Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.L. Andersen sie auf dem Wollrad spannen, und da erfaßte ihn die Angst wieder so, daß er Seine "historische Zeit" war das farbenreiche, romantische Blatt aus dem Aber er bewahrte auch freundlichere, lichtere Erinnerungen. Wenn die Er kam zu einer "Lernmutter" in die Schule, war in seiner freien Zeit Einen kleinen Guckkasten hatte er auch, dessen Bilder alle aus einem alten Der Vater, der ja immer für Napoleon und für Kriegstaten geschwärmt Grenzboten IV 1905 4
L. Andersen sie auf dem Wollrad spannen, und da erfaßte ihn die Angst wieder so, daß er Seine „historische Zeit" war das farbenreiche, romantische Blatt aus dem Aber er bewahrte auch freundlichere, lichtere Erinnerungen. Wenn die Er kam zu einer „Lernmutter" in die Schule, war in seiner freien Zeit Einen kleinen Guckkasten hatte er auch, dessen Bilder alle aus einem alten Der Vater, der ja immer für Napoleon und für Kriegstaten geschwärmt Grenzboten IV 1905 4
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L. Andersen
sie auf dem Wollrad spannen, und da erfaßte ihn die Angst wieder so, daß er
nichts essen konnte, denn es war ihm, als sei er über die Schwelle des Schlosses
aus den Räubergeschichte« getreten — des Odenseer Zuchthauses ^, und den
Eindruck hiervon vergaß er nie: das und die Angst, seiner Halbschwester, der
Erstgebornen seiner Mutter zu begegnen, trägt den ganzen Roman 0.
Seine „historische Zeit" war das farbenreiche, romantische Blatt aus dem
Buche der Chronik, das „Als die Spanier hier waren" hieß. Seine Wissen¬
schaft davon schöpfte er wohl hauptsächlich aus den spätem Erzählungen der
andern, aber ein paar Erinnerungen aus jener Zeit waren doch von ihm selbst
erlebt. Ein spanischer Soldat nahm ihn eines Tages auf den Arm und drückte
ein silbernes Kruzifix, das er auf der entblößten Brust trug, an seine Lippen;
einen andern Tag sah er einen Spanier, der einen Franzosen ermordet hatte,
zur Richtstatt führen, und in der Erinnerung hieran schrieb er viele Jahre
später sein kleines Gedicht „Der Soldat," das erste, was von ihm ins Deutsche
übersetzt worden ist.
Aber er bewahrte auch freundlichere, lichtere Erinnerungen. Wenn die
Handwerkerinnungen mit ihrem Schild umzogen, und wenn Se. Knuts Markt
war, dann hatte er seine großen Tage. Er war mit der Mutter draußen auf
dem Felde, um Ähren zu sammeln, „auf Boas reichem Acker," er erhielt seinen
ersten Eindruck von der Herrlichkeit des Landes, wenn er zur Zeit der Hopfen¬
ernte Sagen und Märchen hörte, die er getreulich bewahrte, und in der Spinn¬
stube lauschte er den Liedern der alten Frauen, kramte vor ihnen seine Weisheit
aus und wurde als ungewöhnlich kluges Kind bewundert, das sicher nicht lange
leben konnte.
Er kam zu einer „Lernmutter" in die Schule, war in seiner freien Zeit
fast immer sich selbst überlassen, saß auf dem Hof bei dessen einzigem
Stachelbeerbusch, „der so gut war wieviele," und nähte Puppen, Puppen aus
Lumpen, für sein kleines Theater. Und die Puppen wurden für ihn lebende
Wesen, die sich bewegten und redeten — er verstand früh die Kunst, dem Leb¬
losen Sprache zu verleihen. Das Theater war für ihn, wie für so manches
Kind, der Inbegriff aller Herrlichkeit der Welt; nnr ganz selten konnte er selbst
einmal dahin kommen, aber er bekam die Theaterzettel, und aus denen dichtete
er sich die Stücke zurecht und spielte sie auf seiner eignen Bühne.
Einen kleinen Guckkasten hatte er auch, dessen Bilder alle aus einem alten
Buch ausgeschnitten waren; jedes Bild stellte ein gotisches Gebäude dar, ein
Kloster oder eine Kirche, und davor standen künstlich ausgehauene Spring¬
brunnen. Auf jedem Bilde las er den darunterstehenden Namen, und der war
auf ihnen allen Augsburg. Er bekam Reisesehnsucht, Augsburg wurde ihm das
Symbol der großen, weiten Welt; er litt, wie der Vater, an Sehnsucht in die
Ferne und bewegte sich in seinen Träumen beständig in der romantischen,
lockenden Stadt, aber wie stark auch seine Kinderphantasie war, konnte er es
doch eigentlich nie erreichen, das zu sehen, „was hinter der Straßenecke war,"
das sah er erst viele Jahre später.
Der Vater, der ja immer für Napoleon und für Kriegstaten geschwärmt
hatte, ließ sich anwerben, war eine Zeit lang weg, kam aber ohne Heldentaten
Grenzboten IV 1905 4
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