Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.Das "Rotwelsch" des deutschen Gauners Denn es vergeht fast kein Tag, wo wir -- wenn auch freilich meist unbewußt -- Ähnlich ist es einzelnen Fremdwörtern aus andern Sprachen (wie aus dem Das „Rotwelsch" des deutschen Gauners Denn es vergeht fast kein Tag, wo wir — wenn auch freilich meist unbewußt — Ähnlich ist es einzelnen Fremdwörtern aus andern Sprachen (wie aus dem <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0538" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/294955"/> <fw type="header" place="top"> Das „Rotwelsch" des deutschen Gauners</fw><lb/> <p xml:id="ID_2346" prev="#ID_2345"> Denn es vergeht fast kein Tag, wo wir — wenn auch freilich meist unbewußt —<lb/> Wörter rotwelschen Ursprungs in den Mund nehmen. Da ist zunächst die große<lb/> Masse der jüdisch-deutschen Ausdrücke, die in unsre Muttersprache nur zum kleinern<lb/> Teil unmittelbar durch die Juden selbst, zum größern Teil entweder durch die<lb/> Vermittlung der christlichen Kirche oder durch die Studenten und durch das Gcmnertum<lb/> eingedrungen sind und hier Bürgerrecht erworben haben. Eine kleine Blütenlese<lb/> solcher Bestandteile unsrer täglichen Redeweise, die sämtlich auch in den Wörter¬<lb/> büchern der Gauner- oder Kundensprache vorkommen, wird dies veranschaulichen.<lb/> Nicht mehr bloß der Dieb kann heutzutage Ort und Zeit des Stehlens, sondern<lb/> jedermann kann eine günstige Gelegenheit für etwas „ausbaldowern." Ein<lb/> junger Bursche pflegt, auch wenn er ein Christ ist, des Sonntags mit seiner<lb/> „Kälte" (Braut, Mädchen) spazieren zu gehn; ist er aber ein Jude, so hat er jetzt<lb/> ein(e) „Schicksel" — sonderbarerweise, da dieses Wort (rotwelsch meist „Schickse,"<lb/> „Schlaks," vergl. Dappel- oder Tippelschickse, Mädchen auf der Wanderschaft.<lb/> Genossin des „Kunden") von den Juden gerade umgekehrt nur für Christenmädchen<lb/> (sobilWan; vgl. souklcv?, Christenknabe) gebraucht wurde, und im Hebräischen (sekililm?)<lb/> ursprünglich soviel wie Greuel, Abscheu bedeutet hat. Auch der christliche Kaufmann<lb/> vermag jetzt zu „schachern" oder „Schacher zu treiben," und geht es dabei<lb/> etwa nicht ganz „koscher" zu, so kann er vom Gerichte „verknaxt" werden. Denn<lb/> auch dieser scheinbar so recht urdeutsche Kraftausdruck geht auf ein rotwelsches<lb/> „knastelt" oder „krassen," strafen, „Knaß" oder „Kraft," Strafe, Geldstrafe zurück,<lb/> das wieder mit dem jüdischen Jeouas, bestrafen zusammenhängt. Verliert der Geschäfts¬<lb/> mann dnrch ein „Schlamassel" sein „Moos" oder seinen „Kies," so kommt er<lb/> — samt seiner ganzen „Mischpoche" (Familie, Anhang) — in den „Dalles"<lb/> (Geldmangel, Armut, Verderben; wohl aus hebr. ZsIIul oder eg,IW), es geht ihm dann<lb/> „mich," er muß sich „schofel" kleiden, ja schließlich macht er gar „Ptene"<lb/> (jüd. xloto, eigentl. Flucht, dann Bankrott, zu polar entwischen) und geht „kapores,"<lb/> d. h. zugrunde (aus hebr. liapxaiÄd, eigeutl. Sühnopfer). Wer viel über sein Mi߬<lb/> geschick jammert, der macht el» „Geseires," wer albernes Zeug schwatzt, „schaust,"<lb/> „dibbert" oder „debbert," der ist ein „Schaute" oder „Schote" (d. H.Narr,<lb/> dann auch schlaffer, charakterloser Mensch) oder ein „Kaffer" (eigentl. Bauer,<lb/> Mann, von Kaff, hebr. KütAr, Dorf), dem man den guten Rat gibt, keinen „Stuß"<lb/> zu reden, oder die Frage vorlegt, ob er vielleicht „schicker" („beschickert" oder<lb/> „angeschickert"), d. h. betrunken, oder gar „meschugge," verrückt sei.</p><lb/> <p xml:id="ID_2347" next="#ID_2348"> Ähnlich ist es einzelnen Fremdwörtern aus andern Sprachen (wie aus dem<lb/> slawischen: Kaschemme, Kneipe, und Pachulke, Banhütte für ungeschlachter<lb/> Mensch, rotw. bes. der Strafgefangne, der in der Anstalt Hausarbeit versieht,<lb/> vom tschech. xaenolslc, Bursche, Knecht), namentlich aber solchen rotwelschen Formen<lb/> ergangen, die vielleicht (wie Pracher, rotw. Bettler, und Rausch — Bausch<lb/> und Bogen) oder sicher deutschen Ursprungs sind. Aus dem einheimischen Wort¬<lb/> bestand unsrer Gaunersprache stammt z. B. der „Strömer," der mit seinem<lb/> „Ranzen" auf dem Rücken des Weges daherzieht und es auch wohl nicht ver¬<lb/> schmäht, gelegentlich etwas zu „langen," zu „klemmen" oder zu „schießen," der<lb/> „Bauernfänger," der im Kartenspiele die Gimpel rupft oder „beschuppt" (vergl.<lb/> „Freischupper"), der „Schnorrer" und der „Hochstapler," der „Schwindler,"<lb/> der uns „Schund" statt guter Ware verkauft, und der „Nassauer," der den<lb/> Wirt prellt, weil er weder „blechen" kann noch „pumpen" will. Auch wenn<lb/> wir etwa einen Kellnerlehrling mit „Stift" anrufen oder ihn sonst „foppen,"<lb/> schales Bier, das er uns vorsetzt, als „Plempel" oder einen herben Wein als<lb/> „Säuerling" (— Essig) bezeichnen, so drücken wir uns eigentlich rotwelsch aus.<lb/> Wie manche aus der Gaunersprache entlehnte Wörter dürften vollends noch zu<lb/> entdecken sein, wenn man die sog. „Idiotika" einzelner Gegenden oder Städte daraufhin<lb/> einmal genauer durchmusterte. In Braunschweig und in Hannover kann man z. B.<lb/> noch jemand „mackeln," d. h. prügeln (vom jüd. waklw, Schlag)', und in ganz</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0538]
Das „Rotwelsch" des deutschen Gauners
Denn es vergeht fast kein Tag, wo wir — wenn auch freilich meist unbewußt —
Wörter rotwelschen Ursprungs in den Mund nehmen. Da ist zunächst die große
Masse der jüdisch-deutschen Ausdrücke, die in unsre Muttersprache nur zum kleinern
Teil unmittelbar durch die Juden selbst, zum größern Teil entweder durch die
Vermittlung der christlichen Kirche oder durch die Studenten und durch das Gcmnertum
eingedrungen sind und hier Bürgerrecht erworben haben. Eine kleine Blütenlese
solcher Bestandteile unsrer täglichen Redeweise, die sämtlich auch in den Wörter¬
büchern der Gauner- oder Kundensprache vorkommen, wird dies veranschaulichen.
Nicht mehr bloß der Dieb kann heutzutage Ort und Zeit des Stehlens, sondern
jedermann kann eine günstige Gelegenheit für etwas „ausbaldowern." Ein
junger Bursche pflegt, auch wenn er ein Christ ist, des Sonntags mit seiner
„Kälte" (Braut, Mädchen) spazieren zu gehn; ist er aber ein Jude, so hat er jetzt
ein(e) „Schicksel" — sonderbarerweise, da dieses Wort (rotwelsch meist „Schickse,"
„Schlaks," vergl. Dappel- oder Tippelschickse, Mädchen auf der Wanderschaft.
Genossin des „Kunden") von den Juden gerade umgekehrt nur für Christenmädchen
(sobilWan; vgl. souklcv?, Christenknabe) gebraucht wurde, und im Hebräischen (sekililm?)
ursprünglich soviel wie Greuel, Abscheu bedeutet hat. Auch der christliche Kaufmann
vermag jetzt zu „schachern" oder „Schacher zu treiben," und geht es dabei
etwa nicht ganz „koscher" zu, so kann er vom Gerichte „verknaxt" werden. Denn
auch dieser scheinbar so recht urdeutsche Kraftausdruck geht auf ein rotwelsches
„knastelt" oder „krassen," strafen, „Knaß" oder „Kraft," Strafe, Geldstrafe zurück,
das wieder mit dem jüdischen Jeouas, bestrafen zusammenhängt. Verliert der Geschäfts¬
mann dnrch ein „Schlamassel" sein „Moos" oder seinen „Kies," so kommt er
— samt seiner ganzen „Mischpoche" (Familie, Anhang) — in den „Dalles"
(Geldmangel, Armut, Verderben; wohl aus hebr. ZsIIul oder eg,IW), es geht ihm dann
„mich," er muß sich „schofel" kleiden, ja schließlich macht er gar „Ptene"
(jüd. xloto, eigentl. Flucht, dann Bankrott, zu polar entwischen) und geht „kapores,"
d. h. zugrunde (aus hebr. liapxaiÄd, eigeutl. Sühnopfer). Wer viel über sein Mi߬
geschick jammert, der macht el» „Geseires," wer albernes Zeug schwatzt, „schaust,"
„dibbert" oder „debbert," der ist ein „Schaute" oder „Schote" (d. H.Narr,
dann auch schlaffer, charakterloser Mensch) oder ein „Kaffer" (eigentl. Bauer,
Mann, von Kaff, hebr. KütAr, Dorf), dem man den guten Rat gibt, keinen „Stuß"
zu reden, oder die Frage vorlegt, ob er vielleicht „schicker" („beschickert" oder
„angeschickert"), d. h. betrunken, oder gar „meschugge," verrückt sei.
Ähnlich ist es einzelnen Fremdwörtern aus andern Sprachen (wie aus dem
slawischen: Kaschemme, Kneipe, und Pachulke, Banhütte für ungeschlachter
Mensch, rotw. bes. der Strafgefangne, der in der Anstalt Hausarbeit versieht,
vom tschech. xaenolslc, Bursche, Knecht), namentlich aber solchen rotwelschen Formen
ergangen, die vielleicht (wie Pracher, rotw. Bettler, und Rausch — Bausch
und Bogen) oder sicher deutschen Ursprungs sind. Aus dem einheimischen Wort¬
bestand unsrer Gaunersprache stammt z. B. der „Strömer," der mit seinem
„Ranzen" auf dem Rücken des Weges daherzieht und es auch wohl nicht ver¬
schmäht, gelegentlich etwas zu „langen," zu „klemmen" oder zu „schießen," der
„Bauernfänger," der im Kartenspiele die Gimpel rupft oder „beschuppt" (vergl.
„Freischupper"), der „Schnorrer" und der „Hochstapler," der „Schwindler,"
der uns „Schund" statt guter Ware verkauft, und der „Nassauer," der den
Wirt prellt, weil er weder „blechen" kann noch „pumpen" will. Auch wenn
wir etwa einen Kellnerlehrling mit „Stift" anrufen oder ihn sonst „foppen,"
schales Bier, das er uns vorsetzt, als „Plempel" oder einen herben Wein als
„Säuerling" (— Essig) bezeichnen, so drücken wir uns eigentlich rotwelsch aus.
Wie manche aus der Gaunersprache entlehnte Wörter dürften vollends noch zu
entdecken sein, wenn man die sog. „Idiotika" einzelner Gegenden oder Städte daraufhin
einmal genauer durchmusterte. In Braunschweig und in Hannover kann man z. B.
noch jemand „mackeln," d. h. prügeln (vom jüd. waklw, Schlag)', und in ganz
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