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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Rulturbilder von den kleinasiatischen Inseln

nie einen frohen Tag erleben noch je die Freiheit und eine bessere Luft atmen."
Die Männer wüßten ganz gut, unter welcher Last sie seufzten, aber weder
Jung noch Alt wagten, dagegen zu mucksen, weil es so in ihrem eignen
Interesse liege, und wenn es anders würde, sie nur ihre Mägde verlieren
würden. Sie müßten wagen, vor ihre Männer hinzutreten und ihnen alles
sagen: sie wollten jetzt die Freiheit genießen. Da aber wird der erhitzten
Rednerin plötzlich bange, und sie bittet die Nachbarinnen, ihr ja keine
Scherereien zu machen, denn: "Ich habe einen Mann mit hoher, großer Nase,
der könnte mich sonst für verrückt erklären und mich uicht ins Haus lassen."
Sie müßten vielmehr einig vorgehn und alle die ersten sein, sobald sie eine
kleine Anhöhe vor sich sähen, um sie im Sturm zu nehmen und an das Ziel
ihrer Wünsche zu gelangen. Da dürfe nicht die eine rufen: "Die Anhöhe ist
zu hoch," die andre: "O weh, o weh, ich bleib lieber zuhause," sonst ginge
es ihnen wie den gefangnen Vögeln, die man an den Beinen packe, sondern
alle müßten sich auf einmal wie die zusammengeharkten Oliven zu einem Haufen
vereinigen und aus einem Munde protestieren gegen die Sklaverei der Männer,
die eine Schande sei:

Es ist aber, trotzdem daß dieses Lied schon ziemlich alt sein soll, in der
Lage der Frauen keine Änderung eingetreten: sie müssen nach wie vor Feld¬
arbeit verrichten. Als ich in die im Innern gelegne "Altstadt" von Kalymnos
kam, fand ich fast mir alte Frauen in den Häusern, die die Kinder ihrer ab¬
wesenden Töchter warteten. In einem bot sich mir ein merkwürdiges Bild:
auf dem Boden, dicht an der Tür, saß ein uraltes Weib und zog unaufhör¬
lich an einem langen Strick, wie wenn man eine Glocke zieht; nur war eine
solche weder zu sehen noch zu hören. In dem herrschenden Halbdunkel er¬
kannte ich aber hoch oben an der Decke einen hin und her schwingenden Gegen¬
stand. Plötzlich hörte ich das Schreien eines Kindes von oben herab: es
war eine Wiege, die an der Decke hing und auf die geschilderte Weise von
der Alten in Bewegung gehalten wurde!

Überhaupt darf man keine europäischen Zustünde auf diesen Inseln erwarten,
was aus den ersten Blick befremdend erscheint; denn der fortschrittliche Geist
der Bewohner und ihre fast autonome Stellung sprechen eher dafür als da¬
gegen. Was aber hier wie überall im freien Griechenland alles soziale Ge¬
deihen vereitelt, und trotz allem ehrgeizigen Streben nach Fortschritt keine
greifbaren Ergebnisse eines solchen erkennen läßt, das ist der Atavismus
der Masse und der Atomismus der Gebildeten: die Masse kann nicht indi¬
vidualisiert, der einzelne Gebildete nicht sozialisiert werden, ein Mißverhältnis,
um dem offenbar alle Europüisierungsversuche des christlichen Orients zunichte
werden müssen. Das Schlimmste dabei ist das zweite Übel, der falsche Indi¬
vidualismus und in Verbindung damit das auflösende und zersetzende Partei-


Rulturbilder von den kleinasiatischen Inseln

nie einen frohen Tag erleben noch je die Freiheit und eine bessere Luft atmen."
Die Männer wüßten ganz gut, unter welcher Last sie seufzten, aber weder
Jung noch Alt wagten, dagegen zu mucksen, weil es so in ihrem eignen
Interesse liege, und wenn es anders würde, sie nur ihre Mägde verlieren
würden. Sie müßten wagen, vor ihre Männer hinzutreten und ihnen alles
sagen: sie wollten jetzt die Freiheit genießen. Da aber wird der erhitzten
Rednerin plötzlich bange, und sie bittet die Nachbarinnen, ihr ja keine
Scherereien zu machen, denn: „Ich habe einen Mann mit hoher, großer Nase,
der könnte mich sonst für verrückt erklären und mich uicht ins Haus lassen."
Sie müßten vielmehr einig vorgehn und alle die ersten sein, sobald sie eine
kleine Anhöhe vor sich sähen, um sie im Sturm zu nehmen und an das Ziel
ihrer Wünsche zu gelangen. Da dürfe nicht die eine rufen: „Die Anhöhe ist
zu hoch," die andre: „O weh, o weh, ich bleib lieber zuhause," sonst ginge
es ihnen wie den gefangnen Vögeln, die man an den Beinen packe, sondern
alle müßten sich auf einmal wie die zusammengeharkten Oliven zu einem Haufen
vereinigen und aus einem Munde protestieren gegen die Sklaverei der Männer,
die eine Schande sei:

Es ist aber, trotzdem daß dieses Lied schon ziemlich alt sein soll, in der
Lage der Frauen keine Änderung eingetreten: sie müssen nach wie vor Feld¬
arbeit verrichten. Als ich in die im Innern gelegne „Altstadt" von Kalymnos
kam, fand ich fast mir alte Frauen in den Häusern, die die Kinder ihrer ab¬
wesenden Töchter warteten. In einem bot sich mir ein merkwürdiges Bild:
auf dem Boden, dicht an der Tür, saß ein uraltes Weib und zog unaufhör¬
lich an einem langen Strick, wie wenn man eine Glocke zieht; nur war eine
solche weder zu sehen noch zu hören. In dem herrschenden Halbdunkel er¬
kannte ich aber hoch oben an der Decke einen hin und her schwingenden Gegen¬
stand. Plötzlich hörte ich das Schreien eines Kindes von oben herab: es
war eine Wiege, die an der Decke hing und auf die geschilderte Weise von
der Alten in Bewegung gehalten wurde!

Überhaupt darf man keine europäischen Zustünde auf diesen Inseln erwarten,
was aus den ersten Blick befremdend erscheint; denn der fortschrittliche Geist
der Bewohner und ihre fast autonome Stellung sprechen eher dafür als da¬
gegen. Was aber hier wie überall im freien Griechenland alles soziale Ge¬
deihen vereitelt, und trotz allem ehrgeizigen Streben nach Fortschritt keine
greifbaren Ergebnisse eines solchen erkennen läßt, das ist der Atavismus
der Masse und der Atomismus der Gebildeten: die Masse kann nicht indi¬
vidualisiert, der einzelne Gebildete nicht sozialisiert werden, ein Mißverhältnis,
um dem offenbar alle Europüisierungsversuche des christlichen Orients zunichte
werden müssen. Das Schlimmste dabei ist das zweite Übel, der falsche Indi¬
vidualismus und in Verbindung damit das auflösende und zersetzende Partei-


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[0039] Rulturbilder von den kleinasiatischen Inseln nie einen frohen Tag erleben noch je die Freiheit und eine bessere Luft atmen." Die Männer wüßten ganz gut, unter welcher Last sie seufzten, aber weder Jung noch Alt wagten, dagegen zu mucksen, weil es so in ihrem eignen Interesse liege, und wenn es anders würde, sie nur ihre Mägde verlieren würden. Sie müßten wagen, vor ihre Männer hinzutreten und ihnen alles sagen: sie wollten jetzt die Freiheit genießen. Da aber wird der erhitzten Rednerin plötzlich bange, und sie bittet die Nachbarinnen, ihr ja keine Scherereien zu machen, denn: „Ich habe einen Mann mit hoher, großer Nase, der könnte mich sonst für verrückt erklären und mich uicht ins Haus lassen." Sie müßten vielmehr einig vorgehn und alle die ersten sein, sobald sie eine kleine Anhöhe vor sich sähen, um sie im Sturm zu nehmen und an das Ziel ihrer Wünsche zu gelangen. Da dürfe nicht die eine rufen: „Die Anhöhe ist zu hoch," die andre: „O weh, o weh, ich bleib lieber zuhause," sonst ginge es ihnen wie den gefangnen Vögeln, die man an den Beinen packe, sondern alle müßten sich auf einmal wie die zusammengeharkten Oliven zu einem Haufen vereinigen und aus einem Munde protestieren gegen die Sklaverei der Männer, die eine Schande sei: Es ist aber, trotzdem daß dieses Lied schon ziemlich alt sein soll, in der Lage der Frauen keine Änderung eingetreten: sie müssen nach wie vor Feld¬ arbeit verrichten. Als ich in die im Innern gelegne „Altstadt" von Kalymnos kam, fand ich fast mir alte Frauen in den Häusern, die die Kinder ihrer ab¬ wesenden Töchter warteten. In einem bot sich mir ein merkwürdiges Bild: auf dem Boden, dicht an der Tür, saß ein uraltes Weib und zog unaufhör¬ lich an einem langen Strick, wie wenn man eine Glocke zieht; nur war eine solche weder zu sehen noch zu hören. In dem herrschenden Halbdunkel er¬ kannte ich aber hoch oben an der Decke einen hin und her schwingenden Gegen¬ stand. Plötzlich hörte ich das Schreien eines Kindes von oben herab: es war eine Wiege, die an der Decke hing und auf die geschilderte Weise von der Alten in Bewegung gehalten wurde! Überhaupt darf man keine europäischen Zustünde auf diesen Inseln erwarten, was aus den ersten Blick befremdend erscheint; denn der fortschrittliche Geist der Bewohner und ihre fast autonome Stellung sprechen eher dafür als da¬ gegen. Was aber hier wie überall im freien Griechenland alles soziale Ge¬ deihen vereitelt, und trotz allem ehrgeizigen Streben nach Fortschritt keine greifbaren Ergebnisse eines solchen erkennen läßt, das ist der Atavismus der Masse und der Atomismus der Gebildeten: die Masse kann nicht indi¬ vidualisiert, der einzelne Gebildete nicht sozialisiert werden, ein Mißverhältnis, um dem offenbar alle Europüisierungsversuche des christlichen Orients zunichte werden müssen. Das Schlimmste dabei ist das zweite Übel, der falsche Indi¬ vidualismus und in Verbindung damit das auflösende und zersetzende Partei-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/39>, abgerufen am 23.07.2024.