Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.Rußlands neuster Bahnbau in Jentralasien Rußland arbeitet schon seit geraumer Zeit daran, von der transkaukasischen Grenzboten IV 1905 2
Rußlands neuster Bahnbau in Jentralasien Rußland arbeitet schon seit geraumer Zeit daran, von der transkaukasischen Grenzboten IV 1905 2
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0017" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/296028"/> <fw type="header" place="top"> Rußlands neuster Bahnbau in Jentralasien</fw><lb/> <p xml:id="ID_30" next="#ID_31"> Rußland arbeitet schon seit geraumer Zeit daran, von der transkaukasischen<lb/> Bahn aus mit Zweigbahnen ins armenische Hochland vorzudringen, von dem<lb/> es im letzten Kriege mit der Türkei wieder ein Stück gewonnen hat. Von<lb/> Tiflis ging es aus und erreichte über Karaklissa die 1548 Meter hoch liegende<lb/> Feste Alexandropol. Dort gabelt sich die Bahn; ein Strang, bis jetzt Sack¬<lb/> gasse, geht westwärts nach der starken, ja uneinnehmbaren Festung Kars. Ein<lb/> andrer geht südwärts nach dem ebenfalls stark befestigten Eriwcm. Beide<lb/> Bahnen sind seit einigen Jahren im Betriebe. Etwa sechzig Kilometer süd¬<lb/> wärts rückt der Große Ararat, das orologische Zentrum Hocharmeniens, sein<lb/> stolzes Schneehaupt empor; in territorialer Beziehung ist er noch im Besitz<lb/> der Türkei. Aber ganz nahe, nur vierzig Kilometer von Eriwan entfernt, ist<lb/> der Punkt, wo die türkische, die persische und die russische Grenze zusammen¬<lb/> stoßen. Er liegt am Flusse Aras, dem Araxes der Alten. Dieser ostwärts<lb/> strömende und sich mit dem Kur vereinigende Fluß bildet auf vierhundert<lb/> Kilometer die Grenze zwischen Rußland und Persien. An seinem nördlichen,<lb/> russischen Ufer entlang hat Rußland nun sein letztes Eisenbahnunternehmer<lb/> geschaffen. Die Linie Eriwcm-Djulfa ist nur etwa hundertundsiebzig Kilometer<lb/> lang, aber doch ein bedeutungsvolles Unternehmen. Der Bau beweist, daß<lb/> Rußland seinen alten Plan, auch von dieser Seite her nach Persien einzu¬<lb/> dringen, ausführen will. Und auch hier wird sich an seine Schienenstränge<lb/> die Hebung der Zivilisation knüpfen. Die Geißel Armeniens ist der uralte<lb/> und unausrottbare Haß zwischen den christlichen Armeniern und den moham¬<lb/> medanischen Kurden. Ju ethnographischer Beziehung ist kein großer Unter¬<lb/> schied zwischen ihnen, wenigstens nicht, wenn man die Armenier auf Grund<lb/> ihrer Sprache als Indogermanen ansieht, nicht auf Grund ihres Gesichtstypus<lb/> als Semiten. Die Kurden, die schon im Altertum der Landschaft Korduene<lb/> ihren Namen gegeben haben, sind sicher ein indogermanisches Volk; sie bilden<lb/> den Übergang zwischen Armeniern und Persern. Ihre Volkszahl schätzt man<lb/> auf zweieinviertel Millionen, wovon ein Drittel auf persischem, der Rest auf<lb/> türkischem Boden wohnt. Sie sind jedoch noch keineswegs durchweg zu festen<lb/> Wohnsitzen gelangt, vielmehr führen sie größtenteils noch ein nomadenhaftes<lb/> Dasein. An den seßhaften Armeniern lassen sie ihre räuberischen Begierden<lb/> und zugleich ihren religiösen Haß aus. Alle paar Jahre regen sie Europas<lb/> Entsetzen auf, wenn die Nachricht kommt, daß sie ganze armenische Dörfer in<lb/> Flammen haben aufgehn lassen und die Bevölkerung ausgerottet haben. Sie<lb/> hindern die Entfaltung jeglicher auf längere Jahre ausschauenden wirtschaftlichen<lb/> Unternehmung, denn die Armenier sagen: Was nützt es uns, wenn wir fleißig<lb/> und sparsam sind; sobald wir zu einigem Besitz kommen, nimmt ihn gewiß<lb/> der Pascha oder ein Kurdenhaufe. Rußland hat allmählich einen ansehnlichen<lb/> Teil des armenischen Volkes unter sein Zepter gebracht; dieses wohnt zu<lb/> seinem Unheil nirgends geschlossen, sondern zerstreut in allen Landschaften<lb/> zwischen dem Kaspischen Meer, Konstantinopel und Beirut. Die in Rußland<lb/> wohnenden Armenier haben in den letzten Jahren viele Zeichen von Unzufrieden¬<lb/> heit gegeben, sodaß ein Aufstand befürchtet wurde, und die russische Regierung<lb/> glaubte, ihnen durch Beschlagnahme aller Kirchengüter die Mittel zu ihrem</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV 1905 2</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0017]
Rußlands neuster Bahnbau in Jentralasien
Rußland arbeitet schon seit geraumer Zeit daran, von der transkaukasischen
Bahn aus mit Zweigbahnen ins armenische Hochland vorzudringen, von dem
es im letzten Kriege mit der Türkei wieder ein Stück gewonnen hat. Von
Tiflis ging es aus und erreichte über Karaklissa die 1548 Meter hoch liegende
Feste Alexandropol. Dort gabelt sich die Bahn; ein Strang, bis jetzt Sack¬
gasse, geht westwärts nach der starken, ja uneinnehmbaren Festung Kars. Ein
andrer geht südwärts nach dem ebenfalls stark befestigten Eriwcm. Beide
Bahnen sind seit einigen Jahren im Betriebe. Etwa sechzig Kilometer süd¬
wärts rückt der Große Ararat, das orologische Zentrum Hocharmeniens, sein
stolzes Schneehaupt empor; in territorialer Beziehung ist er noch im Besitz
der Türkei. Aber ganz nahe, nur vierzig Kilometer von Eriwan entfernt, ist
der Punkt, wo die türkische, die persische und die russische Grenze zusammen¬
stoßen. Er liegt am Flusse Aras, dem Araxes der Alten. Dieser ostwärts
strömende und sich mit dem Kur vereinigende Fluß bildet auf vierhundert
Kilometer die Grenze zwischen Rußland und Persien. An seinem nördlichen,
russischen Ufer entlang hat Rußland nun sein letztes Eisenbahnunternehmer
geschaffen. Die Linie Eriwcm-Djulfa ist nur etwa hundertundsiebzig Kilometer
lang, aber doch ein bedeutungsvolles Unternehmen. Der Bau beweist, daß
Rußland seinen alten Plan, auch von dieser Seite her nach Persien einzu¬
dringen, ausführen will. Und auch hier wird sich an seine Schienenstränge
die Hebung der Zivilisation knüpfen. Die Geißel Armeniens ist der uralte
und unausrottbare Haß zwischen den christlichen Armeniern und den moham¬
medanischen Kurden. Ju ethnographischer Beziehung ist kein großer Unter¬
schied zwischen ihnen, wenigstens nicht, wenn man die Armenier auf Grund
ihrer Sprache als Indogermanen ansieht, nicht auf Grund ihres Gesichtstypus
als Semiten. Die Kurden, die schon im Altertum der Landschaft Korduene
ihren Namen gegeben haben, sind sicher ein indogermanisches Volk; sie bilden
den Übergang zwischen Armeniern und Persern. Ihre Volkszahl schätzt man
auf zweieinviertel Millionen, wovon ein Drittel auf persischem, der Rest auf
türkischem Boden wohnt. Sie sind jedoch noch keineswegs durchweg zu festen
Wohnsitzen gelangt, vielmehr führen sie größtenteils noch ein nomadenhaftes
Dasein. An den seßhaften Armeniern lassen sie ihre räuberischen Begierden
und zugleich ihren religiösen Haß aus. Alle paar Jahre regen sie Europas
Entsetzen auf, wenn die Nachricht kommt, daß sie ganze armenische Dörfer in
Flammen haben aufgehn lassen und die Bevölkerung ausgerottet haben. Sie
hindern die Entfaltung jeglicher auf längere Jahre ausschauenden wirtschaftlichen
Unternehmung, denn die Armenier sagen: Was nützt es uns, wenn wir fleißig
und sparsam sind; sobald wir zu einigem Besitz kommen, nimmt ihn gewiß
der Pascha oder ein Kurdenhaufe. Rußland hat allmählich einen ansehnlichen
Teil des armenischen Volkes unter sein Zepter gebracht; dieses wohnt zu
seinem Unheil nirgends geschlossen, sondern zerstreut in allen Landschaften
zwischen dem Kaspischen Meer, Konstantinopel und Beirut. Die in Rußland
wohnenden Armenier haben in den letzten Jahren viele Zeichen von Unzufrieden¬
heit gegeben, sodaß ein Aufstand befürchtet wurde, und die russische Regierung
glaubte, ihnen durch Beschlagnahme aller Kirchengüter die Mittel zu ihrem
Grenzboten IV 1905 2
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