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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Das "Rotwelsch" des deutschen Gauners

Norddeutschland jemand "pisacken," d. h. quälen, peinigen (rotw. spezieller: knebeln,
binden, überwältigen; Etymologie sans dem Hehr,, Deutschen oder dem Englischen:
dsLssK; altengl. bissksj noch bestritten); in einzelnen Gegenden der Schweiz kennt
man noch das Zeitwort "schlunen" für schlafen (verwandt mit dem niederd. schlum¬
mern), in Süddeutschland vielfach "schwarzen" (schwarzen) für gehn, "linzen"
(linsen) für sehen, horchen. Auch "achelu" für essen, "ganfen" oder "janfen"
für stehlen, "tippeln" für gehn, "menckeln" für essen, "Kawrusche" (Kabruge)
für Gesellschaft, "Kluft" für Kleid, Anzug, "Krone" für Frau, "Musche" oder
"Mosche" für Mädchen, "Poscher" oder "Boscher" für Groschen, "Knechen"
für Gefängnis >u. a. in. sind heute noch hier und da verbreitete alte Gaunerwörter,
Wie stolz ist der Berliner auf die vou ihm erfundne Bezeichnung "Btbber" für den
geleeartigen Pudding (von übt. bibbern, bibern, bebbern, bebern -- beben, zittern,
frieren) oder der Bewohner der Kaiserstadt an der blauen Donau auf die dort
zuerst in Aufnahme gekommenen, jetzt allgemein gebrauchte Wörter "radeln" und
"Robler," und doch klingen auch diese Neubildungen stark an einst viel gebrauchte
rotwelsche Vokabeln an.

Aber nicht bloß zahlreiche einzelne Wörter, auch manche ganze Redensart verdankt
endlich unsre Muttersprache den Gaunern und ihrem Treibe", was mau zum Teil freilich
erst in neuerer Zeit herausgebracht hat. Kluge hat z. B. kürzlich nachgewiesen,
daß die bekannte Umschreibung "jemand den roten Hahn aufs Dach setzen"
(oder "fliegen lassen") für jemandes Haus in Brand setzen -- die man seit Jakob
Grimm meistens auf mythologische Vorstellungen vom Feuer als einem lebendigen
Wesen zurückzuführen pflegte -- mit den sogenannten Gaunerzinken, d. h. den
Geheimzeichen der Gauner in Verbindung steht. Unter diesen, die öfter mit Rödel
an Kirchen, Kapellen, einsamen Kreuzen und Straßenecken angebracht wurden, soll
nämlich ein Hahn Brandstiftung bedeutet haben. Mit denselben Zeichen darf
aber wohl auch die Redensart "jemand den Zinken stechen" wenigstens in
dem Sinne von "einem (heimlich) etwas zu verstehn geben," in Zusammenhang ge^
bracht werden, während die (allerdings bestrittne) Zurückführung der noch immer
volkstümlichen Wendung "Manschetten vor etwas haben" (in der Bedeutung "sich
vor etwas fürchten") auf die Handschellen der Verurteilten in dem Vorkommen des
Wortes Manschetten in demselben Sinne in der Gaunersprache wenigstens eine nicht
unwesentliche Unterstützung erfährt. Schon länger war es bekannt, daß es sich in der
zuerst bei den Studenten aufgekommenen Redensart "Moses und die Propheten
haben" für: über Geld verfügen um ein Wortspiel handelt, in dem "Moses"
(anfänglich noch Neutrum) aus dem gaunerischen "Moos" (^ Geld) gemacht ist. Das¬
selbe Wort steckt aber auch in dem sonderbaren "wissen, wo Barthel Most
holt." Da nämlich die Redensart "ins Dorf gehn und Moos holen" für: in
den Geldbeutel ("Dorf," "Torf") greifen und stehlen mehrfach in rotwelschenWörter¬
sammlungen bezeugt ist, so braucht man nur noch den "Barthel" nicht sowohl als
Eigennamen (obgleich er unter den Gaunern nicht gerade selten gewesen ist), sondern
als eine Abkürzung des jüdisch-deutschen "Schaberbarthel" (Steinen- oder Brech¬
eisen) aufzufassen, damit die Wendung nichts Rätselhaftes mehr an sich hat. Und
solche Erklärungen scheinbarer Rätsel in unsrer Sprache gibt es gewiß noch viele.

So sehen wir denn, daß eine Bekanntschaft mit der Gaunersprache auch dem
Philologen in verschiednen Richtungen hin als ein willkommenes Hilfsmittel seiner
Studien dienen kann Wenn uns auch der zweite Band des Klugeschen Unter¬
nehmens erst beschert ist und dann endlich einmal die vielen Hypothesen beseitigt,
die Streitfragen, die zurzeit das Studium des Rotwelsch noch erschweren, in
wissenschaftlich-kritischer Weise entschieden sind, dann werden es gewiß auch unsre
Germanisten nicht an Eifer fehlen lassen, sich dieses Werkes als einer wertvollen
Handhabe bei der Erforschung unsers Wortschatzes zu bedienen. Die deutsche Gauner¬
sprache wird dann aufhören, das Steckenpferd einiger juristischer "Amateure" zu
sein, und gewürdigt werden als das, was sie von jeher gewesen ist: ein wichtiger.


Das „Rotwelsch" des deutschen Gauners

Norddeutschland jemand „pisacken," d. h. quälen, peinigen (rotw. spezieller: knebeln,
binden, überwältigen; Etymologie sans dem Hehr,, Deutschen oder dem Englischen:
dsLssK; altengl. bissksj noch bestritten); in einzelnen Gegenden der Schweiz kennt
man noch das Zeitwort „schlunen" für schlafen (verwandt mit dem niederd. schlum¬
mern), in Süddeutschland vielfach „schwarzen" (schwarzen) für gehn, „linzen"
(linsen) für sehen, horchen. Auch „achelu" für essen, „ganfen" oder „janfen"
für stehlen, „tippeln" für gehn, „menckeln" für essen, „Kawrusche" (Kabruge)
für Gesellschaft, „Kluft" für Kleid, Anzug, „Krone" für Frau, „Musche" oder
„Mosche" für Mädchen, „Poscher" oder „Boscher" für Groschen, „Knechen"
für Gefängnis >u. a. in. sind heute noch hier und da verbreitete alte Gaunerwörter,
Wie stolz ist der Berliner auf die vou ihm erfundne Bezeichnung „Btbber" für den
geleeartigen Pudding (von übt. bibbern, bibern, bebbern, bebern — beben, zittern,
frieren) oder der Bewohner der Kaiserstadt an der blauen Donau auf die dort
zuerst in Aufnahme gekommenen, jetzt allgemein gebrauchte Wörter „radeln" und
„Robler," und doch klingen auch diese Neubildungen stark an einst viel gebrauchte
rotwelsche Vokabeln an.

Aber nicht bloß zahlreiche einzelne Wörter, auch manche ganze Redensart verdankt
endlich unsre Muttersprache den Gaunern und ihrem Treibe», was mau zum Teil freilich
erst in neuerer Zeit herausgebracht hat. Kluge hat z. B. kürzlich nachgewiesen,
daß die bekannte Umschreibung „jemand den roten Hahn aufs Dach setzen"
(oder „fliegen lassen") für jemandes Haus in Brand setzen — die man seit Jakob
Grimm meistens auf mythologische Vorstellungen vom Feuer als einem lebendigen
Wesen zurückzuführen pflegte — mit den sogenannten Gaunerzinken, d. h. den
Geheimzeichen der Gauner in Verbindung steht. Unter diesen, die öfter mit Rödel
an Kirchen, Kapellen, einsamen Kreuzen und Straßenecken angebracht wurden, soll
nämlich ein Hahn Brandstiftung bedeutet haben. Mit denselben Zeichen darf
aber wohl auch die Redensart „jemand den Zinken stechen" wenigstens in
dem Sinne von „einem (heimlich) etwas zu verstehn geben," in Zusammenhang ge^
bracht werden, während die (allerdings bestrittne) Zurückführung der noch immer
volkstümlichen Wendung „Manschetten vor etwas haben" (in der Bedeutung „sich
vor etwas fürchten") auf die Handschellen der Verurteilten in dem Vorkommen des
Wortes Manschetten in demselben Sinne in der Gaunersprache wenigstens eine nicht
unwesentliche Unterstützung erfährt. Schon länger war es bekannt, daß es sich in der
zuerst bei den Studenten aufgekommenen Redensart „Moses und die Propheten
haben" für: über Geld verfügen um ein Wortspiel handelt, in dem „Moses"
(anfänglich noch Neutrum) aus dem gaunerischen „Moos" (^ Geld) gemacht ist. Das¬
selbe Wort steckt aber auch in dem sonderbaren „wissen, wo Barthel Most
holt." Da nämlich die Redensart „ins Dorf gehn und Moos holen" für: in
den Geldbeutel („Dorf," „Torf") greifen und stehlen mehrfach in rotwelschenWörter¬
sammlungen bezeugt ist, so braucht man nur noch den „Barthel" nicht sowohl als
Eigennamen (obgleich er unter den Gaunern nicht gerade selten gewesen ist), sondern
als eine Abkürzung des jüdisch-deutschen „Schaberbarthel" (Steinen- oder Brech¬
eisen) aufzufassen, damit die Wendung nichts Rätselhaftes mehr an sich hat. Und
solche Erklärungen scheinbarer Rätsel in unsrer Sprache gibt es gewiß noch viele.

So sehen wir denn, daß eine Bekanntschaft mit der Gaunersprache auch dem
Philologen in verschiednen Richtungen hin als ein willkommenes Hilfsmittel seiner
Studien dienen kann Wenn uns auch der zweite Band des Klugeschen Unter¬
nehmens erst beschert ist und dann endlich einmal die vielen Hypothesen beseitigt,
die Streitfragen, die zurzeit das Studium des Rotwelsch noch erschweren, in
wissenschaftlich-kritischer Weise entschieden sind, dann werden es gewiß auch unsre
Germanisten nicht an Eifer fehlen lassen, sich dieses Werkes als einer wertvollen
Handhabe bei der Erforschung unsers Wortschatzes zu bedienen. Die deutsche Gauner¬
sprache wird dann aufhören, das Steckenpferd einiger juristischer „Amateure" zu
sein, und gewürdigt werden als das, was sie von jeher gewesen ist: ein wichtiger.


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[0539] Das „Rotwelsch" des deutschen Gauners Norddeutschland jemand „pisacken," d. h. quälen, peinigen (rotw. spezieller: knebeln, binden, überwältigen; Etymologie sans dem Hehr,, Deutschen oder dem Englischen: dsLssK; altengl. bissksj noch bestritten); in einzelnen Gegenden der Schweiz kennt man noch das Zeitwort „schlunen" für schlafen (verwandt mit dem niederd. schlum¬ mern), in Süddeutschland vielfach „schwarzen" (schwarzen) für gehn, „linzen" (linsen) für sehen, horchen. Auch „achelu" für essen, „ganfen" oder „janfen" für stehlen, „tippeln" für gehn, „menckeln" für essen, „Kawrusche" (Kabruge) für Gesellschaft, „Kluft" für Kleid, Anzug, „Krone" für Frau, „Musche" oder „Mosche" für Mädchen, „Poscher" oder „Boscher" für Groschen, „Knechen" für Gefängnis >u. a. in. sind heute noch hier und da verbreitete alte Gaunerwörter, Wie stolz ist der Berliner auf die vou ihm erfundne Bezeichnung „Btbber" für den geleeartigen Pudding (von übt. bibbern, bibern, bebbern, bebern — beben, zittern, frieren) oder der Bewohner der Kaiserstadt an der blauen Donau auf die dort zuerst in Aufnahme gekommenen, jetzt allgemein gebrauchte Wörter „radeln" und „Robler," und doch klingen auch diese Neubildungen stark an einst viel gebrauchte rotwelsche Vokabeln an. Aber nicht bloß zahlreiche einzelne Wörter, auch manche ganze Redensart verdankt endlich unsre Muttersprache den Gaunern und ihrem Treibe», was mau zum Teil freilich erst in neuerer Zeit herausgebracht hat. Kluge hat z. B. kürzlich nachgewiesen, daß die bekannte Umschreibung „jemand den roten Hahn aufs Dach setzen" (oder „fliegen lassen") für jemandes Haus in Brand setzen — die man seit Jakob Grimm meistens auf mythologische Vorstellungen vom Feuer als einem lebendigen Wesen zurückzuführen pflegte — mit den sogenannten Gaunerzinken, d. h. den Geheimzeichen der Gauner in Verbindung steht. Unter diesen, die öfter mit Rödel an Kirchen, Kapellen, einsamen Kreuzen und Straßenecken angebracht wurden, soll nämlich ein Hahn Brandstiftung bedeutet haben. Mit denselben Zeichen darf aber wohl auch die Redensart „jemand den Zinken stechen" wenigstens in dem Sinne von „einem (heimlich) etwas zu verstehn geben," in Zusammenhang ge^ bracht werden, während die (allerdings bestrittne) Zurückführung der noch immer volkstümlichen Wendung „Manschetten vor etwas haben" (in der Bedeutung „sich vor etwas fürchten") auf die Handschellen der Verurteilten in dem Vorkommen des Wortes Manschetten in demselben Sinne in der Gaunersprache wenigstens eine nicht unwesentliche Unterstützung erfährt. Schon länger war es bekannt, daß es sich in der zuerst bei den Studenten aufgekommenen Redensart „Moses und die Propheten haben" für: über Geld verfügen um ein Wortspiel handelt, in dem „Moses" (anfänglich noch Neutrum) aus dem gaunerischen „Moos" (^ Geld) gemacht ist. Das¬ selbe Wort steckt aber auch in dem sonderbaren „wissen, wo Barthel Most holt." Da nämlich die Redensart „ins Dorf gehn und Moos holen" für: in den Geldbeutel („Dorf," „Torf") greifen und stehlen mehrfach in rotwelschenWörter¬ sammlungen bezeugt ist, so braucht man nur noch den „Barthel" nicht sowohl als Eigennamen (obgleich er unter den Gaunern nicht gerade selten gewesen ist), sondern als eine Abkürzung des jüdisch-deutschen „Schaberbarthel" (Steinen- oder Brech¬ eisen) aufzufassen, damit die Wendung nichts Rätselhaftes mehr an sich hat. Und solche Erklärungen scheinbarer Rätsel in unsrer Sprache gibt es gewiß noch viele. So sehen wir denn, daß eine Bekanntschaft mit der Gaunersprache auch dem Philologen in verschiednen Richtungen hin als ein willkommenes Hilfsmittel seiner Studien dienen kann Wenn uns auch der zweite Band des Klugeschen Unter¬ nehmens erst beschert ist und dann endlich einmal die vielen Hypothesen beseitigt, die Streitfragen, die zurzeit das Studium des Rotwelsch noch erschweren, in wissenschaftlich-kritischer Weise entschieden sind, dann werden es gewiß auch unsre Germanisten nicht an Eifer fehlen lassen, sich dieses Werkes als einer wertvollen Handhabe bei der Erforschung unsers Wortschatzes zu bedienen. Die deutsche Gauner¬ sprache wird dann aufhören, das Steckenpferd einiger juristischer „Amateure" zu sein, und gewürdigt werden als das, was sie von jeher gewesen ist: ein wichtiger.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/539>, abgerufen am 24.06.2024.