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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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Rußlands neuster Bahnbau in Zentralasien

Afghanistans, von Herat. Früher glaubte man, das zwischen beiden liegende
Paropamisusgebirge mache jede Annäherung an Herat unmöglich; längst weiß
man, daß dies ein Irrtum ist, und daß Herat trotz seiner günstigen Lage nur
wenig geschützt ist. Herat ist von Kabul aus viel schwerer zu erreichen als
von Kuscht aus, und nicht mit Unrecht sagt man, daß im Fall eiuer Ver¬
wicklung viel eher die Kosaken in Herat sein werden als die Truppen des
Emirs von Afghanistan. Ja man behauptet, daß in Kuschk das ganze Material
für die Erbauung einer Eisenbahn nach Herat fertig liege, sodaß im Fall eines
Krieges das ganze westliche Afghanistan schnell im Bereich russischer Verkehrs¬
strategie liegen werde. Darüber mag man nun heute nach so manchen Proben
russischer Uuexaktheit anders denken.

Diese eine Verbindung mit Turkestan genügte der russischen Regierung
nicht. Es schien geboten, noch eine zweite zu schaffen, um dadurch Turkestan
noch weit schneller in etwaige kriegerische Dispositionen einzuschließen: die
Bahn Orenburg-Taschkend. Die damit verfolgten Zwecke erhellen deutlich aus
einer Auslassung des Nußki Invalid, des amtlichen Organs der russischen
Militärverwaltung, nach dem Bau der neuen Eisenbahn Orenburg-Taschkend:
"Zur Aufrechterhaltung seines Einflusses und zum Schutz unsrer Besitzungen
in Mittelasien sowie zur Parallelisierung gewisser für uns ungünstiger Er¬
scheinungen auf dem Gebiet der internationalen Politik ist Rußland gezwungen,
in dem Generalgouvernement Turkestan eine bedeutende Waffenmacht zu halten.
Bei der jetzigen Entwicklung der Wehrkraft aller Staaten ist es schwierig, mit
den Truppen Turkestans trotz ihren vorzüglichen kriegerischen Eigenschaften
darauf zu rechnen, entscheidende Erfolge zu erringen, sodaß sie nur als ein
vorgeschobnes Detachement zu betrachten sind, das die Vereinigung der Haupt¬
macht zu stützen hat. Wegen der weiten Entfernung unsrer mittelasiatischen
Besitzungen von dem Mittelpunkt Rußlands hat die rechtzeitige Entsendung
von Verstärkungen dorthin eine sehr wichtige Bedeutung. Wird von diesem
Standpunkt aus die Bedeutung der Orenburg-Taschkenter Eisenbahn bezweckt, so
müssen wir zu dem Schluß kommen, daß nunmehr unsre Aufgaben in Mittel¬
asien so erleichtert werden, daß wir vollständig ruhig in die Zukunft sehen
können. Zu jeder Jahreszeit können mit der Orenburg-Taschkenter Eisenbahn
starke Truppenmassen in das Herz Asiens schnell geschafft werden, wenn das
nach dem Gange der politischen Ereignisse nötig sein sollte. Das sind die
großen Vorzüge, die uns die Orenburg-Taschkeuter Eisenbahn gibt. Wir hoffen,
daß die Umstände uns nicht zwingen, die obigen Erwägungen zur Tat werden
zu lassen."

Also die russische Negierung entschloß sich, noch auf einem ganz andern
Wege an Turkestan heranzukommen. Das Eisenbahnnetz des europäischen
Rußlands, das seinen nordöstlichen Endpunkt in Tscheljabinsk, östlich vom
Uralgebirge fand, hatte seinen südöstlichen Endpunkt in Orenburg, am Ural¬
fluß südlich von dem Uralgebirge. Von hier aus sollte eine neue Bahn in
südöstlicher Richtung vorgeschoben werden; sie sollte den Aralsee rechts, süd¬
westlich, liegen lassen und dann am rechten Ufer des Syr-Darja entlang gehn
bis Taschkend, wo die transkaspische Eisenbahn erreicht wird. Von Taschkend


Rußlands neuster Bahnbau in Zentralasien

Afghanistans, von Herat. Früher glaubte man, das zwischen beiden liegende
Paropamisusgebirge mache jede Annäherung an Herat unmöglich; längst weiß
man, daß dies ein Irrtum ist, und daß Herat trotz seiner günstigen Lage nur
wenig geschützt ist. Herat ist von Kabul aus viel schwerer zu erreichen als
von Kuscht aus, und nicht mit Unrecht sagt man, daß im Fall eiuer Ver¬
wicklung viel eher die Kosaken in Herat sein werden als die Truppen des
Emirs von Afghanistan. Ja man behauptet, daß in Kuschk das ganze Material
für die Erbauung einer Eisenbahn nach Herat fertig liege, sodaß im Fall eines
Krieges das ganze westliche Afghanistan schnell im Bereich russischer Verkehrs¬
strategie liegen werde. Darüber mag man nun heute nach so manchen Proben
russischer Uuexaktheit anders denken.

Diese eine Verbindung mit Turkestan genügte der russischen Regierung
nicht. Es schien geboten, noch eine zweite zu schaffen, um dadurch Turkestan
noch weit schneller in etwaige kriegerische Dispositionen einzuschließen: die
Bahn Orenburg-Taschkend. Die damit verfolgten Zwecke erhellen deutlich aus
einer Auslassung des Nußki Invalid, des amtlichen Organs der russischen
Militärverwaltung, nach dem Bau der neuen Eisenbahn Orenburg-Taschkend:
„Zur Aufrechterhaltung seines Einflusses und zum Schutz unsrer Besitzungen
in Mittelasien sowie zur Parallelisierung gewisser für uns ungünstiger Er¬
scheinungen auf dem Gebiet der internationalen Politik ist Rußland gezwungen,
in dem Generalgouvernement Turkestan eine bedeutende Waffenmacht zu halten.
Bei der jetzigen Entwicklung der Wehrkraft aller Staaten ist es schwierig, mit
den Truppen Turkestans trotz ihren vorzüglichen kriegerischen Eigenschaften
darauf zu rechnen, entscheidende Erfolge zu erringen, sodaß sie nur als ein
vorgeschobnes Detachement zu betrachten sind, das die Vereinigung der Haupt¬
macht zu stützen hat. Wegen der weiten Entfernung unsrer mittelasiatischen
Besitzungen von dem Mittelpunkt Rußlands hat die rechtzeitige Entsendung
von Verstärkungen dorthin eine sehr wichtige Bedeutung. Wird von diesem
Standpunkt aus die Bedeutung der Orenburg-Taschkenter Eisenbahn bezweckt, so
müssen wir zu dem Schluß kommen, daß nunmehr unsre Aufgaben in Mittel¬
asien so erleichtert werden, daß wir vollständig ruhig in die Zukunft sehen
können. Zu jeder Jahreszeit können mit der Orenburg-Taschkenter Eisenbahn
starke Truppenmassen in das Herz Asiens schnell geschafft werden, wenn das
nach dem Gange der politischen Ereignisse nötig sein sollte. Das sind die
großen Vorzüge, die uns die Orenburg-Taschkeuter Eisenbahn gibt. Wir hoffen,
daß die Umstände uns nicht zwingen, die obigen Erwägungen zur Tat werden
zu lassen."

Also die russische Negierung entschloß sich, noch auf einem ganz andern
Wege an Turkestan heranzukommen. Das Eisenbahnnetz des europäischen
Rußlands, das seinen nordöstlichen Endpunkt in Tscheljabinsk, östlich vom
Uralgebirge fand, hatte seinen südöstlichen Endpunkt in Orenburg, am Ural¬
fluß südlich von dem Uralgebirge. Von hier aus sollte eine neue Bahn in
südöstlicher Richtung vorgeschoben werden; sie sollte den Aralsee rechts, süd¬
westlich, liegen lassen und dann am rechten Ufer des Syr-Darja entlang gehn
bis Taschkend, wo die transkaspische Eisenbahn erreicht wird. Von Taschkend


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/12>, abgerufen am 15.01.2025.