Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches von den Zeitgenossen noch lebt, wird sich vielleicht mit Bedauern der vielen schiefen Deutschland ist rechtzeitig in der Lage gewesen, den englisch-französischen Ver¬ Es hat nicht ausbleiben können, daß der deutschen Politik auch gegenüber der Entbehrt somit das Märchen oder die Befürchtung jeder Grundlage, daß Maßgebliches und Unmaßgebliches von den Zeitgenossen noch lebt, wird sich vielleicht mit Bedauern der vielen schiefen Deutschland ist rechtzeitig in der Lage gewesen, den englisch-französischen Ver¬ Es hat nicht ausbleiben können, daß der deutschen Politik auch gegenüber der Entbehrt somit das Märchen oder die Befürchtung jeder Grundlage, daß <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0346" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/296357"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_2069" prev="#ID_2068"> von den Zeitgenossen noch lebt, wird sich vielleicht mit Bedauern der vielen schiefen<lb/> Urteile erinnern, die heute in unsrer öffentlichen Meinung und bei deren Vertretung<lb/> in der Presse im Schwange sind.</p><lb/> <p xml:id="ID_2070"> Deutschland ist rechtzeitig in der Lage gewesen, den englisch-französischen Ver¬<lb/> handlungen über Ägypten und Marokko zu folgen, und je mehr die beiden Mächte<lb/> durch ihre Reserve Deutschland gegenüber zu erkennen gaben, dnß sie den Grad<lb/> ihrer Intimität vor uns zu verbergen wünschten, um so weniger konnte — durch<lb/> eine Menge von Anzeichen aus allen Hauptstädten belehrt — die deutsche Politik<lb/> im Zweifel darüber sein, daß die englisch-französische Annäherung auf ihrer ägyptisch-<lb/> marokkanischen Grundlage ein gemeinsames Einschwenken beider Länder gegen Deutsch¬<lb/> land bedeute, daß Deutschland sich vorzusehen habe und selbst den Zeitpunkt be¬<lb/> zeichnen müsse, bis zu dem es dem Ansteigen der neuen Flut ruhig zusehen wolle<lb/> oder könne. Das Weitere ist dann aus der Entwicklung der marokkanischen Sache<lb/> im Laufe dieses Jahres den Lesern noch hingänglich frisch im Gedächtnis, und die<lb/> bevorstehende Reichstagssession wird ja Wohl Veranlassung bieten, der Nation weitere<lb/> Aufklärungen zu geben, sie aber auch darüber vor allem nicht im Zweifel zu lassen,<lb/> daß die kriegerische Wendung, die im Frühsommer 1905 noch einmal mit Erfolg<lb/> beschworen werden konnte, in verhältnismäßig kurzer Zeit wieder eintreten kann,<lb/> da ihre Gründe gewissermaßen chronisch sind. Es ist also Sache des deutschen<lb/> Volkes, in seiner Bereitschaft zu Lande, zu Wasser und in seinen Finanzen keinem<lb/> Feinde eine Öffnung zu bieten.</p><lb/> <p xml:id="ID_2071"> Es hat nicht ausbleiben können, daß der deutschen Politik auch gegenüber der<lb/> innern Situation Rußlands, namentlich in Polen, alle erdenklichen Absichten an¬<lb/> gedichtet worden sind. Deutschland wird seine Grenzen zu schützen wissen, jenseits<lb/> dieser Grenzen hat es durchaus nichts zu suchen. Wer da glaubt oder glauben<lb/> macheu mochte, daß der Kaiser oder der Reichskanzler das Bedürfnis hätte, die<lb/> Zahl unsrer polnischen Staatsangehörigen auch nur um einen einzigen zu vermehren,<lb/> ist doch sehr auf dem Holzwege. Das ist schon 1863 Kaiser Alexander dem Zweiten<lb/> gegenüber, der uns mit Anerbietungen entgegenkam, endgiltig abgelehnt worden. Gegen<lb/> die nationale Bewegung in Russisch-Polen kann Deutschland zunächst um so weniger<lb/> Stellung nehmen, als diese offenbar in russischen Regierungskreisen wenn auch nicht<lb/> Sympathien, so doch eine gewisse Duldung erfährt, «und als noch gar nicht ab¬<lb/> zusehen ist, wie sich das liberale und konstitutionelle Rußland später dazu stellen<lb/> wird. Ob die Bereitwilligkeit, den Polen sogar ini russische» Verfassungsstaat<lb/> eine Ausnahmestellung einzuräumen, später tatsächlich in dem Maße vorhanden sein<lb/> Wird, wie es heute hier und da deu Anschein hat, das wird wesentlich von der<lb/> Zusammensetzung der künftigen Volksvertretung abhängen und von der Energie, die<lb/> das liberal konstitutionelle Rußland später noch haben wird, den großen Völkerkreis<lb/> zusammenzuhalten. Das bloße Vorhandensein nationalpolnischer Bestrebungen auf<lb/> den Straßen von Warschau berechtigt Deutschland zu keinem Eingreifen, am aller¬<lb/> wenigsten, solange diese von der russischen Regierung selbst geduldet werden. Wir<lb/> werden uns sorgfältig hüten, die-Finger außerhalb unsers Herdes in den polnischen<lb/> Topf zu stecken, und werden zu dem eisernen Deckel, der das Überkochen verhindern<lb/> soll, nur für uns selbst greifen.</p><lb/> <p xml:id="ID_2072" next="#ID_2073"> Entbehrt somit das Märchen oder die Befürchtung jeder Grundlage, daß<lb/> Deutschland durch die großen internationalen Vorgänge der letzten Jahre „über¬<lb/> rascht" worden sei, so wird auch die andre von der Unzulänglichkeit unsers diplo¬<lb/> matischen Personals keiner Berichtigung bedürfen. Zugegeben kann werden, daß die<lb/> Auswahl der für Botschafterposten geeigneten Persönlichkeiten nicht sehr groß ist.<lb/> Auch zur Bismarckischen Zeit war nicht alles Gold, was diplomatisch als solches zu<lb/> gelten schien. Aber immerhin war die Periode vom Krimkriege bis zum Jahre 1870<lb/> geeigneter gewesen, tüchtige Diplomaten auszubilden als das Menschenalter, das<lb/> seit 1870 verflossen ist. Wir wollen jedoch nicht vergessen, daß wir gerade in<lb/> Madrid durch Herrn von Radowitz vertreten sind, der schon zur Bismarckischeu</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0346]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
von den Zeitgenossen noch lebt, wird sich vielleicht mit Bedauern der vielen schiefen
Urteile erinnern, die heute in unsrer öffentlichen Meinung und bei deren Vertretung
in der Presse im Schwange sind.
Deutschland ist rechtzeitig in der Lage gewesen, den englisch-französischen Ver¬
handlungen über Ägypten und Marokko zu folgen, und je mehr die beiden Mächte
durch ihre Reserve Deutschland gegenüber zu erkennen gaben, dnß sie den Grad
ihrer Intimität vor uns zu verbergen wünschten, um so weniger konnte — durch
eine Menge von Anzeichen aus allen Hauptstädten belehrt — die deutsche Politik
im Zweifel darüber sein, daß die englisch-französische Annäherung auf ihrer ägyptisch-
marokkanischen Grundlage ein gemeinsames Einschwenken beider Länder gegen Deutsch¬
land bedeute, daß Deutschland sich vorzusehen habe und selbst den Zeitpunkt be¬
zeichnen müsse, bis zu dem es dem Ansteigen der neuen Flut ruhig zusehen wolle
oder könne. Das Weitere ist dann aus der Entwicklung der marokkanischen Sache
im Laufe dieses Jahres den Lesern noch hingänglich frisch im Gedächtnis, und die
bevorstehende Reichstagssession wird ja Wohl Veranlassung bieten, der Nation weitere
Aufklärungen zu geben, sie aber auch darüber vor allem nicht im Zweifel zu lassen,
daß die kriegerische Wendung, die im Frühsommer 1905 noch einmal mit Erfolg
beschworen werden konnte, in verhältnismäßig kurzer Zeit wieder eintreten kann,
da ihre Gründe gewissermaßen chronisch sind. Es ist also Sache des deutschen
Volkes, in seiner Bereitschaft zu Lande, zu Wasser und in seinen Finanzen keinem
Feinde eine Öffnung zu bieten.
Es hat nicht ausbleiben können, daß der deutschen Politik auch gegenüber der
innern Situation Rußlands, namentlich in Polen, alle erdenklichen Absichten an¬
gedichtet worden sind. Deutschland wird seine Grenzen zu schützen wissen, jenseits
dieser Grenzen hat es durchaus nichts zu suchen. Wer da glaubt oder glauben
macheu mochte, daß der Kaiser oder der Reichskanzler das Bedürfnis hätte, die
Zahl unsrer polnischen Staatsangehörigen auch nur um einen einzigen zu vermehren,
ist doch sehr auf dem Holzwege. Das ist schon 1863 Kaiser Alexander dem Zweiten
gegenüber, der uns mit Anerbietungen entgegenkam, endgiltig abgelehnt worden. Gegen
die nationale Bewegung in Russisch-Polen kann Deutschland zunächst um so weniger
Stellung nehmen, als diese offenbar in russischen Regierungskreisen wenn auch nicht
Sympathien, so doch eine gewisse Duldung erfährt, «und als noch gar nicht ab¬
zusehen ist, wie sich das liberale und konstitutionelle Rußland später dazu stellen
wird. Ob die Bereitwilligkeit, den Polen sogar ini russische» Verfassungsstaat
eine Ausnahmestellung einzuräumen, später tatsächlich in dem Maße vorhanden sein
Wird, wie es heute hier und da deu Anschein hat, das wird wesentlich von der
Zusammensetzung der künftigen Volksvertretung abhängen und von der Energie, die
das liberal konstitutionelle Rußland später noch haben wird, den großen Völkerkreis
zusammenzuhalten. Das bloße Vorhandensein nationalpolnischer Bestrebungen auf
den Straßen von Warschau berechtigt Deutschland zu keinem Eingreifen, am aller¬
wenigsten, solange diese von der russischen Regierung selbst geduldet werden. Wir
werden uns sorgfältig hüten, die-Finger außerhalb unsers Herdes in den polnischen
Topf zu stecken, und werden zu dem eisernen Deckel, der das Überkochen verhindern
soll, nur für uns selbst greifen.
Entbehrt somit das Märchen oder die Befürchtung jeder Grundlage, daß
Deutschland durch die großen internationalen Vorgänge der letzten Jahre „über¬
rascht" worden sei, so wird auch die andre von der Unzulänglichkeit unsers diplo¬
matischen Personals keiner Berichtigung bedürfen. Zugegeben kann werden, daß die
Auswahl der für Botschafterposten geeigneten Persönlichkeiten nicht sehr groß ist.
Auch zur Bismarckischen Zeit war nicht alles Gold, was diplomatisch als solches zu
gelten schien. Aber immerhin war die Periode vom Krimkriege bis zum Jahre 1870
geeigneter gewesen, tüchtige Diplomaten auszubilden als das Menschenalter, das
seit 1870 verflossen ist. Wir wollen jedoch nicht vergessen, daß wir gerade in
Madrid durch Herrn von Radowitz vertreten sind, der schon zur Bismarckischeu
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