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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Glücksiuselu und Träume

für den Augenblick um so tiefer einzuspinnen strebte. Es war eine höchst un¬
billige, ja eine unkluge Teilung meines Innern: das Beste an die Ferne, den
trüben Rest an die Nähe. In diesem Alter ist das Gefühl der Pflicht schwach
entwickelt, sonst hätte diese sich einer solchen Teilung widersetzen müssen. Aber
so kam es, daß ich alles tiefe Fühlen und alles Mitdenken und Miterleben
und Seelenanteil der Heimat vorbehielt, mit allem mechanischen Tun, aller Hand¬
werksmäßigkeit, allem Auswendiggelernten meine nächste Umgebung abspeiste. Die
ganze Liebe ins Erinnern, sodaß für das Tun des Tages nichts mehr übrig blieb:
das war die kurzsichtige und selbstzerstörende Losung, die der Gegenwart gleich¬
sam das Blut entzog, um es einem Schatten zu opfern, der dadurch doch kein
Gegenwartsleben gewinnen konnte. Welche Torheit, dieses Auswandern der Seele,
die mit Schatten in der Ferne lebt, während sich die Gegenwart entseelt, blutleer,
eutschlußarm hinschleppt. Es ist eigentlich ein Spielen mit dem Besten des Lebens.
"

Das "Wer nie sein Brot mit Tränen aß ergreift mich, wenn ich es lese
oder höre, heute wie am ersten Tag und wird nie seine Wirkung verlieren. Doch
meine ich, wenn ein Dichter das Elendgefühl gesungen hätte, das uns vor dem
Tageslicht bangen, das uns den Morgen verwünschen und die Nacht segnen macht,
das uns darum das Verlassen des Lagers wie ein Hinaustreten aus warmer
schützender Hütte in einen stürmenden Wald voll Widerwärtigkeiten und Gefahren
fürchten läßt, er würde aus der Tiefe von noch viel mehr Herzen heraus¬
gesprochen haben und von noch viel mehr verstanden worden sein. Dort hängen
die Kleider, siehe sie nicht an, du hast es aufgegeben, andern Menschen zu begegnen;
hier liegt die angefangne Arbeit, berühre diesen Sisyphusstein nicht, er wird zurück¬
rollen, wie du ihn auch bewegst; die Bücher schlage nicht auf, sie wollen dich deine
Lage vergessen machen, und du fühlst dich doch nur sicher, so lange sie dich umgibt;
vor allem aber trete nicht vor den Spiegel, der dich höhnend daran erinnert, daß
und wie du wirklich bist, und du möchtest doch alles vergessen, was dich angeht,
möchtest nicht wirklich und jedenfalls so nicht wirklich sein. Es gibt kein Heil als
das Bett, wo du dem Schicksal die kleinste Angriffsfläche bietest; es sind Augen¬
blicke, wo du dich uicht einmal zu strecken wagst; gekrümmt zu liegen, die Decke
über die Auge" gezogen, das gibt das letzte Gefühl von Sicherheit.


3

Eine alte Landapotheke war noch nach der Mitte des vergangnen Jahrhunderts
eine der altertümlichsten und barocksten Einrichtungen weit und breit. Viele von
den Herrschaftssitzen, deren es in unsrer Landschaft sehr viele gibt, waren im
Vergleich damit modern. An und für sich ist eine Apotheke ein buntes Wirrwarr
von Büchsen und Gläsern, Kisten und Flaschen, und der hundertfältige Inhalt zahl¬
loser Gefäße besteht bald aus uralten Pflanzen- oder Tierstoffen, nach denen kein
vernünftiger Mensch mehr fragt, bald aus den modernsten Präparaten, die tödliche
Eigenschaften hinter dem reinlichsten Vorhemd bergen. Die schwarzen Totenköpfe,
die auf viele von diesen Behältern gemalt sind, die Aufschriften Gift! und Vorsicht!
vermehren die Schauer, die in den Räumen der Apotheken walten. Nun war aber
damals eine Zeit, in die noch die obsoletesten Arzneimittel der Zeit der Goldmacher
und Wunderdoktoren hineinreichten. Man zeigte mir in einem alten irdnen Topfe
von der plumpsten Gestalt braune Erbstücke mit anhängenden Letnwandfetzen als
Numii,. vsra., und in einem lavendelgefüllten Glase steckte eine weißbäuchige Eidechse,
trocken wie Papier, Leiueus marinus; auch Hechtkiefer und Kellerasseln waren in
Gläsern aufgestellt. Mau zeigte mir lachend getrocknete Schlammhäufchen von der
Straße, die mit geschmolznen Schwefel dünn überstrichen waren, und nannte sie
Lulfnr cÄbAllinum, Roßschwefel; früher hatte diesen Namen eine unreine, billige
Schwefelsorte getragen, und da es jetzt nur reinen Schwefel zu kaufen gab, kam man
auf diese billige Art der fortdauernden Nachfrage nach unreinem Schwefel nach. Der
Schinder verkaufte uns das halbflüssige grauliche Hundefett, Abfall der Huudebraten,
die er sich schmecken ließ, und wir befriedigten damit den Wunsch der Bauern nach


Glücksiuselu und Träume

für den Augenblick um so tiefer einzuspinnen strebte. Es war eine höchst un¬
billige, ja eine unkluge Teilung meines Innern: das Beste an die Ferne, den
trüben Rest an die Nähe. In diesem Alter ist das Gefühl der Pflicht schwach
entwickelt, sonst hätte diese sich einer solchen Teilung widersetzen müssen. Aber
so kam es, daß ich alles tiefe Fühlen und alles Mitdenken und Miterleben
und Seelenanteil der Heimat vorbehielt, mit allem mechanischen Tun, aller Hand¬
werksmäßigkeit, allem Auswendiggelernten meine nächste Umgebung abspeiste. Die
ganze Liebe ins Erinnern, sodaß für das Tun des Tages nichts mehr übrig blieb:
das war die kurzsichtige und selbstzerstörende Losung, die der Gegenwart gleich¬
sam das Blut entzog, um es einem Schatten zu opfern, der dadurch doch kein
Gegenwartsleben gewinnen konnte. Welche Torheit, dieses Auswandern der Seele,
die mit Schatten in der Ferne lebt, während sich die Gegenwart entseelt, blutleer,
eutschlußarm hinschleppt. Es ist eigentlich ein Spielen mit dem Besten des Lebens.
"

Das „Wer nie sein Brot mit Tränen aß ergreift mich, wenn ich es lese
oder höre, heute wie am ersten Tag und wird nie seine Wirkung verlieren. Doch
meine ich, wenn ein Dichter das Elendgefühl gesungen hätte, das uns vor dem
Tageslicht bangen, das uns den Morgen verwünschen und die Nacht segnen macht,
das uns darum das Verlassen des Lagers wie ein Hinaustreten aus warmer
schützender Hütte in einen stürmenden Wald voll Widerwärtigkeiten und Gefahren
fürchten läßt, er würde aus der Tiefe von noch viel mehr Herzen heraus¬
gesprochen haben und von noch viel mehr verstanden worden sein. Dort hängen
die Kleider, siehe sie nicht an, du hast es aufgegeben, andern Menschen zu begegnen;
hier liegt die angefangne Arbeit, berühre diesen Sisyphusstein nicht, er wird zurück¬
rollen, wie du ihn auch bewegst; die Bücher schlage nicht auf, sie wollen dich deine
Lage vergessen machen, und du fühlst dich doch nur sicher, so lange sie dich umgibt;
vor allem aber trete nicht vor den Spiegel, der dich höhnend daran erinnert, daß
und wie du wirklich bist, und du möchtest doch alles vergessen, was dich angeht,
möchtest nicht wirklich und jedenfalls so nicht wirklich sein. Es gibt kein Heil als
das Bett, wo du dem Schicksal die kleinste Angriffsfläche bietest; es sind Augen¬
blicke, wo du dich uicht einmal zu strecken wagst; gekrümmt zu liegen, die Decke
über die Auge» gezogen, das gibt das letzte Gefühl von Sicherheit.


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Eine alte Landapotheke war noch nach der Mitte des vergangnen Jahrhunderts
eine der altertümlichsten und barocksten Einrichtungen weit und breit. Viele von
den Herrschaftssitzen, deren es in unsrer Landschaft sehr viele gibt, waren im
Vergleich damit modern. An und für sich ist eine Apotheke ein buntes Wirrwarr
von Büchsen und Gläsern, Kisten und Flaschen, und der hundertfältige Inhalt zahl¬
loser Gefäße besteht bald aus uralten Pflanzen- oder Tierstoffen, nach denen kein
vernünftiger Mensch mehr fragt, bald aus den modernsten Präparaten, die tödliche
Eigenschaften hinter dem reinlichsten Vorhemd bergen. Die schwarzen Totenköpfe,
die auf viele von diesen Behältern gemalt sind, die Aufschriften Gift! und Vorsicht!
vermehren die Schauer, die in den Räumen der Apotheken walten. Nun war aber
damals eine Zeit, in die noch die obsoletesten Arzneimittel der Zeit der Goldmacher
und Wunderdoktoren hineinreichten. Man zeigte mir in einem alten irdnen Topfe
von der plumpsten Gestalt braune Erbstücke mit anhängenden Letnwandfetzen als
Numii,. vsra., und in einem lavendelgefüllten Glase steckte eine weißbäuchige Eidechse,
trocken wie Papier, Leiueus marinus; auch Hechtkiefer und Kellerasseln waren in
Gläsern aufgestellt. Mau zeigte mir lachend getrocknete Schlammhäufchen von der
Straße, die mit geschmolznen Schwefel dünn überstrichen waren, und nannte sie
Lulfnr cÄbAllinum, Roßschwefel; früher hatte diesen Namen eine unreine, billige
Schwefelsorte getragen, und da es jetzt nur reinen Schwefel zu kaufen gab, kam man
auf diese billige Art der fortdauernden Nachfrage nach unreinem Schwefel nach. Der
Schinder verkaufte uns das halbflüssige grauliche Hundefett, Abfall der Huudebraten,
die er sich schmecken ließ, und wir befriedigten damit den Wunsch der Bauern nach


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[0164] Glücksiuselu und Träume für den Augenblick um so tiefer einzuspinnen strebte. Es war eine höchst un¬ billige, ja eine unkluge Teilung meines Innern: das Beste an die Ferne, den trüben Rest an die Nähe. In diesem Alter ist das Gefühl der Pflicht schwach entwickelt, sonst hätte diese sich einer solchen Teilung widersetzen müssen. Aber so kam es, daß ich alles tiefe Fühlen und alles Mitdenken und Miterleben und Seelenanteil der Heimat vorbehielt, mit allem mechanischen Tun, aller Hand¬ werksmäßigkeit, allem Auswendiggelernten meine nächste Umgebung abspeiste. Die ganze Liebe ins Erinnern, sodaß für das Tun des Tages nichts mehr übrig blieb: das war die kurzsichtige und selbstzerstörende Losung, die der Gegenwart gleich¬ sam das Blut entzog, um es einem Schatten zu opfern, der dadurch doch kein Gegenwartsleben gewinnen konnte. Welche Torheit, dieses Auswandern der Seele, die mit Schatten in der Ferne lebt, während sich die Gegenwart entseelt, blutleer, eutschlußarm hinschleppt. Es ist eigentlich ein Spielen mit dem Besten des Lebens. " Das „Wer nie sein Brot mit Tränen aß ergreift mich, wenn ich es lese oder höre, heute wie am ersten Tag und wird nie seine Wirkung verlieren. Doch meine ich, wenn ein Dichter das Elendgefühl gesungen hätte, das uns vor dem Tageslicht bangen, das uns den Morgen verwünschen und die Nacht segnen macht, das uns darum das Verlassen des Lagers wie ein Hinaustreten aus warmer schützender Hütte in einen stürmenden Wald voll Widerwärtigkeiten und Gefahren fürchten läßt, er würde aus der Tiefe von noch viel mehr Herzen heraus¬ gesprochen haben und von noch viel mehr verstanden worden sein. Dort hängen die Kleider, siehe sie nicht an, du hast es aufgegeben, andern Menschen zu begegnen; hier liegt die angefangne Arbeit, berühre diesen Sisyphusstein nicht, er wird zurück¬ rollen, wie du ihn auch bewegst; die Bücher schlage nicht auf, sie wollen dich deine Lage vergessen machen, und du fühlst dich doch nur sicher, so lange sie dich umgibt; vor allem aber trete nicht vor den Spiegel, der dich höhnend daran erinnert, daß und wie du wirklich bist, und du möchtest doch alles vergessen, was dich angeht, möchtest nicht wirklich und jedenfalls so nicht wirklich sein. Es gibt kein Heil als das Bett, wo du dem Schicksal die kleinste Angriffsfläche bietest; es sind Augen¬ blicke, wo du dich uicht einmal zu strecken wagst; gekrümmt zu liegen, die Decke über die Auge» gezogen, das gibt das letzte Gefühl von Sicherheit. 3 Eine alte Landapotheke war noch nach der Mitte des vergangnen Jahrhunderts eine der altertümlichsten und barocksten Einrichtungen weit und breit. Viele von den Herrschaftssitzen, deren es in unsrer Landschaft sehr viele gibt, waren im Vergleich damit modern. An und für sich ist eine Apotheke ein buntes Wirrwarr von Büchsen und Gläsern, Kisten und Flaschen, und der hundertfältige Inhalt zahl¬ loser Gefäße besteht bald aus uralten Pflanzen- oder Tierstoffen, nach denen kein vernünftiger Mensch mehr fragt, bald aus den modernsten Präparaten, die tödliche Eigenschaften hinter dem reinlichsten Vorhemd bergen. Die schwarzen Totenköpfe, die auf viele von diesen Behältern gemalt sind, die Aufschriften Gift! und Vorsicht! vermehren die Schauer, die in den Räumen der Apotheken walten. Nun war aber damals eine Zeit, in die noch die obsoletesten Arzneimittel der Zeit der Goldmacher und Wunderdoktoren hineinreichten. Man zeigte mir in einem alten irdnen Topfe von der plumpsten Gestalt braune Erbstücke mit anhängenden Letnwandfetzen als Numii,. vsra., und in einem lavendelgefüllten Glase steckte eine weißbäuchige Eidechse, trocken wie Papier, Leiueus marinus; auch Hechtkiefer und Kellerasseln waren in Gläsern aufgestellt. Mau zeigte mir lachend getrocknete Schlammhäufchen von der Straße, die mit geschmolznen Schwefel dünn überstrichen waren, und nannte sie Lulfnr cÄbAllinum, Roßschwefel; früher hatte diesen Namen eine unreine, billige Schwefelsorte getragen, und da es jetzt nur reinen Schwefel zu kaufen gab, kam man auf diese billige Art der fortdauernden Nachfrage nach unreinem Schwefel nach. Der Schinder verkaufte uns das halbflüssige grauliche Hundefett, Abfall der Huudebraten, die er sich schmecken ließ, und wir befriedigten damit den Wunsch der Bauern nach

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/164>, abgerufen am 01.07.2024.