anschein nach auch noch der eine oder der andre Gouverneurposten neu<lb/> zu besetzen sein. Da ist es nicht ohne Interesse, zu sehen, daß sich der vor kurzem<lb/> vom Kaiser begnadigte Dr. Karl Peters mehr und mehr durch Publizistisches und<lb/> rednerisches Auftreten in Erinnerung bringt, und es scheint in der Tat nicht nur<lb/> die Möglichkeit, sondern sogar die Absicht vorzuliegen, ihn in irgendeiner Form<lb/> den deutschen kolonialen Interessen wieder dienstbar zu machen. In einer hohen<lb/> Beamtenstellung wird das nach alledem, was vorgegangen ist, kaum möglich sein.<lb/> Trotzdem wird wahrscheinlich eine Form gefunden werden, die es erlaubt, die<lb/> reichen afrikanischen Erfahrungen, die Peters an verschiednen Stellen des Erdteils<lb/> gesammelt, und die er durch seinen langen Aufenthalt in England auch nach andern<lb/> Richtungen hin wesentlich bereichert hat, für Deutschland nutzbringend zu verwerten.</p><lb/> <note type="byline"> »H»</note><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> <div n="2"> <head> Stadt und Land.</head> <p xml:id="ID_2075" next="#ID_2076"> Es gehört zu der das ganze Dasein beherrschenden<lb/> Ironie, daß in die Großstadt ziehn muß, wer den Zug zur Großstadt wirksam<lb/> bekämpfen will, weil er nur dort die Waffen findet, namentlich die unentbehrlichen<lb/> statistischen. Wer sich, fern von Madrid wohnend, auch nicht einmal die großen<lb/> amtlichen Veröffentlichungen verschaffen kann, der muß, wenn er sich wenigstens ein<lb/> Urteil bilden will, Bruchstücke aus Zeitungen und Zeitschriften zusammenlesen und<lb/> fühlt sich schon glücklich, wenn ihm ein günstiger Zufall einmal eine zusammen¬<lb/> hängende statistische Untersuchung größern Stils in die Hände spielt wie Stadt und<lb/> Land im Lebensprozeß der Masse von Dr. Mr. Richard Thurnwald, einen<lb/> (leider nicht in den Handel gegebnen) Sonderabdruck aus dem vorjährigen November-<lb/> Dezemberheft des von Dr. Alfred Ploetz herausgegebnen Archivs für Raffen- und<lb/> Gesellschaftsbiologie. Die Schrift nutzt auch als gute Anleitung zu statistischen<lb/> Untersuchungen, denn sie zeigt zum Beispiel, eine wie ungemein verwickelte Sache<lb/> die Geburtenstatistik der Großstadt ist, und wie man sich dnrch die einander bald<lb/> verstärkenden, bald aufhebenden, bald kreuzenden Einflüsse der Einwanderung, des<lb/> Aufbaues der Altersklassen, der sozialen Struktur, des geistigen und des Wirtschafts¬<lb/> lebens hindurchwinden muß, wenn man zu einem leidlich sichern Ergebnis kommen<lb/> will. Thurnwalds Ergebnis bestätigt nun nicht die optimistische Auffassung der<lb/> heutigen Entwicklung, die wir bei Brentano und seiner Schule finden, sondern gibt<lb/> der Ansicht Recht, die in der landwirtschaftlichen Bevölkerung den Jungbrunnen<lb/> des Volkes und der Volkskraft sieht. Industrielle Beschäftigung, städtische Wohn-<lb/> weise und städtische Bildung (dieses Wort in einem sehr weiten Sinne verstanden)<lb/> wirken der Volksvermehrung entgegen. Was sich bei einer Musterung der Völker</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV 1905 44</fw><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0347]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Zeit als einer unsrer tüchtigsten Diplomaten galt. Bei der Empfindlichkeit Spaniens
in bezug auf Marokko dürfte Herr von Radowitz in der Lage gewesen sein, den
Wandlungen der marokkanischen Angelegenheit rechtzeitig und mit sicherm Blick zu
folgen. Erwähnt sei übrigens, daß in den vornehmen Berliner Gesellschaftskreisen
der bisherige Regent von Sachsen-Koburg-Gotha, der Erbprinz von Hohenlohe-
Lcmgenburg, mit Nachdruck als eine für eine hohe diplomatische Stellung geeignete
und in Aussicht genommne Persönlichkeit bezeichnet wird. Der Prinz hat seine
Laufbahn bei den Gardedragonern begonnen, trat dann in den diplomatischen Dienst,
war Legationssekretär in Petersburg, längere Zeit bei der Botschaft in London,
arbeitete nach der Übernahme der Statthalterschaft durch seinen Vater auf dem
Ministerium in Straßburg und nahm bei seiner Vermählung mit einer Prinzessin
von Sachsen-Koburg-Gotha seinen Abschied als kaiserlicher Legationsrat. In der
Führung der Regentschaft hat er viel Umsicht, Takt und staatsmännische Geschick-
lichkeit bewiesen.
Die eine Zeit lang viel erörterte Frage der Umgestaltung und der Neugestaltung
unsrer Kolonialverwaltung ist nun dahin entschieden, daß ganze Arbeit gemacht und
endlich ein eignes Kolonialamt mit einem Staatssekretär an der Spitze aufgestellt
werden soll. Zugleich mit dem Kolonialamt würden voraussichtlich Deutsch-Ostafrika
und allem Anschein nach auch noch der eine oder der andre Gouverneurposten neu
zu besetzen sein. Da ist es nicht ohne Interesse, zu sehen, daß sich der vor kurzem
vom Kaiser begnadigte Dr. Karl Peters mehr und mehr durch Publizistisches und
rednerisches Auftreten in Erinnerung bringt, und es scheint in der Tat nicht nur
die Möglichkeit, sondern sogar die Absicht vorzuliegen, ihn in irgendeiner Form
den deutschen kolonialen Interessen wieder dienstbar zu machen. In einer hohen
Beamtenstellung wird das nach alledem, was vorgegangen ist, kaum möglich sein.
Trotzdem wird wahrscheinlich eine Form gefunden werden, die es erlaubt, die
reichen afrikanischen Erfahrungen, die Peters an verschiednen Stellen des Erdteils
gesammelt, und die er durch seinen langen Aufenthalt in England auch nach andern
Richtungen hin wesentlich bereichert hat, für Deutschland nutzbringend zu verwerten.
»H»
Stadt und Land. Es gehört zu der das ganze Dasein beherrschenden
Ironie, daß in die Großstadt ziehn muß, wer den Zug zur Großstadt wirksam
bekämpfen will, weil er nur dort die Waffen findet, namentlich die unentbehrlichen
statistischen. Wer sich, fern von Madrid wohnend, auch nicht einmal die großen
amtlichen Veröffentlichungen verschaffen kann, der muß, wenn er sich wenigstens ein
Urteil bilden will, Bruchstücke aus Zeitungen und Zeitschriften zusammenlesen und
fühlt sich schon glücklich, wenn ihm ein günstiger Zufall einmal eine zusammen¬
hängende statistische Untersuchung größern Stils in die Hände spielt wie Stadt und
Land im Lebensprozeß der Masse von Dr. Mr. Richard Thurnwald, einen
(leider nicht in den Handel gegebnen) Sonderabdruck aus dem vorjährigen November-
Dezemberheft des von Dr. Alfred Ploetz herausgegebnen Archivs für Raffen- und
Gesellschaftsbiologie. Die Schrift nutzt auch als gute Anleitung zu statistischen
Untersuchungen, denn sie zeigt zum Beispiel, eine wie ungemein verwickelte Sache
die Geburtenstatistik der Großstadt ist, und wie man sich dnrch die einander bald
verstärkenden, bald aufhebenden, bald kreuzenden Einflüsse der Einwanderung, des
Aufbaues der Altersklassen, der sozialen Struktur, des geistigen und des Wirtschafts¬
lebens hindurchwinden muß, wenn man zu einem leidlich sichern Ergebnis kommen
will. Thurnwalds Ergebnis bestätigt nun nicht die optimistische Auffassung der
heutigen Entwicklung, die wir bei Brentano und seiner Schule finden, sondern gibt
der Ansicht Recht, die in der landwirtschaftlichen Bevölkerung den Jungbrunnen
des Volkes und der Volkskraft sieht. Industrielle Beschäftigung, städtische Wohn-
weise und städtische Bildung (dieses Wort in einem sehr weiten Sinne verstanden)
wirken der Volksvermehrung entgegen. Was sich bei einer Musterung der Völker
Grenzboten IV 1905 44
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