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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Glücksinseln und Träume

Armesünderfett, Menschenfett, Affenfett, Katzenfell, Bärenfett. In staubigen Winkeln
standen Windofen und Retorten, in denen vielleicht einst der Stein der Weisen
geglüht oder die Muttertinktur aller Heilsäfte zum Lebenselexier digeriert, gekocht
und destilliert worden war. Täglich wurde gestoßen, gerieben, gehackt, geschnitten.
An einem der ersten Tage wurde Benzoesäure sublimiert: man erhitzte köstlich
riechendes Benzoeharz in einem eisernen Topfe, dem ein Hut aus Papier auf¬
geklebt war, in dessen Innern: nach dem Erkalten sich ein dichter Schnee von
seidenglnnzenden Kristallen angesetzt hatte. Manchmal wurde ein großer Windofen
ins Freie getragen, wo dann übelriechende Gase entwickelt oder Stoffe hergestellt
wurden, deren Bereitung mit Explosionsgefahr verbunden war. Dazwischen durch
wurden die Arzneien bereitet, wie die Rezepte der Ärzte verlangten, viele durch
Kochen; in einige kamen höchst kostbare Stoffe, in manche Gifte, bei deren Hand¬
habung und Abwägung die größte Vorsicht nötig war. An sonnigen Tagen wurden
große "Hürden" mit frischen Blattern. Blüten und Wurzeln, die trocknen sollten,
ins Freie getragen. Es war ein beständiges Regen und Tun. Und da dieses
alles ganz auf das Wohlsein der Menschen gerichtet war, hätte man glauben sollen,
es wäre ein höchst ideales begeisterndes Tun gewesen. O nein! Es'schwebte viel¬
mehr eine Mischung von Geschäftsmäßigkeit und Ironie darüber. Der Apotheker
hat das Gefühl, dem Arzt über die Schultern zu sehen, hat er sich doch in lang¬
jährigem Verkehr mit den Kranken selbst eine gewisse Kenntnis von den Übeln er¬
worben, die mit seinen Arzneien geheilt werden sollen, und er ist von der völligen
Bedeutungslosigkeit vieler Verschreibungen vollkommen überzeugt. Kleine Übel
kuriert er selbst, und hauptsächlich ist er immer bereit, an sich selbst mit selbstbe¬
reiteten Mitteln zu tollern. Irgend eine Mixtur s,ä libitum zusammenzusetzen
und zu kosten, wird ihm Bedürfnis, und er läuft Gefahr, zunehmend mehr Alkohol
dazu zu verwenden. Man erzählt sich mythische Geschichten von Apothekern, die
ihren eignen Alkoholvorrat bis zum Seifenspiritus und noch übler schmeckenden
geistigen Getränken ausgeleert haben. Doch weg damit! Lieber will ich mich an
eine eigentümliche Art von Poesie erinnern, die dieses geschäftige Treiben mit kleinen
und zum Teil nichtigen Dingen gleichsam an den äußersten Rändern umwitterte,
glitzernd mit spielendem Licht anstrahlte. Ich meine die Poesie der Wichtigtuerei.
Wenn ich ein paar Jahre später auf der Kasernenfensterbrüstnng saß und meinen
Faschinenmessergurt mit Schmierlack polierte, daß man sich in dem Lederriemen
spiegeln konnte, hatte ich dasselbe Gefühl von Liebe, die man in etwas Unbe¬
deutendes hineinlegt, das man vor sich erhebt, bis es bedeutend wird; dann strebt
eine lebendige Faser aus unserm eignen Wesen zu diesem Ding hinüber, und ans
ihm senkt sich eine ähnliche in unser Herz, und wir hängen dieses Herz an einen
Ledergurt oder einen Messingknopf oder nun gar an den Winkel zwischen Fuß und
Knöchel beim Parademarsch. Welcher Tau, welcher Segen in diesem Sichverbinden
mit so kleinen Dingen, das in Wirklichkeit ein Sichverbünden gegen die Prosa der
Alltäglichkeit ist. Wenn wir grünliches Chlorgas destilliertem und alles ringsumher
sich die Nase zuhielt, und der blauhändige Färber, unser Nachbar, von jenseits der
Hofmauer rief: Nächstens krepiert mein Schwein von euerm Gestank! da schwollen
unsre Herzen. Es ist wahr, es riecht schlecht, es verursacht Hustenreiz, aber es ist
Chlor! Wie das schon klingt! Und wir husteten und fühlten unsre Augen brennen;
aber nur nicht klagen, sondern mit ernster Würde wiederholen: Chlor! Dorflinde
Einsamkeit ist gerade der rechte Boden für das Gedeihen dieses bescheidnen Ge¬
wächses. Im Winter, wenn tiefer Schnee den Verkehr auf das alleruotwendigste
beschränkte, die weite Welt wie verschlafen unter ihrer Decke lag, und wir uus mit
Muße dem Destillieren und Sublimieren im qualmenden Laboratorium, genannt
Hexenküche, hingeben konnten, kam etwas von alchimistischer Stimmung über uns.
Gold oder den Stein der Weisen machen zu wollen, dafür waren wir ja zu auf¬
geklärt; aber wenn die Destillation irgend eines bekannten Stoffes gelang, sahen
wir in jedem Tropfen, der in die Phiole fiel, "das Werk, das gelungen," und es
wurde uns weiter um die Brust.


Glücksinseln und Träume

Armesünderfett, Menschenfett, Affenfett, Katzenfell, Bärenfett. In staubigen Winkeln
standen Windofen und Retorten, in denen vielleicht einst der Stein der Weisen
geglüht oder die Muttertinktur aller Heilsäfte zum Lebenselexier digeriert, gekocht
und destilliert worden war. Täglich wurde gestoßen, gerieben, gehackt, geschnitten.
An einem der ersten Tage wurde Benzoesäure sublimiert: man erhitzte köstlich
riechendes Benzoeharz in einem eisernen Topfe, dem ein Hut aus Papier auf¬
geklebt war, in dessen Innern: nach dem Erkalten sich ein dichter Schnee von
seidenglnnzenden Kristallen angesetzt hatte. Manchmal wurde ein großer Windofen
ins Freie getragen, wo dann übelriechende Gase entwickelt oder Stoffe hergestellt
wurden, deren Bereitung mit Explosionsgefahr verbunden war. Dazwischen durch
wurden die Arzneien bereitet, wie die Rezepte der Ärzte verlangten, viele durch
Kochen; in einige kamen höchst kostbare Stoffe, in manche Gifte, bei deren Hand¬
habung und Abwägung die größte Vorsicht nötig war. An sonnigen Tagen wurden
große „Hürden" mit frischen Blattern. Blüten und Wurzeln, die trocknen sollten,
ins Freie getragen. Es war ein beständiges Regen und Tun. Und da dieses
alles ganz auf das Wohlsein der Menschen gerichtet war, hätte man glauben sollen,
es wäre ein höchst ideales begeisterndes Tun gewesen. O nein! Es'schwebte viel¬
mehr eine Mischung von Geschäftsmäßigkeit und Ironie darüber. Der Apotheker
hat das Gefühl, dem Arzt über die Schultern zu sehen, hat er sich doch in lang¬
jährigem Verkehr mit den Kranken selbst eine gewisse Kenntnis von den Übeln er¬
worben, die mit seinen Arzneien geheilt werden sollen, und er ist von der völligen
Bedeutungslosigkeit vieler Verschreibungen vollkommen überzeugt. Kleine Übel
kuriert er selbst, und hauptsächlich ist er immer bereit, an sich selbst mit selbstbe¬
reiteten Mitteln zu tollern. Irgend eine Mixtur s,ä libitum zusammenzusetzen
und zu kosten, wird ihm Bedürfnis, und er läuft Gefahr, zunehmend mehr Alkohol
dazu zu verwenden. Man erzählt sich mythische Geschichten von Apothekern, die
ihren eignen Alkoholvorrat bis zum Seifenspiritus und noch übler schmeckenden
geistigen Getränken ausgeleert haben. Doch weg damit! Lieber will ich mich an
eine eigentümliche Art von Poesie erinnern, die dieses geschäftige Treiben mit kleinen
und zum Teil nichtigen Dingen gleichsam an den äußersten Rändern umwitterte,
glitzernd mit spielendem Licht anstrahlte. Ich meine die Poesie der Wichtigtuerei.
Wenn ich ein paar Jahre später auf der Kasernenfensterbrüstnng saß und meinen
Faschinenmessergurt mit Schmierlack polierte, daß man sich in dem Lederriemen
spiegeln konnte, hatte ich dasselbe Gefühl von Liebe, die man in etwas Unbe¬
deutendes hineinlegt, das man vor sich erhebt, bis es bedeutend wird; dann strebt
eine lebendige Faser aus unserm eignen Wesen zu diesem Ding hinüber, und ans
ihm senkt sich eine ähnliche in unser Herz, und wir hängen dieses Herz an einen
Ledergurt oder einen Messingknopf oder nun gar an den Winkel zwischen Fuß und
Knöchel beim Parademarsch. Welcher Tau, welcher Segen in diesem Sichverbinden
mit so kleinen Dingen, das in Wirklichkeit ein Sichverbünden gegen die Prosa der
Alltäglichkeit ist. Wenn wir grünliches Chlorgas destilliertem und alles ringsumher
sich die Nase zuhielt, und der blauhändige Färber, unser Nachbar, von jenseits der
Hofmauer rief: Nächstens krepiert mein Schwein von euerm Gestank! da schwollen
unsre Herzen. Es ist wahr, es riecht schlecht, es verursacht Hustenreiz, aber es ist
Chlor! Wie das schon klingt! Und wir husteten und fühlten unsre Augen brennen;
aber nur nicht klagen, sondern mit ernster Würde wiederholen: Chlor! Dorflinde
Einsamkeit ist gerade der rechte Boden für das Gedeihen dieses bescheidnen Ge¬
wächses. Im Winter, wenn tiefer Schnee den Verkehr auf das alleruotwendigste
beschränkte, die weite Welt wie verschlafen unter ihrer Decke lag, und wir uus mit
Muße dem Destillieren und Sublimieren im qualmenden Laboratorium, genannt
Hexenküche, hingeben konnten, kam etwas von alchimistischer Stimmung über uns.
Gold oder den Stein der Weisen machen zu wollen, dafür waren wir ja zu auf¬
geklärt; aber wenn die Destillation irgend eines bekannten Stoffes gelang, sahen
wir in jedem Tropfen, der in die Phiole fiel, „das Werk, das gelungen," und es
wurde uns weiter um die Brust.


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[0165] Glücksinseln und Träume Armesünderfett, Menschenfett, Affenfett, Katzenfell, Bärenfett. In staubigen Winkeln standen Windofen und Retorten, in denen vielleicht einst der Stein der Weisen geglüht oder die Muttertinktur aller Heilsäfte zum Lebenselexier digeriert, gekocht und destilliert worden war. Täglich wurde gestoßen, gerieben, gehackt, geschnitten. An einem der ersten Tage wurde Benzoesäure sublimiert: man erhitzte köstlich riechendes Benzoeharz in einem eisernen Topfe, dem ein Hut aus Papier auf¬ geklebt war, in dessen Innern: nach dem Erkalten sich ein dichter Schnee von seidenglnnzenden Kristallen angesetzt hatte. Manchmal wurde ein großer Windofen ins Freie getragen, wo dann übelriechende Gase entwickelt oder Stoffe hergestellt wurden, deren Bereitung mit Explosionsgefahr verbunden war. Dazwischen durch wurden die Arzneien bereitet, wie die Rezepte der Ärzte verlangten, viele durch Kochen; in einige kamen höchst kostbare Stoffe, in manche Gifte, bei deren Hand¬ habung und Abwägung die größte Vorsicht nötig war. An sonnigen Tagen wurden große „Hürden" mit frischen Blattern. Blüten und Wurzeln, die trocknen sollten, ins Freie getragen. Es war ein beständiges Regen und Tun. Und da dieses alles ganz auf das Wohlsein der Menschen gerichtet war, hätte man glauben sollen, es wäre ein höchst ideales begeisterndes Tun gewesen. O nein! Es'schwebte viel¬ mehr eine Mischung von Geschäftsmäßigkeit und Ironie darüber. Der Apotheker hat das Gefühl, dem Arzt über die Schultern zu sehen, hat er sich doch in lang¬ jährigem Verkehr mit den Kranken selbst eine gewisse Kenntnis von den Übeln er¬ worben, die mit seinen Arzneien geheilt werden sollen, und er ist von der völligen Bedeutungslosigkeit vieler Verschreibungen vollkommen überzeugt. Kleine Übel kuriert er selbst, und hauptsächlich ist er immer bereit, an sich selbst mit selbstbe¬ reiteten Mitteln zu tollern. Irgend eine Mixtur s,ä libitum zusammenzusetzen und zu kosten, wird ihm Bedürfnis, und er läuft Gefahr, zunehmend mehr Alkohol dazu zu verwenden. Man erzählt sich mythische Geschichten von Apothekern, die ihren eignen Alkoholvorrat bis zum Seifenspiritus und noch übler schmeckenden geistigen Getränken ausgeleert haben. Doch weg damit! Lieber will ich mich an eine eigentümliche Art von Poesie erinnern, die dieses geschäftige Treiben mit kleinen und zum Teil nichtigen Dingen gleichsam an den äußersten Rändern umwitterte, glitzernd mit spielendem Licht anstrahlte. Ich meine die Poesie der Wichtigtuerei. Wenn ich ein paar Jahre später auf der Kasernenfensterbrüstnng saß und meinen Faschinenmessergurt mit Schmierlack polierte, daß man sich in dem Lederriemen spiegeln konnte, hatte ich dasselbe Gefühl von Liebe, die man in etwas Unbe¬ deutendes hineinlegt, das man vor sich erhebt, bis es bedeutend wird; dann strebt eine lebendige Faser aus unserm eignen Wesen zu diesem Ding hinüber, und ans ihm senkt sich eine ähnliche in unser Herz, und wir hängen dieses Herz an einen Ledergurt oder einen Messingknopf oder nun gar an den Winkel zwischen Fuß und Knöchel beim Parademarsch. Welcher Tau, welcher Segen in diesem Sichverbinden mit so kleinen Dingen, das in Wirklichkeit ein Sichverbünden gegen die Prosa der Alltäglichkeit ist. Wenn wir grünliches Chlorgas destilliertem und alles ringsumher sich die Nase zuhielt, und der blauhändige Färber, unser Nachbar, von jenseits der Hofmauer rief: Nächstens krepiert mein Schwein von euerm Gestank! da schwollen unsre Herzen. Es ist wahr, es riecht schlecht, es verursacht Hustenreiz, aber es ist Chlor! Wie das schon klingt! Und wir husteten und fühlten unsre Augen brennen; aber nur nicht klagen, sondern mit ernster Würde wiederholen: Chlor! Dorflinde Einsamkeit ist gerade der rechte Boden für das Gedeihen dieses bescheidnen Ge¬ wächses. Im Winter, wenn tiefer Schnee den Verkehr auf das alleruotwendigste beschränkte, die weite Welt wie verschlafen unter ihrer Decke lag, und wir uus mit Muße dem Destillieren und Sublimieren im qualmenden Laboratorium, genannt Hexenküche, hingeben konnten, kam etwas von alchimistischer Stimmung über uns. Gold oder den Stein der Weisen machen zu wollen, dafür waren wir ja zu auf¬ geklärt; aber wenn die Destillation irgend eines bekannten Stoffes gelang, sahen wir in jedem Tropfen, der in die Phiole fiel, „das Werk, das gelungen," und es wurde uns weiter um die Brust.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/165>, abgerufen am 29.06.2024.