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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Das "Rotwelsch" des deutschen Gauners

(so besonders noch der Gießener von Grolmann). Bei unsern jetzigen, gänzlich ver¬
änderten Verhältnissen des Reiseverkehrs und des Gasthauswesens sind solche Fälle
wohl kaum noch ernstlich in Betracht zu ziehen, aber auch über den Wert rot-
welscher Sprachkenntnisse für den praktischen Juristen denkt man in der Gegen¬
wart viel skeptischer als früher. Schon Ave-Lallemand hat es als eine Legende
bezeichnet, daß sich das Gesicht mich des verhärmtsten Gauners geradezu verkläre,
sobald der Richter in sein Verhör einige rotwelsche Vokabeln einflechte, und daß
man auf diese Weise dann leichter Geständnisse erreichen könne; er warnt vielmehr
die Kriminalisten davor, mit solchen Kenntnissen allzu sehr zu kokettieren, da der
ihnen auf diesem Gebiete doch meist bedeutend überlegne Gauner sie nur zu leicht
n,ä absuräum 'führen könne. Ziemlich gering schlägt im ganzen neuerdings auch
Professor Groß den Wert von Kenntnissen in der Gaunersprache für den Richter,
namentlich den Untersuchungsrichter an. Er gibt nämlich nur zu, daß es einmal
für den modernen Strafrichter notwendig sei, um das innerste Seelenleben des
Verbrechers nach Möglichkeit zu erforschen und richtig zu beurteilen, auch dessen
besondre Sprache zu beherrschen, sodann weiter, daß Kenntnisse im Rotwelsch immerhin
zuweilen auch eine gewisse praktische Bedeutung gewinnen können, so z. B. für das
Auffangen von Korrespondenzen, die etwa in diesem Idiom geführt sind, oder
für das Belauschen vou Gesprächen Verhafteter untereinander oder mit andern
Personen, wie bei Konfrontationen usw. Daraus sieht man aber zugleich, daß es
fast noch mehr als für den Richter -- auch für die Polizei- und Sicherheits¬
beamten, die Gendarmerie und das Gefängnispersonal von Wichtigkeit ist, die Rede¬
weise der Gauner genau zu verstehn -- ein Umstand, ans den schon ältere Schrift¬
steller, wie von Grolmann u. a., mit Recht Gewicht gelegt haben.

In ganz andrer Richtung liegt natürlich der Wert einer Beschäftigung mit
dem Rotwelsch für den Philologen. In dieser Beziehung ist zunächst schon die
wohl nicht zu leugnende Tatsache von Bedeutung, daß nnter den Gaunern im
großen ganzen der Gebrauch ihrer Geheimsprache im Rückgänge und das noch be-
nutzte Wortmaterial in fortwährender Veränderung begriffen ist, sodaß man schon
deshalb nicht säumen sollte, den augenblicklichen Bestand dieser Sprachart wissen¬
schaftlich zu untersuchen.

Das Rotwelsch ist aber noch keine tote, sondern eine lebende Sprache, die
ihren Einfluß weit über die Kreise des eigentlichen Gcmuertums hinaus erstreckt hat.
Erst der allerneusten Zeit blieb es vorbehalten, festzustellen, daß es nicht nur einzelne
sozusagen halb rotwelsche Geheimsprachen (wie den Hallischen "Latcherschmus" und
das "Mattenenglisch" der Berner Schüler) gibt, die noch in praktischem Gebrauche
sind, sondern daß auch eine ganze Reihe ebenfalls lebender Händler- oder Hausierer¬
sprachen (Krämerlatein) in Deutschland vorhanden ist (wie z. B. das Pleißlen
oder Pleißnen der Killertäler im Hohenzollernschen, das Schlcmsmen der Saner-
länder, die nordwestfälische Tiöttensprache >auch Bargunsch oder Humpischi, und
namentlich der sogenannte Hennese Fleck oder Flink s^d. h. die schöne Sprache) von
Breyell in der Rheinprovinz nahe bei der holländischen Grenze), die eine so große
Ähnlichkeit mit dem Rotwelsch haben, daß Kluge geradezu die Vermutung aus¬
gesprochen hat, sie seien schon ebenso alt wie die Gannersprache selbst. Enthält
doch schon der liibsr V^-itorum eine Warnung vor den -- auch nicht be¬
trügerischen -- Hausierern, von denen man "mit guts" kaufe (vergl. auch den
niederländ. Ausdruck iMsmsrsIktM oder Loopm-lust^n, das englische xöälars freuen
und das böhmische KrawarKa rse für die Gaunersprache). Ohne eine genaue Be¬
kanntschaft mit dem Rotwelsch lassen sich also jedenfalls diese zum Teil höchst
interessanten Spracharten nicht näher erforschen. Die Beschäftigung mit den
Standessprachen ist aber für den sprachgelehrten bekanntlich nicht Selbstzweck,
sondern soll nur zu dem Nachweise dienen, in welcher Weise sie auf die Aus¬
gestaltung des Wortschatzes unsrer Gemeinsprache eingewirkt haben. Dabei finden
wir nun gerade die Gaunersprache selbst wieder ganz besonders stark beteiligt.


Grenzboten IU 1904 7y
Das „Rotwelsch" des deutschen Gauners

(so besonders noch der Gießener von Grolmann). Bei unsern jetzigen, gänzlich ver¬
änderten Verhältnissen des Reiseverkehrs und des Gasthauswesens sind solche Fälle
wohl kaum noch ernstlich in Betracht zu ziehen, aber auch über den Wert rot-
welscher Sprachkenntnisse für den praktischen Juristen denkt man in der Gegen¬
wart viel skeptischer als früher. Schon Ave-Lallemand hat es als eine Legende
bezeichnet, daß sich das Gesicht mich des verhärmtsten Gauners geradezu verkläre,
sobald der Richter in sein Verhör einige rotwelsche Vokabeln einflechte, und daß
man auf diese Weise dann leichter Geständnisse erreichen könne; er warnt vielmehr
die Kriminalisten davor, mit solchen Kenntnissen allzu sehr zu kokettieren, da der
ihnen auf diesem Gebiete doch meist bedeutend überlegne Gauner sie nur zu leicht
n,ä absuräum 'führen könne. Ziemlich gering schlägt im ganzen neuerdings auch
Professor Groß den Wert von Kenntnissen in der Gaunersprache für den Richter,
namentlich den Untersuchungsrichter an. Er gibt nämlich nur zu, daß es einmal
für den modernen Strafrichter notwendig sei, um das innerste Seelenleben des
Verbrechers nach Möglichkeit zu erforschen und richtig zu beurteilen, auch dessen
besondre Sprache zu beherrschen, sodann weiter, daß Kenntnisse im Rotwelsch immerhin
zuweilen auch eine gewisse praktische Bedeutung gewinnen können, so z. B. für das
Auffangen von Korrespondenzen, die etwa in diesem Idiom geführt sind, oder
für das Belauschen vou Gesprächen Verhafteter untereinander oder mit andern
Personen, wie bei Konfrontationen usw. Daraus sieht man aber zugleich, daß es
fast noch mehr als für den Richter — auch für die Polizei- und Sicherheits¬
beamten, die Gendarmerie und das Gefängnispersonal von Wichtigkeit ist, die Rede¬
weise der Gauner genau zu verstehn — ein Umstand, ans den schon ältere Schrift¬
steller, wie von Grolmann u. a., mit Recht Gewicht gelegt haben.

In ganz andrer Richtung liegt natürlich der Wert einer Beschäftigung mit
dem Rotwelsch für den Philologen. In dieser Beziehung ist zunächst schon die
wohl nicht zu leugnende Tatsache von Bedeutung, daß nnter den Gaunern im
großen ganzen der Gebrauch ihrer Geheimsprache im Rückgänge und das noch be-
nutzte Wortmaterial in fortwährender Veränderung begriffen ist, sodaß man schon
deshalb nicht säumen sollte, den augenblicklichen Bestand dieser Sprachart wissen¬
schaftlich zu untersuchen.

Das Rotwelsch ist aber noch keine tote, sondern eine lebende Sprache, die
ihren Einfluß weit über die Kreise des eigentlichen Gcmuertums hinaus erstreckt hat.
Erst der allerneusten Zeit blieb es vorbehalten, festzustellen, daß es nicht nur einzelne
sozusagen halb rotwelsche Geheimsprachen (wie den Hallischen „Latcherschmus" und
das „Mattenenglisch" der Berner Schüler) gibt, die noch in praktischem Gebrauche
sind, sondern daß auch eine ganze Reihe ebenfalls lebender Händler- oder Hausierer¬
sprachen (Krämerlatein) in Deutschland vorhanden ist (wie z. B. das Pleißlen
oder Pleißnen der Killertäler im Hohenzollernschen, das Schlcmsmen der Saner-
länder, die nordwestfälische Tiöttensprache >auch Bargunsch oder Humpischi, und
namentlich der sogenannte Hennese Fleck oder Flink s^d. h. die schöne Sprache) von
Breyell in der Rheinprovinz nahe bei der holländischen Grenze), die eine so große
Ähnlichkeit mit dem Rotwelsch haben, daß Kluge geradezu die Vermutung aus¬
gesprochen hat, sie seien schon ebenso alt wie die Gannersprache selbst. Enthält
doch schon der liibsr V^-itorum eine Warnung vor den — auch nicht be¬
trügerischen — Hausierern, von denen man „mit guts" kaufe (vergl. auch den
niederländ. Ausdruck iMsmsrsIktM oder Loopm-lust^n, das englische xöälars freuen
und das böhmische KrawarKa rse für die Gaunersprache). Ohne eine genaue Be¬
kanntschaft mit dem Rotwelsch lassen sich also jedenfalls diese zum Teil höchst
interessanten Spracharten nicht näher erforschen. Die Beschäftigung mit den
Standessprachen ist aber für den sprachgelehrten bekanntlich nicht Selbstzweck,
sondern soll nur zu dem Nachweise dienen, in welcher Weise sie auf die Aus¬
gestaltung des Wortschatzes unsrer Gemeinsprache eingewirkt haben. Dabei finden
wir nun gerade die Gaunersprache selbst wieder ganz besonders stark beteiligt.


Grenzboten IU 1904 7y
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[0537] Das „Rotwelsch" des deutschen Gauners (so besonders noch der Gießener von Grolmann). Bei unsern jetzigen, gänzlich ver¬ änderten Verhältnissen des Reiseverkehrs und des Gasthauswesens sind solche Fälle wohl kaum noch ernstlich in Betracht zu ziehen, aber auch über den Wert rot- welscher Sprachkenntnisse für den praktischen Juristen denkt man in der Gegen¬ wart viel skeptischer als früher. Schon Ave-Lallemand hat es als eine Legende bezeichnet, daß sich das Gesicht mich des verhärmtsten Gauners geradezu verkläre, sobald der Richter in sein Verhör einige rotwelsche Vokabeln einflechte, und daß man auf diese Weise dann leichter Geständnisse erreichen könne; er warnt vielmehr die Kriminalisten davor, mit solchen Kenntnissen allzu sehr zu kokettieren, da der ihnen auf diesem Gebiete doch meist bedeutend überlegne Gauner sie nur zu leicht n,ä absuräum 'führen könne. Ziemlich gering schlägt im ganzen neuerdings auch Professor Groß den Wert von Kenntnissen in der Gaunersprache für den Richter, namentlich den Untersuchungsrichter an. Er gibt nämlich nur zu, daß es einmal für den modernen Strafrichter notwendig sei, um das innerste Seelenleben des Verbrechers nach Möglichkeit zu erforschen und richtig zu beurteilen, auch dessen besondre Sprache zu beherrschen, sodann weiter, daß Kenntnisse im Rotwelsch immerhin zuweilen auch eine gewisse praktische Bedeutung gewinnen können, so z. B. für das Auffangen von Korrespondenzen, die etwa in diesem Idiom geführt sind, oder für das Belauschen vou Gesprächen Verhafteter untereinander oder mit andern Personen, wie bei Konfrontationen usw. Daraus sieht man aber zugleich, daß es fast noch mehr als für den Richter — auch für die Polizei- und Sicherheits¬ beamten, die Gendarmerie und das Gefängnispersonal von Wichtigkeit ist, die Rede¬ weise der Gauner genau zu verstehn — ein Umstand, ans den schon ältere Schrift¬ steller, wie von Grolmann u. a., mit Recht Gewicht gelegt haben. In ganz andrer Richtung liegt natürlich der Wert einer Beschäftigung mit dem Rotwelsch für den Philologen. In dieser Beziehung ist zunächst schon die wohl nicht zu leugnende Tatsache von Bedeutung, daß nnter den Gaunern im großen ganzen der Gebrauch ihrer Geheimsprache im Rückgänge und das noch be- nutzte Wortmaterial in fortwährender Veränderung begriffen ist, sodaß man schon deshalb nicht säumen sollte, den augenblicklichen Bestand dieser Sprachart wissen¬ schaftlich zu untersuchen. Das Rotwelsch ist aber noch keine tote, sondern eine lebende Sprache, die ihren Einfluß weit über die Kreise des eigentlichen Gcmuertums hinaus erstreckt hat. Erst der allerneusten Zeit blieb es vorbehalten, festzustellen, daß es nicht nur einzelne sozusagen halb rotwelsche Geheimsprachen (wie den Hallischen „Latcherschmus" und das „Mattenenglisch" der Berner Schüler) gibt, die noch in praktischem Gebrauche sind, sondern daß auch eine ganze Reihe ebenfalls lebender Händler- oder Hausierer¬ sprachen (Krämerlatein) in Deutschland vorhanden ist (wie z. B. das Pleißlen oder Pleißnen der Killertäler im Hohenzollernschen, das Schlcmsmen der Saner- länder, die nordwestfälische Tiöttensprache >auch Bargunsch oder Humpischi, und namentlich der sogenannte Hennese Fleck oder Flink s^d. h. die schöne Sprache) von Breyell in der Rheinprovinz nahe bei der holländischen Grenze), die eine so große Ähnlichkeit mit dem Rotwelsch haben, daß Kluge geradezu die Vermutung aus¬ gesprochen hat, sie seien schon ebenso alt wie die Gannersprache selbst. Enthält doch schon der liibsr V^-itorum eine Warnung vor den — auch nicht be¬ trügerischen — Hausierern, von denen man „mit guts" kaufe (vergl. auch den niederländ. Ausdruck iMsmsrsIktM oder Loopm-lust^n, das englische xöälars freuen und das böhmische KrawarKa rse für die Gaunersprache). Ohne eine genaue Be¬ kanntschaft mit dem Rotwelsch lassen sich also jedenfalls diese zum Teil höchst interessanten Spracharten nicht näher erforschen. Die Beschäftigung mit den Standessprachen ist aber für den sprachgelehrten bekanntlich nicht Selbstzweck, sondern soll nur zu dem Nachweise dienen, in welcher Weise sie auf die Aus¬ gestaltung des Wortschatzes unsrer Gemeinsprache eingewirkt haben. Dabei finden wir nun gerade die Gaunersprache selbst wieder ganz besonders stark beteiligt. Grenzboten IU 1904 7y

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/537>, abgerufen am 24.06.2024.