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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

auf den ersten Blick ergibt -- Rußland steht unter den europäischen Staaten
obenan, Frankreich zuletzt in der Volksvermehrung, und in Preußen sind die Polen
am fruchtbarsten --, das ermittelt die mühsame Untersuchung zuletzt auch für die
einzelne Großstadt im Vergleich zu ihrer Landschaft. Und mit der Zahl der Kinder
nimmt die Güte ab; nicht bloß in Beziehung auf Brustumfang, Muskel- und
Nervenkraft. "Die Art des Gelderwerbs erzeugt mit dem Wettbewerb verbunden
jene städtische Moral, die das egoistischste, rücksichtsloseste, rassenseindlichste Geld¬
macher verherrlicht, das Parasitentum gutheißt und vor dem Byzantinismus kapi¬
tuliert," während die eintönige Art der nervenabspannenden Tätigkeit der untern
Schicht und ihr sozialer Zustand Raubbau mit Menschenmaterial bedeuten. -- Wird
der Prozeß von selbst zum Stillstande kommen, oder wird die vorderhand erst in
den Seelen erwachte Gegenströmung siegen? Hie und da macht sich eine Rück-
stcmung bemerkbar: großstädtische Fabrikanten verlegen, um dem Druck der hohen
Grundrente zu entgehn, ihre Unternehmungen auf das Land, und die Gartenstadt¬
gesellschaft, deren Haupt Adolf Otto in Schlachtensee ist, will Stadt und Land
einander durchdringen lassen. Sie gedenkt ihren Plan, dem ein in England schon
durchgeführtes Experiment als Muster vorschwebt, auf der Grundlage des Gemein¬
besitzes an Grund und Boden durchzuführen. Angeregt durch das in neuerer Zeit
hervorgetretne Streben der Fabrikanten, wohlfeilern Baugrund für ihre Gebäude
und wohlfeilere Wohnplätze für ihre Arbeiter aufzusuchen, macht der hannöversche
Landmesser A. Abendrot in der Broschüre: Die Großstadt als Städte¬
gründerin (Verlag der Gartenstadtgesellschaft in Schlachtensee, 1905) den Vor¬
schlag, die Großstadt solle selbst in mäßiger Entfernung von ihrem Weichbilde wohl¬
feiles Terrain kaufen, darauf Jndustriekolonien gründen und diese durch Bahnen
und Kanäle an die großen Verkehrswege und Absatzzentren anschließen. Der Ver¬
fasser entwickelt einen ausführlichen Plan für solche Anlagen und weist neben ihren
sozialen und hygienischen Vorteilen auch ihre Rentabilität für die unternehmende
Stadt nach. Man mag über solche Projekte denken, wie man will -- jedenfalls
sind die Stadtverwaltungen nicht in der Lage, der stürmischen Entwicklung mit
verschränkten Armen zuzusehen, sondern müssen sich entschließen, welche der vor-
handnen Strömungen sie begünstigen, nach welcher Richtung hin sie die Entwicklung
lenken wollen.




Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig -- Druck von Karl Marquart in Leipzig




Maßgebliches und Unmaßgebliches

auf den ersten Blick ergibt — Rußland steht unter den europäischen Staaten
obenan, Frankreich zuletzt in der Volksvermehrung, und in Preußen sind die Polen
am fruchtbarsten —, das ermittelt die mühsame Untersuchung zuletzt auch für die
einzelne Großstadt im Vergleich zu ihrer Landschaft. Und mit der Zahl der Kinder
nimmt die Güte ab; nicht bloß in Beziehung auf Brustumfang, Muskel- und
Nervenkraft. „Die Art des Gelderwerbs erzeugt mit dem Wettbewerb verbunden
jene städtische Moral, die das egoistischste, rücksichtsloseste, rassenseindlichste Geld¬
macher verherrlicht, das Parasitentum gutheißt und vor dem Byzantinismus kapi¬
tuliert," während die eintönige Art der nervenabspannenden Tätigkeit der untern
Schicht und ihr sozialer Zustand Raubbau mit Menschenmaterial bedeuten. — Wird
der Prozeß von selbst zum Stillstande kommen, oder wird die vorderhand erst in
den Seelen erwachte Gegenströmung siegen? Hie und da macht sich eine Rück-
stcmung bemerkbar: großstädtische Fabrikanten verlegen, um dem Druck der hohen
Grundrente zu entgehn, ihre Unternehmungen auf das Land, und die Gartenstadt¬
gesellschaft, deren Haupt Adolf Otto in Schlachtensee ist, will Stadt und Land
einander durchdringen lassen. Sie gedenkt ihren Plan, dem ein in England schon
durchgeführtes Experiment als Muster vorschwebt, auf der Grundlage des Gemein¬
besitzes an Grund und Boden durchzuführen. Angeregt durch das in neuerer Zeit
hervorgetretne Streben der Fabrikanten, wohlfeilern Baugrund für ihre Gebäude
und wohlfeilere Wohnplätze für ihre Arbeiter aufzusuchen, macht der hannöversche
Landmesser A. Abendrot in der Broschüre: Die Großstadt als Städte¬
gründerin (Verlag der Gartenstadtgesellschaft in Schlachtensee, 1905) den Vor¬
schlag, die Großstadt solle selbst in mäßiger Entfernung von ihrem Weichbilde wohl¬
feiles Terrain kaufen, darauf Jndustriekolonien gründen und diese durch Bahnen
und Kanäle an die großen Verkehrswege und Absatzzentren anschließen. Der Ver¬
fasser entwickelt einen ausführlichen Plan für solche Anlagen und weist neben ihren
sozialen und hygienischen Vorteilen auch ihre Rentabilität für die unternehmende
Stadt nach. Man mag über solche Projekte denken, wie man will — jedenfalls
sind die Stadtverwaltungen nicht in der Lage, der stürmischen Entwicklung mit
verschränkten Armen zuzusehen, sondern müssen sich entschließen, welche der vor-
handnen Strömungen sie begünstigen, nach welcher Richtung hin sie die Entwicklung
lenken wollen.




Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig — Druck von Karl Marquart in Leipzig




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[0348] Maßgebliches und Unmaßgebliches auf den ersten Blick ergibt — Rußland steht unter den europäischen Staaten obenan, Frankreich zuletzt in der Volksvermehrung, und in Preußen sind die Polen am fruchtbarsten —, das ermittelt die mühsame Untersuchung zuletzt auch für die einzelne Großstadt im Vergleich zu ihrer Landschaft. Und mit der Zahl der Kinder nimmt die Güte ab; nicht bloß in Beziehung auf Brustumfang, Muskel- und Nervenkraft. „Die Art des Gelderwerbs erzeugt mit dem Wettbewerb verbunden jene städtische Moral, die das egoistischste, rücksichtsloseste, rassenseindlichste Geld¬ macher verherrlicht, das Parasitentum gutheißt und vor dem Byzantinismus kapi¬ tuliert," während die eintönige Art der nervenabspannenden Tätigkeit der untern Schicht und ihr sozialer Zustand Raubbau mit Menschenmaterial bedeuten. — Wird der Prozeß von selbst zum Stillstande kommen, oder wird die vorderhand erst in den Seelen erwachte Gegenströmung siegen? Hie und da macht sich eine Rück- stcmung bemerkbar: großstädtische Fabrikanten verlegen, um dem Druck der hohen Grundrente zu entgehn, ihre Unternehmungen auf das Land, und die Gartenstadt¬ gesellschaft, deren Haupt Adolf Otto in Schlachtensee ist, will Stadt und Land einander durchdringen lassen. Sie gedenkt ihren Plan, dem ein in England schon durchgeführtes Experiment als Muster vorschwebt, auf der Grundlage des Gemein¬ besitzes an Grund und Boden durchzuführen. Angeregt durch das in neuerer Zeit hervorgetretne Streben der Fabrikanten, wohlfeilern Baugrund für ihre Gebäude und wohlfeilere Wohnplätze für ihre Arbeiter aufzusuchen, macht der hannöversche Landmesser A. Abendrot in der Broschüre: Die Großstadt als Städte¬ gründerin (Verlag der Gartenstadtgesellschaft in Schlachtensee, 1905) den Vor¬ schlag, die Großstadt solle selbst in mäßiger Entfernung von ihrem Weichbilde wohl¬ feiles Terrain kaufen, darauf Jndustriekolonien gründen und diese durch Bahnen und Kanäle an die großen Verkehrswege und Absatzzentren anschließen. Der Ver¬ fasser entwickelt einen ausführlichen Plan für solche Anlagen und weist neben ihren sozialen und hygienischen Vorteilen auch ihre Rentabilität für die unternehmende Stadt nach. Man mag über solche Projekte denken, wie man will — jedenfalls sind die Stadtverwaltungen nicht in der Lage, der stürmischen Entwicklung mit verschränkten Armen zuzusehen, sondern müssen sich entschließen, welche der vor- handnen Strömungen sie begünstigen, nach welcher Richtung hin sie die Entwicklung lenken wollen. Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig — Druck von Karl Marquart in Leipzig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/348>, abgerufen am 15.01.2025.