Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches sehr schweren Kriege auf der Seite der Gegner Englands gestanden. Kein Wunder, Mit wem sollen wir denn eigentlich gehn? In dem Maße, wie England Herr Müller sieht darin "rückschrittliche Tendenzen." In Paris und in London Maßgebliches und Unmaßgebliches sehr schweren Kriege auf der Seite der Gegner Englands gestanden. Kein Wunder, Mit wem sollen wir denn eigentlich gehn? In dem Maße, wie England Herr Müller sieht darin „rückschrittliche Tendenzen." In Paris und in London <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0117" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/296128"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_743" prev="#ID_742"> sehr schweren Kriege auf der Seite der Gegner Englands gestanden. Kein Wunder,<lb/> wenn sich in den durch das Anwachsen der überseeischen Bedeutung Deutschlands<lb/> ohnehin verstimmten Engländern die Antipathien inzwischen verdichtet haben. Es<lb/> ist dies nicht bei der ganzen Nation in demselben Maße der Fall. Deutschland<lb/> hat im Gegenteil noch sehr viel Freunde in England, die für eine Politik der Allianz<lb/> gegen Deutschland im Stil Deleassts nicht zu haben wären. Aber eine starke Mi߬<lb/> stimmung ist vorhanden, die dem wachsenden Deutschland gilt, und es wäre<lb/> politisch wie militärisch ein Fehler, nicht mit ihr zu rechnen. Herr Müller meint<lb/> nun: „Das Mißtrauen, das gegenwärtig gegen uns in der ganzen Welt — mit<lb/> Ausnahme von Kosnkien (!) — leider besteht, beruht mit auf dem Mangel an Stütze<lb/> im Parlament, erscheint zu sehr als der Ausfluß eines wechselnden autokratischen<lb/> Systems." Während Herr Müller auf der einen Seite behauptet, daß in England<lb/> die Presse gegen uns hetzt, wirft er der deutschen Politik die Annäherung an „Kosakien"<lb/> vor, wie er „Nußland" in den parteitäglichen Jargon übersetzt, wohl in der An¬<lb/> nahme, durch Beleidigung und Verspottung Rußlands uns dort Freunde zu er¬<lb/> werbe»! Und dabei donnert Herr Müller in einem Atemzuge gegen die „Isolierung,"<lb/> in der wir uns „durch die zünftige Diplomatie" angeblich befinden. Wahrlich,<lb/> ciiMeiis v8ti 8at^rum non scridors!</p><lb/> <p xml:id="ID_744"> Mit wem sollen wir denn eigentlich gehn? In dem Maße, wie England<lb/> sich abgeneigt zeigt, werden wir uus ganz selbstverständlich Rußland zuwenden.<lb/> Die erprobten Traditionen unsrer Politik weisen uns darauf hin, Rußland im<lb/> Unglück nicht im Stich zu lassen. Das ist mit vollster Loyalität geschehn, und<lb/> als die Stunde gekommen war, wo mit Aussicht auf Erfolg am Frieden gearbeitet<lb/> werden konnte, hat Kaiser Wilhelm seinen ganzen persönlichen Einfluß und den<lb/> Einfluß der deutsche» Politik zugunsten dieses Friedens eingesetzt. Dadurch sind<lb/> wir mit Rußland so fest verbunden, daß weder Rußlands Freundschaft zu Frankreich<lb/> noch eine Abmachung mit England, zu der dieses mit allen Mitteln drängt, an<lb/> den deutsch-russischen Beziehungen etwas zu ändern vermag. Auch Herr Müller-<lb/> Meiningen nicht.</p><lb/> <p xml:id="ID_745" next="#ID_746"> Herr Müller sieht darin „rückschrittliche Tendenzen." In Paris und in London<lb/> wird man davon gern Vormerk nehmen. Es ist genan die alte Geschichte wie<lb/> 1863. nichts gelernt und nichts vergessen, wo die diplomatischen Vertreter Eng¬<lb/> lands und Frankreichs Bismarck morgens dieselben Reden hielten, die er wenig<lb/> Stunden später fast wörtlich von der fortschrittlichen Seite im Abgeordnetenhause zu<lb/> hören bekam! Auch damals hat die Politik der „Stütze im Parlament" entbehren<lb/> müssen und ist doch die richtige, sehr bald von Freund und Feind respektierte ge¬<lb/> wesen. Auswärtige Politik laßt sich mit Parlamenten, deren Mitglieder darin<lb/> keine Erfahrung haben und von den Dingen meist so wenig verstehn wie der Blinde<lb/> von der Farbe, überhaupt nicht machen. Das ist schou in frühern Zeiten nicht aus¬<lb/> führbar gewesen, im Zeitalter der weitestgehenden Öffentlichkeit, des Telegraphens und<lb/> des Telephons, das die wichtigsten Entscheidungen in den kürzesten Fristen verlangt,<lb/> erst recht nicht. Wenn Herr Müller sagt: „Der Zug unsrer Politik geht nach<lb/> Osten zurück, während die Kultur und Aufklärung, die Sympathien für Volker und<lb/> deren Einrichtungen uns nach Westen führen." so ist das nichts weiter als eine<lb/> schönrednerische Phrase. Bismarck würde vielleicht wieder an den Rand schreiben:<lb/> Die reine Phrasengießkanne! Politik wird nicht - wir wiederholen es — nach<lb/> Sympathien, sondern nach Interessen gemacht, ausschließlich und allem nach Inter¬<lb/> esse«. Haß und Liebe. Sympathie und Antipathie werden immer hinter die<lb/> Interessen zurücktreten. Hätte England nicht so gewichtige Interessen n seinem<lb/> Handel und seiner Schiffahrt mit Deutschland — würde der Krieg welleicht längst<lb/> entbrannt sein. Was ihn verhindert, sind nicht Sympathien oder Phrasen, sondern<lb/> die Zahlen der wirtschaftlichen Bilanz. Auch ist es nicht richtig, daß unsre Politik<lb/> nach Osten „zurückgeht." während Kultur und Aufklärung nach Westen drängen.<lb/> Gerade der ferne Osten ist der Brennpunkt aller großen internationalen Interessen<lb/> geworden. Und was „die Einrichtungen" der „westlichen Völker," also der Eng-</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0117]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
sehr schweren Kriege auf der Seite der Gegner Englands gestanden. Kein Wunder,
wenn sich in den durch das Anwachsen der überseeischen Bedeutung Deutschlands
ohnehin verstimmten Engländern die Antipathien inzwischen verdichtet haben. Es
ist dies nicht bei der ganzen Nation in demselben Maße der Fall. Deutschland
hat im Gegenteil noch sehr viel Freunde in England, die für eine Politik der Allianz
gegen Deutschland im Stil Deleassts nicht zu haben wären. Aber eine starke Mi߬
stimmung ist vorhanden, die dem wachsenden Deutschland gilt, und es wäre
politisch wie militärisch ein Fehler, nicht mit ihr zu rechnen. Herr Müller meint
nun: „Das Mißtrauen, das gegenwärtig gegen uns in der ganzen Welt — mit
Ausnahme von Kosnkien (!) — leider besteht, beruht mit auf dem Mangel an Stütze
im Parlament, erscheint zu sehr als der Ausfluß eines wechselnden autokratischen
Systems." Während Herr Müller auf der einen Seite behauptet, daß in England
die Presse gegen uns hetzt, wirft er der deutschen Politik die Annäherung an „Kosakien"
vor, wie er „Nußland" in den parteitäglichen Jargon übersetzt, wohl in der An¬
nahme, durch Beleidigung und Verspottung Rußlands uns dort Freunde zu er¬
werbe»! Und dabei donnert Herr Müller in einem Atemzuge gegen die „Isolierung,"
in der wir uns „durch die zünftige Diplomatie" angeblich befinden. Wahrlich,
ciiMeiis v8ti 8at^rum non scridors!
Mit wem sollen wir denn eigentlich gehn? In dem Maße, wie England
sich abgeneigt zeigt, werden wir uus ganz selbstverständlich Rußland zuwenden.
Die erprobten Traditionen unsrer Politik weisen uns darauf hin, Rußland im
Unglück nicht im Stich zu lassen. Das ist mit vollster Loyalität geschehn, und
als die Stunde gekommen war, wo mit Aussicht auf Erfolg am Frieden gearbeitet
werden konnte, hat Kaiser Wilhelm seinen ganzen persönlichen Einfluß und den
Einfluß der deutsche» Politik zugunsten dieses Friedens eingesetzt. Dadurch sind
wir mit Rußland so fest verbunden, daß weder Rußlands Freundschaft zu Frankreich
noch eine Abmachung mit England, zu der dieses mit allen Mitteln drängt, an
den deutsch-russischen Beziehungen etwas zu ändern vermag. Auch Herr Müller-
Meiningen nicht.
Herr Müller sieht darin „rückschrittliche Tendenzen." In Paris und in London
wird man davon gern Vormerk nehmen. Es ist genan die alte Geschichte wie
1863. nichts gelernt und nichts vergessen, wo die diplomatischen Vertreter Eng¬
lands und Frankreichs Bismarck morgens dieselben Reden hielten, die er wenig
Stunden später fast wörtlich von der fortschrittlichen Seite im Abgeordnetenhause zu
hören bekam! Auch damals hat die Politik der „Stütze im Parlament" entbehren
müssen und ist doch die richtige, sehr bald von Freund und Feind respektierte ge¬
wesen. Auswärtige Politik laßt sich mit Parlamenten, deren Mitglieder darin
keine Erfahrung haben und von den Dingen meist so wenig verstehn wie der Blinde
von der Farbe, überhaupt nicht machen. Das ist schou in frühern Zeiten nicht aus¬
führbar gewesen, im Zeitalter der weitestgehenden Öffentlichkeit, des Telegraphens und
des Telephons, das die wichtigsten Entscheidungen in den kürzesten Fristen verlangt,
erst recht nicht. Wenn Herr Müller sagt: „Der Zug unsrer Politik geht nach
Osten zurück, während die Kultur und Aufklärung, die Sympathien für Volker und
deren Einrichtungen uns nach Westen führen." so ist das nichts weiter als eine
schönrednerische Phrase. Bismarck würde vielleicht wieder an den Rand schreiben:
Die reine Phrasengießkanne! Politik wird nicht - wir wiederholen es — nach
Sympathien, sondern nach Interessen gemacht, ausschließlich und allem nach Inter¬
esse«. Haß und Liebe. Sympathie und Antipathie werden immer hinter die
Interessen zurücktreten. Hätte England nicht so gewichtige Interessen n seinem
Handel und seiner Schiffahrt mit Deutschland — würde der Krieg welleicht längst
entbrannt sein. Was ihn verhindert, sind nicht Sympathien oder Phrasen, sondern
die Zahlen der wirtschaftlichen Bilanz. Auch ist es nicht richtig, daß unsre Politik
nach Osten „zurückgeht." während Kultur und Aufklärung nach Westen drängen.
Gerade der ferne Osten ist der Brennpunkt aller großen internationalen Interessen
geworden. Und was „die Einrichtungen" der „westlichen Völker," also der Eng-
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