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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

lauter und der Franzosen anlangt, so wollen wir zugeben, daß diese beiden Nationen
uns allerdings überlegen scheinen gegenüber der Rückständigkeit, in die wir durch
unser "Einkammersystem," zusammen mit dem allgemeinen Stimmrecht, gelangt sind.
Dieses System erweist sich von Jahr zu Jahr mehr als ein Hemmnis jedes wahrhaft
nationalen Aufschwungs, indem es dem einzelnen Abgeordneten einen Anteil an
der nationalen Souveränität zuweist, der weit größer ist, als in irgendeinem andern
Kulturstaate, größer als er ihn mit seiner Verantwortlichkeit zu decken vermag. In
der Reichsfinanzfrage sind wir damit schon auf den toten Strang gekommen, die
teuern Lehren von Südwestafrika wären uns ohne diese politische Rückständigkeit
ebenfalls erspart geblieben. Wir haben nicht mehr viele Erfahrungen zu machen,
bis wir vor die Frage gelaugen, was wichtiger und was notwendiger ist: ob
Deutschland -- oder sein heutiges parlamentarisches System.

Und das "bißchen Marokko," um auch die Frankfurter Zeitung beim Wort
zu nehmen? War die Situation nicht so, daß Deutschland systematisch und unter
bedrohenden Konstellationen von der Beratung über die Zukunft eines Landes aus¬
geschlossen werden sollte, wo es vertragsmäßig verbürgte Rechte hatte? Hätte sich
Deutschland diese erste Ohrfeige geben lassen, die zweite wäre bald darauf noch
schallender gewesen. Nicht das "bißchen Marokko," sondern unsre Ehre und Würde,
unsre internationale Achtung und Geltung standen auf dem Spiel. Da hieß es,
zufassen. Deshalb ging Kaiser Wilhelm ohne Rücksicht auf persönliche Gefahr nach
Tanger; sein Erscheinen dort gab dem Sultan die Selbständigkeit zurück und be¬
kundete vor der Welt, daß Deutschland nicht gewillt sei, sich und seine Rechte ohne
weiteres beiseite schieben zu lassen. Das Resultat liegt heute vor. Deutschland hat
den Franzosen den marokkanischen Bissen wieder aus dem Halse gezogen und hat die
Entscheidung über Marokkos Zukunft unter Vereinbarung mit Frankreich von einer
europäischen Konferenz abhängig gemacht. Wahrlich, wir haben alle Ursache, mit
diesem friedlichen Ergebnis recht zufrieden zu sein, und man muß sich wundern,
daß Herr Müller-Meiningen einem Erfolge, der doch gerade in der Richtung der
von ihm empfohlnen Politik liegt, die Anerkennung versagt. Im Gegenteil, er
schmäht die "zünftige Diplomatie." Eine andre als die "zünftige Diplomatie"
hätte da überhaupt nichts zustande gebracht, eine Diplomatie im Stile des Herrn
Müller-Meiningen würde direkt in den Konflikt geführt haben, schon aus dem ein¬
fachen Grunde, weil ihr die Personen- und Sachkenntnis und jene richtige Einschätzung
des Augenblicks gefehlt hätte, die nur auf dem Wege langer Erfahrung gewonnen
werden kann.

Wir schrieben im Eingang, die Frankfurter Zeitung habe Herrn Müller ein
Piedestal errichtet. Zufällig fällt unser Blick auf deu "Sockel" der betreffenden
Seite, das Feuilleton, das die Erlebnisse eines Augenzeugen des großen Frankfurter
Kehraus vom Juli 1866 schildert, übrigens voller Anerkennung für die preußische
Armee geschrieben. Darüber erhebt sich die Rede des Herrn Abgeordneten Müller
mit ihrer geringschätzigen Beurteilung der zünftigen Diplomatie, die des Vertrauens
des Volkes so unwürdig ist. eine Ablagerungsstätte des Feudalismus, ohne Fühlung
mit dem Volke. Das "Volk" ist selbstverständlich Herr Müller. Wer war es denn
anders als die viel geschmähte "zünftige Diplomatie," die damals ohne jede "Stütze
im Parlament" durch Dornen und Gestrüpp die Wege zur Einheit und damit zu
eiuer politischen Freiheit brach, die uns fast über den Kopf gewachsen ist, zugleich
zu einer wirtschaftlichen Befreiung, die uns längst die Bewunderung und den Neid
der andern eingetragen hat! Wir glauben, daß Deutschlands Vorgehn in der marok¬
kanischen Sache dieser großen Tradition nicht nnwert gewesen ist! Und mehr noch!
Unsre Unterhändler haben dabei Gelegenheit gehabt und genommen, mit den Franzosen
einmal den Kelch bis auf den Boden zu leeren, und da hat sich denn auch noch
manche andre Anknüpfung für eine fernere Zukunft gefunden, die es in Frankreich
einer kommenden Generation erleichtern mag, unter 1870 den Strich zu ziehn, den
Frankfurt seit langem unter 1866 gezogen hat -- dank der zünftigen Diplomatie.




Maßgebliches und Unmaßgebliches

lauter und der Franzosen anlangt, so wollen wir zugeben, daß diese beiden Nationen
uns allerdings überlegen scheinen gegenüber der Rückständigkeit, in die wir durch
unser „Einkammersystem," zusammen mit dem allgemeinen Stimmrecht, gelangt sind.
Dieses System erweist sich von Jahr zu Jahr mehr als ein Hemmnis jedes wahrhaft
nationalen Aufschwungs, indem es dem einzelnen Abgeordneten einen Anteil an
der nationalen Souveränität zuweist, der weit größer ist, als in irgendeinem andern
Kulturstaate, größer als er ihn mit seiner Verantwortlichkeit zu decken vermag. In
der Reichsfinanzfrage sind wir damit schon auf den toten Strang gekommen, die
teuern Lehren von Südwestafrika wären uns ohne diese politische Rückständigkeit
ebenfalls erspart geblieben. Wir haben nicht mehr viele Erfahrungen zu machen,
bis wir vor die Frage gelaugen, was wichtiger und was notwendiger ist: ob
Deutschland — oder sein heutiges parlamentarisches System.

Und das „bißchen Marokko," um auch die Frankfurter Zeitung beim Wort
zu nehmen? War die Situation nicht so, daß Deutschland systematisch und unter
bedrohenden Konstellationen von der Beratung über die Zukunft eines Landes aus¬
geschlossen werden sollte, wo es vertragsmäßig verbürgte Rechte hatte? Hätte sich
Deutschland diese erste Ohrfeige geben lassen, die zweite wäre bald darauf noch
schallender gewesen. Nicht das „bißchen Marokko," sondern unsre Ehre und Würde,
unsre internationale Achtung und Geltung standen auf dem Spiel. Da hieß es,
zufassen. Deshalb ging Kaiser Wilhelm ohne Rücksicht auf persönliche Gefahr nach
Tanger; sein Erscheinen dort gab dem Sultan die Selbständigkeit zurück und be¬
kundete vor der Welt, daß Deutschland nicht gewillt sei, sich und seine Rechte ohne
weiteres beiseite schieben zu lassen. Das Resultat liegt heute vor. Deutschland hat
den Franzosen den marokkanischen Bissen wieder aus dem Halse gezogen und hat die
Entscheidung über Marokkos Zukunft unter Vereinbarung mit Frankreich von einer
europäischen Konferenz abhängig gemacht. Wahrlich, wir haben alle Ursache, mit
diesem friedlichen Ergebnis recht zufrieden zu sein, und man muß sich wundern,
daß Herr Müller-Meiningen einem Erfolge, der doch gerade in der Richtung der
von ihm empfohlnen Politik liegt, die Anerkennung versagt. Im Gegenteil, er
schmäht die „zünftige Diplomatie." Eine andre als die „zünftige Diplomatie"
hätte da überhaupt nichts zustande gebracht, eine Diplomatie im Stile des Herrn
Müller-Meiningen würde direkt in den Konflikt geführt haben, schon aus dem ein¬
fachen Grunde, weil ihr die Personen- und Sachkenntnis und jene richtige Einschätzung
des Augenblicks gefehlt hätte, die nur auf dem Wege langer Erfahrung gewonnen
werden kann.

Wir schrieben im Eingang, die Frankfurter Zeitung habe Herrn Müller ein
Piedestal errichtet. Zufällig fällt unser Blick auf deu „Sockel" der betreffenden
Seite, das Feuilleton, das die Erlebnisse eines Augenzeugen des großen Frankfurter
Kehraus vom Juli 1866 schildert, übrigens voller Anerkennung für die preußische
Armee geschrieben. Darüber erhebt sich die Rede des Herrn Abgeordneten Müller
mit ihrer geringschätzigen Beurteilung der zünftigen Diplomatie, die des Vertrauens
des Volkes so unwürdig ist. eine Ablagerungsstätte des Feudalismus, ohne Fühlung
mit dem Volke. Das „Volk" ist selbstverständlich Herr Müller. Wer war es denn
anders als die viel geschmähte „zünftige Diplomatie," die damals ohne jede „Stütze
im Parlament" durch Dornen und Gestrüpp die Wege zur Einheit und damit zu
eiuer politischen Freiheit brach, die uns fast über den Kopf gewachsen ist, zugleich
zu einer wirtschaftlichen Befreiung, die uns längst die Bewunderung und den Neid
der andern eingetragen hat! Wir glauben, daß Deutschlands Vorgehn in der marok¬
kanischen Sache dieser großen Tradition nicht nnwert gewesen ist! Und mehr noch!
Unsre Unterhändler haben dabei Gelegenheit gehabt und genommen, mit den Franzosen
einmal den Kelch bis auf den Boden zu leeren, und da hat sich denn auch noch
manche andre Anknüpfung für eine fernere Zukunft gefunden, die es in Frankreich
einer kommenden Generation erleichtern mag, unter 1870 den Strich zu ziehn, den
Frankfurt seit langem unter 1866 gezogen hat — dank der zünftigen Diplomatie.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/118>, abgerufen am 15.01.2025.