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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Weltpolitik

zur See richtet, brauchen wir nicht zu verzagen, denn jedes Jahr verbessert
unsre Situation.

Deutschland braucht ebensowenig wie zu Bismcrrcks Zeiten jemand nach¬
zulaufen und kann ruhig abwarten, ob England es wieder einmal braucht.
Dann werden wir andre Büudnisbedingungcn stellen können als Friedrich der
Große, der für eine geringe Subsidie Frankreichs Heere auf dem Kontinent
festhielt und England zu einem Kolonialbesitz verhalf, der ungezählte Milliarden
wert ist. Auch Kanada, das jetzt so ausschlaggebend für die britische Politik
gegenüber den Vereinigten Staaten geworden ist, kam erst damals an Englaud.
Es wäre eine nicht ungewöhnliche Ironie der Weltgeschichte, wenn England,
um Kanada zu retten und zu behalten, wieder unsern Beistand erbitten müßte.

Jedenfalls würde aber eine Befolgung der Ratschläge der Altdeutschen und
eine ausgesvrochne Stellung gegen England ebenso falsch sein, wie es ein
freundliches Verhalten ü, Wut prix wäre. Das ganze Programm der Alt¬
deutschen läßt auch sonst den nüchternen Blick für das Wirkliche vermissen, der
in der Welt der Tatsachen wichtiger ist als alle Genialität. Die Idee einer
Vergrößerung Deutschlands auf Kosten Österreichs ist geradezu eine Torheit.
Wir haben an den unruhigen Polen wirklich genug, und eine Bereicherung mit
weitern interessanten Völkerschaften slawischen Stammes würde schwerlich er¬
wünscht für uns sein, und dann: wer verbürgt uns denn, daß wirklich das ein¬
tritt, was Wut 1s monäs glaubt, und daß nach dem Tode des alten Kaisers
Franz Joseph das Reich der Habsburger auseinnnderfallen wird? Die Welt¬
geschichte hat fast immer gezeigt, daß das Gegenteil von dem eintritt, was alle
Welt glaubt! Die Agitation der Altdeutschen hat also nnr die Wirkung. Mi߬
trauen bei Nationen gegen uns zu erwecken, die bisher unsre guten Freunde
gewesen sind. Das zeigt sich nicht nur in Österreich, sondern auch in deu
Niederlanden, die nicht einmal einen PostVertrag mit uns abschließen Wollen,
weil sie in nervöser Furcht darin den Anfang zu einer Annexion wittern.
Gewiß ist es eine Anomalie, daß die Mündung unsers deutschesten Stromes in
fremden Händen ist, und daß Rotterdam den Creme von dem wirtschaftlichen
Fleiß deutscher Lande abschöpft, aber Hollands Kolonien werden früher oder
später einem Mächtigen als erwünschte Beute erscheinen, und dann sind wir die
einzigen auf der Welt, bei denen die Niederländer starken und wirksamen
Schutz finden können. Wozu also das Geschrei, wenn die natürliche Entwick¬
lung der Dinge uns so wie so die politische Freundschaft mit Holland bringe,:
wird und bringen muß?

Unsre auswärtige Politik ist in den letzten drei Jahrzehnten eine Politik
des Friedens gewesen, und das muß es bleiben. Deutschland ist ein junges
Reich, das im Innern zu konsolidieren die Anstrengungen noch vieler Jahre
erfordern wird. Der außerordentlich komplizierte Mechanismus unsrer Reichs¬
maschine zwingt uns dazu, jeden gewagten Schachzug zu vermeiden, denn unsre
Gegner auf dem internationalen Schachbrett sind fast alle in der günstigen
Lage, schneller und ungehinderter ihre Entschlüsse fassen und ausführen zu
können. Gerade der Frieden aber gibt uns Gelegenheit, unsre innern Gegen¬
sätze immer mehr auszugleichen und uns nach außen hin für die Zukunft zu


Weltpolitik

zur See richtet, brauchen wir nicht zu verzagen, denn jedes Jahr verbessert
unsre Situation.

Deutschland braucht ebensowenig wie zu Bismcrrcks Zeiten jemand nach¬
zulaufen und kann ruhig abwarten, ob England es wieder einmal braucht.
Dann werden wir andre Büudnisbedingungcn stellen können als Friedrich der
Große, der für eine geringe Subsidie Frankreichs Heere auf dem Kontinent
festhielt und England zu einem Kolonialbesitz verhalf, der ungezählte Milliarden
wert ist. Auch Kanada, das jetzt so ausschlaggebend für die britische Politik
gegenüber den Vereinigten Staaten geworden ist, kam erst damals an Englaud.
Es wäre eine nicht ungewöhnliche Ironie der Weltgeschichte, wenn England,
um Kanada zu retten und zu behalten, wieder unsern Beistand erbitten müßte.

Jedenfalls würde aber eine Befolgung der Ratschläge der Altdeutschen und
eine ausgesvrochne Stellung gegen England ebenso falsch sein, wie es ein
freundliches Verhalten ü, Wut prix wäre. Das ganze Programm der Alt¬
deutschen läßt auch sonst den nüchternen Blick für das Wirkliche vermissen, der
in der Welt der Tatsachen wichtiger ist als alle Genialität. Die Idee einer
Vergrößerung Deutschlands auf Kosten Österreichs ist geradezu eine Torheit.
Wir haben an den unruhigen Polen wirklich genug, und eine Bereicherung mit
weitern interessanten Völkerschaften slawischen Stammes würde schwerlich er¬
wünscht für uns sein, und dann: wer verbürgt uns denn, daß wirklich das ein¬
tritt, was Wut 1s monäs glaubt, und daß nach dem Tode des alten Kaisers
Franz Joseph das Reich der Habsburger auseinnnderfallen wird? Die Welt¬
geschichte hat fast immer gezeigt, daß das Gegenteil von dem eintritt, was alle
Welt glaubt! Die Agitation der Altdeutschen hat also nnr die Wirkung. Mi߬
trauen bei Nationen gegen uns zu erwecken, die bisher unsre guten Freunde
gewesen sind. Das zeigt sich nicht nur in Österreich, sondern auch in deu
Niederlanden, die nicht einmal einen PostVertrag mit uns abschließen Wollen,
weil sie in nervöser Furcht darin den Anfang zu einer Annexion wittern.
Gewiß ist es eine Anomalie, daß die Mündung unsers deutschesten Stromes in
fremden Händen ist, und daß Rotterdam den Creme von dem wirtschaftlichen
Fleiß deutscher Lande abschöpft, aber Hollands Kolonien werden früher oder
später einem Mächtigen als erwünschte Beute erscheinen, und dann sind wir die
einzigen auf der Welt, bei denen die Niederländer starken und wirksamen
Schutz finden können. Wozu also das Geschrei, wenn die natürliche Entwick¬
lung der Dinge uns so wie so die politische Freundschaft mit Holland bringe,:
wird und bringen muß?

Unsre auswärtige Politik ist in den letzten drei Jahrzehnten eine Politik
des Friedens gewesen, und das muß es bleiben. Deutschland ist ein junges
Reich, das im Innern zu konsolidieren die Anstrengungen noch vieler Jahre
erfordern wird. Der außerordentlich komplizierte Mechanismus unsrer Reichs¬
maschine zwingt uns dazu, jeden gewagten Schachzug zu vermeiden, denn unsre
Gegner auf dem internationalen Schachbrett sind fast alle in der günstigen
Lage, schneller und ungehinderter ihre Entschlüsse fassen und ausführen zu
können. Gerade der Frieden aber gibt uns Gelegenheit, unsre innern Gegen¬
sätze immer mehr auszugleichen und uns nach außen hin für die Zukunft zu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/15>, abgerufen am 01.07.2024.