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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Weltpolitik

Frankreich wird sein zwar gewaltiges, aber große Kosten verschlingendes Kolonial¬
reich immer mehr ausbauen, aber in Europa ist seine kriegerische Rolle nach
menschlicher Berechnung vorläufig ausgespielt, und auch ein Delcasse kann nichts
daran ändern. Die vielen unerfreulichen und bedenklichen Fragen seiner innern
Politik werden Frankreich überdies genug in Anspruch nehmen und es von ge¬
wagten Manövern in der auswärtigen Politik abhalte". Früher war es aller¬
dings französischer Brauch, die erhitzten Gemüter von den innern Verhältnissen
durch auswärtige Diversionen abzulenken, aber davon ist die solide Republik
ganz zurückgekommen -- wie man nicht leugnen kann, sehr zu ihrem eignen,
wohlverstandncn Vorteil.

Ob die Konvention mit England günstig für Frankreich sein wird, muß
die Zukunft lehren. Auf den ersten Blick ist ja das Zugeständnis wegen
Marokkos ein großes Geschenk Englands, aber Marokko wird, wenn es tatsächlich
in die französische Interessensphäre gezogen wird, vielleicht größere Mühen und
Kosten verursachen, ehe es ganz pazifiziert ist, als irgend ein andres Kolonial¬
land -- die Philippinen ausgenommen, die allein im letzten Jahre zweihundert
Millionen Dollars verschlungen haben. Die Engländer haben es von jeher
verstanden, andre für sich arbeiten und kämpfen zu lassen. Auf Ägypten hat
Frankreich endgiltig verzichtet, und Marokko ist eine omxtio 8on. Daß sich
die Abmachung mit ihren geheimen Klauseln gegen Deutschland richtet, liegt
auf der Hand. Frankreich hat künftighin nur noch einen Erbfeind zu bekämpfen.
Der Engländerhaß, der während des Transvaalkriegs in Paris noch wahre
Orgien in der Boulevardpresse und im Rüö feierte, soll jetzt endgiltig in der
französischen Seele begraben sein. Dafür kann man jetzt gemeinschaftlich mit
den Freunden jenseits des Kanals die bösen Deutschen ärgern, die Englands
Industrie und Handel schwer bedrohen und die französischen Seehäfen im
Konkurrenzkampf schon besiegt haben. England ist seit der törichten Sympathie
der Altdeutschen für die Buren wirklich verstimmt gegen uns und hat bei unsrer
gemeinsamen Aktion gegen Venezuela in den leitenden Blättern klar seine Ab¬
neigung, mit uus gemeinsam praktische Politik zu treiben, zu erkennen gegeben.
Seine Seegeltung hat neuerdings durch die russischen Verluste von Kriegs¬
schiffen in ungeahnter Weise wieder zugenommen. Eine Allianz gegen England,
die über mehr Kriegsschiffe als dieses verfügte, ist für uns vorläufig ausge¬
schlossen. Aber auf die Dauer wird Englands Prinzip, immer ebensoviel
Schiffe zu bauen wie zwei andre Großmächte, doch ohne das gewünschte
Resultat bleiben, und zwar aus einem sehr einfachen arithmetischen Grunde.
Nehmen wir an, daß England vierzig große Schlachtschiffe hat, und daß zwei
andre Großmächte zusammen zwanzig haben. Dann ist das Verhältnis zwei
zu eins. Bauen nun England sowohl als auch die beiden andern Staaten je
zwanzig neue große Schlachtschiffe, so ist der englische Besitzstand sechzig und
der der andern vierzig. Das Verhältnis ist also ein für England viel un¬
günstigeres, nämlich drei zu zwei geworden. Damit ist natürlich auch die
Möglichkeit eines Sieges über die englische Kriegsflotte gestiegen. Solange
wir den Ausbau unsrer Flotte konsequent fortsetzen und damit immer bündnis¬
fähiger für eine Kombination werden, die sich gegen die britische Alleinherrschaft


Weltpolitik

Frankreich wird sein zwar gewaltiges, aber große Kosten verschlingendes Kolonial¬
reich immer mehr ausbauen, aber in Europa ist seine kriegerische Rolle nach
menschlicher Berechnung vorläufig ausgespielt, und auch ein Delcasse kann nichts
daran ändern. Die vielen unerfreulichen und bedenklichen Fragen seiner innern
Politik werden Frankreich überdies genug in Anspruch nehmen und es von ge¬
wagten Manövern in der auswärtigen Politik abhalte». Früher war es aller¬
dings französischer Brauch, die erhitzten Gemüter von den innern Verhältnissen
durch auswärtige Diversionen abzulenken, aber davon ist die solide Republik
ganz zurückgekommen — wie man nicht leugnen kann, sehr zu ihrem eignen,
wohlverstandncn Vorteil.

Ob die Konvention mit England günstig für Frankreich sein wird, muß
die Zukunft lehren. Auf den ersten Blick ist ja das Zugeständnis wegen
Marokkos ein großes Geschenk Englands, aber Marokko wird, wenn es tatsächlich
in die französische Interessensphäre gezogen wird, vielleicht größere Mühen und
Kosten verursachen, ehe es ganz pazifiziert ist, als irgend ein andres Kolonial¬
land — die Philippinen ausgenommen, die allein im letzten Jahre zweihundert
Millionen Dollars verschlungen haben. Die Engländer haben es von jeher
verstanden, andre für sich arbeiten und kämpfen zu lassen. Auf Ägypten hat
Frankreich endgiltig verzichtet, und Marokko ist eine omxtio 8on. Daß sich
die Abmachung mit ihren geheimen Klauseln gegen Deutschland richtet, liegt
auf der Hand. Frankreich hat künftighin nur noch einen Erbfeind zu bekämpfen.
Der Engländerhaß, der während des Transvaalkriegs in Paris noch wahre
Orgien in der Boulevardpresse und im Rüö feierte, soll jetzt endgiltig in der
französischen Seele begraben sein. Dafür kann man jetzt gemeinschaftlich mit
den Freunden jenseits des Kanals die bösen Deutschen ärgern, die Englands
Industrie und Handel schwer bedrohen und die französischen Seehäfen im
Konkurrenzkampf schon besiegt haben. England ist seit der törichten Sympathie
der Altdeutschen für die Buren wirklich verstimmt gegen uns und hat bei unsrer
gemeinsamen Aktion gegen Venezuela in den leitenden Blättern klar seine Ab¬
neigung, mit uus gemeinsam praktische Politik zu treiben, zu erkennen gegeben.
Seine Seegeltung hat neuerdings durch die russischen Verluste von Kriegs¬
schiffen in ungeahnter Weise wieder zugenommen. Eine Allianz gegen England,
die über mehr Kriegsschiffe als dieses verfügte, ist für uns vorläufig ausge¬
schlossen. Aber auf die Dauer wird Englands Prinzip, immer ebensoviel
Schiffe zu bauen wie zwei andre Großmächte, doch ohne das gewünschte
Resultat bleiben, und zwar aus einem sehr einfachen arithmetischen Grunde.
Nehmen wir an, daß England vierzig große Schlachtschiffe hat, und daß zwei
andre Großmächte zusammen zwanzig haben. Dann ist das Verhältnis zwei
zu eins. Bauen nun England sowohl als auch die beiden andern Staaten je
zwanzig neue große Schlachtschiffe, so ist der englische Besitzstand sechzig und
der der andern vierzig. Das Verhältnis ist also ein für England viel un¬
günstigeres, nämlich drei zu zwei geworden. Damit ist natürlich auch die
Möglichkeit eines Sieges über die englische Kriegsflotte gestiegen. Solange
wir den Ausbau unsrer Flotte konsequent fortsetzen und damit immer bündnis¬
fähiger für eine Kombination werden, die sich gegen die britische Alleinherrschaft


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[0014] Weltpolitik Frankreich wird sein zwar gewaltiges, aber große Kosten verschlingendes Kolonial¬ reich immer mehr ausbauen, aber in Europa ist seine kriegerische Rolle nach menschlicher Berechnung vorläufig ausgespielt, und auch ein Delcasse kann nichts daran ändern. Die vielen unerfreulichen und bedenklichen Fragen seiner innern Politik werden Frankreich überdies genug in Anspruch nehmen und es von ge¬ wagten Manövern in der auswärtigen Politik abhalte». Früher war es aller¬ dings französischer Brauch, die erhitzten Gemüter von den innern Verhältnissen durch auswärtige Diversionen abzulenken, aber davon ist die solide Republik ganz zurückgekommen — wie man nicht leugnen kann, sehr zu ihrem eignen, wohlverstandncn Vorteil. Ob die Konvention mit England günstig für Frankreich sein wird, muß die Zukunft lehren. Auf den ersten Blick ist ja das Zugeständnis wegen Marokkos ein großes Geschenk Englands, aber Marokko wird, wenn es tatsächlich in die französische Interessensphäre gezogen wird, vielleicht größere Mühen und Kosten verursachen, ehe es ganz pazifiziert ist, als irgend ein andres Kolonial¬ land — die Philippinen ausgenommen, die allein im letzten Jahre zweihundert Millionen Dollars verschlungen haben. Die Engländer haben es von jeher verstanden, andre für sich arbeiten und kämpfen zu lassen. Auf Ägypten hat Frankreich endgiltig verzichtet, und Marokko ist eine omxtio 8on. Daß sich die Abmachung mit ihren geheimen Klauseln gegen Deutschland richtet, liegt auf der Hand. Frankreich hat künftighin nur noch einen Erbfeind zu bekämpfen. Der Engländerhaß, der während des Transvaalkriegs in Paris noch wahre Orgien in der Boulevardpresse und im Rüö feierte, soll jetzt endgiltig in der französischen Seele begraben sein. Dafür kann man jetzt gemeinschaftlich mit den Freunden jenseits des Kanals die bösen Deutschen ärgern, die Englands Industrie und Handel schwer bedrohen und die französischen Seehäfen im Konkurrenzkampf schon besiegt haben. England ist seit der törichten Sympathie der Altdeutschen für die Buren wirklich verstimmt gegen uns und hat bei unsrer gemeinsamen Aktion gegen Venezuela in den leitenden Blättern klar seine Ab¬ neigung, mit uus gemeinsam praktische Politik zu treiben, zu erkennen gegeben. Seine Seegeltung hat neuerdings durch die russischen Verluste von Kriegs¬ schiffen in ungeahnter Weise wieder zugenommen. Eine Allianz gegen England, die über mehr Kriegsschiffe als dieses verfügte, ist für uns vorläufig ausge¬ schlossen. Aber auf die Dauer wird Englands Prinzip, immer ebensoviel Schiffe zu bauen wie zwei andre Großmächte, doch ohne das gewünschte Resultat bleiben, und zwar aus einem sehr einfachen arithmetischen Grunde. Nehmen wir an, daß England vierzig große Schlachtschiffe hat, und daß zwei andre Großmächte zusammen zwanzig haben. Dann ist das Verhältnis zwei zu eins. Bauen nun England sowohl als auch die beiden andern Staaten je zwanzig neue große Schlachtschiffe, so ist der englische Besitzstand sechzig und der der andern vierzig. Das Verhältnis ist also ein für England viel un¬ günstigeres, nämlich drei zu zwei geworden. Damit ist natürlich auch die Möglichkeit eines Sieges über die englische Kriegsflotte gestiegen. Solange wir den Ausbau unsrer Flotte konsequent fortsetzen und damit immer bündnis¬ fähiger für eine Kombination werden, die sich gegen die britische Alleinherrschaft

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/14>, abgerufen am 03.07.2024.