Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.Historisch - dramatisches Figurenkal'matt möglichst viel unanfechtbares, weil durch Urkunden oder glaubwürdige Zeugen¬ Am drittelt Tage nach ihrem siegreichen Eindringen in Orleans weckt sie Religiöse Begeisterung, arglose Hingabe an übernatürliche Einflüsse und Historisch - dramatisches Figurenkal'matt möglichst viel unanfechtbares, weil durch Urkunden oder glaubwürdige Zeugen¬ Am drittelt Tage nach ihrem siegreichen Eindringen in Orleans weckt sie Religiöse Begeisterung, arglose Hingabe an übernatürliche Einflüsse und <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0272" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/296283"/> <fw type="header" place="top"> Historisch - dramatisches Figurenkal'matt</fw><lb/> <p xml:id="ID_1588" prev="#ID_1587"> möglichst viel unanfechtbares, weil durch Urkunden oder glaubwürdige Zeugen¬<lb/> aussagen bestätigtes Material zusammenzutragen zur Erklärung des tatsächlichen,<lb/> unbestreitbaren Wunders, daß wo alles verzagte, sich ein einfaches Landmädchen<lb/> mit Erfolg als Retterin der Krone und des Landes aufwerfen konnte. In<lb/> erster Reihe gehört hierher, was wir aus dem Munde glaubwürdiger Zeugen<lb/> von der Persönlichkeit der Heldin, ihrem Charakter und ihrem Auftreten wissen.<lb/> Sie ist vielleicht in Schillers Tragödie ein wenig zu sentimental weiblich, zu<lb/> schäferhaft idyllisch geraten. Dein? sie war bei all ihrer Frömmigkeit und un¬<lb/> beschadet eiuer von keiner Seite angezweifelten völligen Reinheit der Gesinnung<lb/> und des Wandels ein Mädchen, das Haare auf den Zähnen nud an einem<lb/> fideler Spaße seine Freude hatte.</p><lb/> <p xml:id="ID_1589"> Am drittelt Tage nach ihrem siegreichen Eindringen in Orleans weckt sie<lb/> der Gedanke aus dem Schlafe, daß sie sich noch nicht schlüssig geworden ist,<lb/> ob sie nun zuerst die von den Engländern noch besetzt gehaltnen Werke an¬<lb/> greifen, oder ob sie ciusziehn soll, um einen gemeldeten, für den Feind be¬<lb/> stimmten Proviantzug aufzuheben. Während d'Anton, ihr Stallmeister, ihr die<lb/> Rüstung anlegt, hört sie Geschrei auf der Straße. Eine französische Abteilung,<lb/> heißt es, weiche am Tore zurück. Auf der Straße — sie ist spornstreichs<lb/> hinuntergeeilt — kommt ihr einer ihrer Pagen, Louis de Cortes, entgegen,<lb/> den sie mit den Worten empfängt: Verflixter Junge, und du meldest es mir<lb/> nicht, daß französisches Blut fließt! Schnell, hole mein Pferd! Das Wng'Iaut<lb/> g'itrhvn, mit dem sie den Schuldigen anredet, entspricht dem bloocky hoy, das<lb/> einem englischen Sergeanten bei so einer und — fürchte ich — auch bei minder<lb/> wichtiger Gelegenheit in den Mund gekommen sein würde, lind doch ist weib¬<lb/> liches, vaterlandsliebendes Gefühl so stark in ihrem Busen, daß sie am Bur¬<lb/> gunder Tor, wohin sie, so schnell sie ihr Gaul tragen kann, sprengt, tief er¬<lb/> schüttert wird durch den Anblick eines verwundeten Laudsmmmes: Französisches<lb/> Blut, sagt sie, kann ich nicht fließen sehen, ohne daß mir dabei die Haare zu<lb/> Berge stehlt. Spaßhafter ist eine im dritten Bande von Quicherats 1'roeös<lb/> enthaltene Zeugenaussage. Die Jungfrau wollte am 7. Juli 1429, also am<lb/> Vorabend des Tages, wo dann schließlich die Engländer die Belagerung von<lb/> Orleans aufgaben, eben aufbrechen, um auf eins der von den Engländern noch<lb/> gehaltnen Werke Sturm laufen zu lassen, als ihr Quartierwirt sie bat, noch<lb/> zu verweilen, um eine für sie angeschaffte prächtige Alose zu verzehren. Heben<lb/> Sie den Fisch bis heute Abend auf, sagte sie, da bringe ich einen Engländer<lb/> mit, der dann auch heilt Teil davon haben kann. !sie meinte, einen Gefangnen<lb/> werde sie heimbringen, un Zockon, wie sie sich im Scherze ausdrückte. Das ist<lb/> derselbe Spitzname — rin Aoäclain —, mit dem noch heutigentags der in<lb/> Boulogne-sur-Mer oder Calais lautende Engländer von dem versammelten<lb/> Schiffer- und Fischervolk sowie von den als gelegentliche Gepäckträger heruni-<lb/> schwürinenden go8SLL begrüßt wird.</p><lb/> <p xml:id="ID_1590" next="#ID_1591"> Religiöse Begeisterung, arglose Hingabe an übernatürliche Einflüsse und<lb/> mystische Verehrung des Königtums von Gottes Gnaden machen es, neben<lb/> der heißen Vaterlandsliebe, von der die Jungfrau beseelt war, verständlich, daß<lb/> sie sich vom Himmel zu einer Sendung ausersehen glaubte, die ihrem Stande<lb/> fern lag. daß sie diese in frommer Unterwürfigkeit übernahm und sie — soweit<lb/> sie es selbst mit größter Bestimmtheit vorausgesagt hatte — in erstaunlich<lb/> furchtloser Weise auch wirklich ausführte. Robert von Baudrieourt, der Schloß-<lb/> hauptmann von Vaucouleurs, dem Schiller im nennten Auftritt des ersten<lb/> Auszugs die Führung der nach „Ravuls" Bericht bei Vcrmenton siegreichen<lb/> sechzehn lothringischen Fähnlein in freier Erfindung zuschreibt, spielt mit zwei<lb/> seiner Mannen, Johann von Nonillompont und Bertram von Poulcmgis, bei<lb/> dem von der Jungfrau durch eine sehr unsichre Gegend nach dem königlichen<lb/> Hoflager in Chiron unternommncu kühnen Ritt und bei den ihm voraus-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0272]
Historisch - dramatisches Figurenkal'matt
möglichst viel unanfechtbares, weil durch Urkunden oder glaubwürdige Zeugen¬
aussagen bestätigtes Material zusammenzutragen zur Erklärung des tatsächlichen,
unbestreitbaren Wunders, daß wo alles verzagte, sich ein einfaches Landmädchen
mit Erfolg als Retterin der Krone und des Landes aufwerfen konnte. In
erster Reihe gehört hierher, was wir aus dem Munde glaubwürdiger Zeugen
von der Persönlichkeit der Heldin, ihrem Charakter und ihrem Auftreten wissen.
Sie ist vielleicht in Schillers Tragödie ein wenig zu sentimental weiblich, zu
schäferhaft idyllisch geraten. Dein? sie war bei all ihrer Frömmigkeit und un¬
beschadet eiuer von keiner Seite angezweifelten völligen Reinheit der Gesinnung
und des Wandels ein Mädchen, das Haare auf den Zähnen nud an einem
fideler Spaße seine Freude hatte.
Am drittelt Tage nach ihrem siegreichen Eindringen in Orleans weckt sie
der Gedanke aus dem Schlafe, daß sie sich noch nicht schlüssig geworden ist,
ob sie nun zuerst die von den Engländern noch besetzt gehaltnen Werke an¬
greifen, oder ob sie ciusziehn soll, um einen gemeldeten, für den Feind be¬
stimmten Proviantzug aufzuheben. Während d'Anton, ihr Stallmeister, ihr die
Rüstung anlegt, hört sie Geschrei auf der Straße. Eine französische Abteilung,
heißt es, weiche am Tore zurück. Auf der Straße — sie ist spornstreichs
hinuntergeeilt — kommt ihr einer ihrer Pagen, Louis de Cortes, entgegen,
den sie mit den Worten empfängt: Verflixter Junge, und du meldest es mir
nicht, daß französisches Blut fließt! Schnell, hole mein Pferd! Das Wng'Iaut
g'itrhvn, mit dem sie den Schuldigen anredet, entspricht dem bloocky hoy, das
einem englischen Sergeanten bei so einer und — fürchte ich — auch bei minder
wichtiger Gelegenheit in den Mund gekommen sein würde, lind doch ist weib¬
liches, vaterlandsliebendes Gefühl so stark in ihrem Busen, daß sie am Bur¬
gunder Tor, wohin sie, so schnell sie ihr Gaul tragen kann, sprengt, tief er¬
schüttert wird durch den Anblick eines verwundeten Laudsmmmes: Französisches
Blut, sagt sie, kann ich nicht fließen sehen, ohne daß mir dabei die Haare zu
Berge stehlt. Spaßhafter ist eine im dritten Bande von Quicherats 1'roeös
enthaltene Zeugenaussage. Die Jungfrau wollte am 7. Juli 1429, also am
Vorabend des Tages, wo dann schließlich die Engländer die Belagerung von
Orleans aufgaben, eben aufbrechen, um auf eins der von den Engländern noch
gehaltnen Werke Sturm laufen zu lassen, als ihr Quartierwirt sie bat, noch
zu verweilen, um eine für sie angeschaffte prächtige Alose zu verzehren. Heben
Sie den Fisch bis heute Abend auf, sagte sie, da bringe ich einen Engländer
mit, der dann auch heilt Teil davon haben kann. !sie meinte, einen Gefangnen
werde sie heimbringen, un Zockon, wie sie sich im Scherze ausdrückte. Das ist
derselbe Spitzname — rin Aoäclain —, mit dem noch heutigentags der in
Boulogne-sur-Mer oder Calais lautende Engländer von dem versammelten
Schiffer- und Fischervolk sowie von den als gelegentliche Gepäckträger heruni-
schwürinenden go8SLL begrüßt wird.
Religiöse Begeisterung, arglose Hingabe an übernatürliche Einflüsse und
mystische Verehrung des Königtums von Gottes Gnaden machen es, neben
der heißen Vaterlandsliebe, von der die Jungfrau beseelt war, verständlich, daß
sie sich vom Himmel zu einer Sendung ausersehen glaubte, die ihrem Stande
fern lag. daß sie diese in frommer Unterwürfigkeit übernahm und sie — soweit
sie es selbst mit größter Bestimmtheit vorausgesagt hatte — in erstaunlich
furchtloser Weise auch wirklich ausführte. Robert von Baudrieourt, der Schloß-
hauptmann von Vaucouleurs, dem Schiller im nennten Auftritt des ersten
Auszugs die Führung der nach „Ravuls" Bericht bei Vcrmenton siegreichen
sechzehn lothringischen Fähnlein in freier Erfindung zuschreibt, spielt mit zwei
seiner Mannen, Johann von Nonillompont und Bertram von Poulcmgis, bei
dem von der Jungfrau durch eine sehr unsichre Gegend nach dem königlichen
Hoflager in Chiron unternommncu kühnen Ritt und bei den ihm voraus-
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |