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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Das "Rotwelsch" des deutschen Gauners

Dankes, dcisz wir einen solchen Mann gehabt haben und den unsern nennen
durften. Der Kreis, das Vaterland, die Wissenschaft, die ihn bis heute hatten,
mögen statt zu klagen sich glücklich preisen und dem Geber alles Guten und
dem Vater aller Geister in Demut danken. Und dies dürfen wir auch der
ticftraucrnden Familie zurufen. Wir beugen uns vor dem heiligen Schmerz
um einen solchen Gatten und Vater und erkennen willig die Majestät so
herben Leides an. Aber auch hier darf es gelten: das Bewußtsein, einen
solchen Mann durch Jahrzehnte in täglichem, stündlichen Umgang mit Leib
und Seele zu eigen gehabt zu haben, ist so sehr geheiligten, demütigen Dankes
wert, daß sich auch ihm gegenüber der Schmerz, der jetzt seine Rechte fordert,
mit der Zeit in wehmütigen, aber doch stolz gehobnen Dank auflösen muß.
Nicht wie lange man hatte, sondern was man hatte, wiegt in Wahrheit.

Wenn aber wir, die Freunde und Schüler, und vielleicht mancher,
der heute nicht hier sein kann, über Jahr und Tag wieder einmal hierher
pilgern werden an dieses lauschige Plätzchen, das ganz so ist, wie ich mir
denke, daß Friedrich Ratzel es sich zum Rasten fürs Leben und vielleicht auch
für die ewige Rast gewünscht haben mag, gegrüßt dort in der Ferne von
seinen über alles geliebten Bergen und fast noch erreicht von dem Murmeln
seines teuern Sees; und wenn wir dann daran denken werden, daß unter deu
Blumen dieses Rasens Friedrich Ratzel ruht, der die Sprache der Blumen
verstand, dem die Firnen erzählten, und der das Rauschen der Wellen deuten
konnte: so wird es vielleicht auch uns sein, als lebte er uns wieder auf, und
als umschwebte uns sein Geist. Ja es wird uns nicht bloß so sein. Was
bei vielen andern bloße Rede, bloße Mystik oder Romantik wäre, bei ihm
wird es Tat und Wahrheit sein. Er lebte sud sxsvis Ästörnitatis, ihm war
die Zeit schon Ewigkeit. Und weil er hier schon in der Ewigkeit lebte, so
war sein Tod kein Sterben, es war ein Hinübergleiten in das höhere Leben
voll Geist und Wahrheit, voll Leben und Schauen, das er hier schon gesucht
und geglaubt hatte. Ihm war das Wort: "In ihm leben, weben und sind
wir" eine Wahrheit, darum erlebt er nun auch das andre: "Ich bin die Auf¬
erstehung und das Leben," "Ich lebe, lind ihr sollt auch leben!" Amen.




Das "Rotwelsch" des deutschen Gauners
L. Günther Line linguistisch-psychologische Skizze von in Gießen
(Schluß)

WM> und hierbei ist man nicht stehn geblieben. Während einerseits zuweilen
Tiere und Personen ihrer Bezeichnung nach leblosen Sachen gleich¬
gestellt erscheinen (wie z. B. bei Wvllsack für Schaf, Wüllen-
bündel für Kapuziner, Wunnenberg, hübsche Jungfrau, Lappen,
Leineweber, Bindfaden, Gerichtsdiener, Laterne oder Lampe,
! Polizei, Blitzableiter, Gendarm, usw.), hat mau andrerseits unbe¬
seelte Gegenstände, namentlich Werkzeuge, personifiziert, gleichsam als ob sie selbst,
und nicht der sie handhabende Mensch, eine Tätigkeit ausübten. Wie wir in unsrer


Das „Rotwelsch" des deutschen Gauners

Dankes, dcisz wir einen solchen Mann gehabt haben und den unsern nennen
durften. Der Kreis, das Vaterland, die Wissenschaft, die ihn bis heute hatten,
mögen statt zu klagen sich glücklich preisen und dem Geber alles Guten und
dem Vater aller Geister in Demut danken. Und dies dürfen wir auch der
ticftraucrnden Familie zurufen. Wir beugen uns vor dem heiligen Schmerz
um einen solchen Gatten und Vater und erkennen willig die Majestät so
herben Leides an. Aber auch hier darf es gelten: das Bewußtsein, einen
solchen Mann durch Jahrzehnte in täglichem, stündlichen Umgang mit Leib
und Seele zu eigen gehabt zu haben, ist so sehr geheiligten, demütigen Dankes
wert, daß sich auch ihm gegenüber der Schmerz, der jetzt seine Rechte fordert,
mit der Zeit in wehmütigen, aber doch stolz gehobnen Dank auflösen muß.
Nicht wie lange man hatte, sondern was man hatte, wiegt in Wahrheit.

Wenn aber wir, die Freunde und Schüler, und vielleicht mancher,
der heute nicht hier sein kann, über Jahr und Tag wieder einmal hierher
pilgern werden an dieses lauschige Plätzchen, das ganz so ist, wie ich mir
denke, daß Friedrich Ratzel es sich zum Rasten fürs Leben und vielleicht auch
für die ewige Rast gewünscht haben mag, gegrüßt dort in der Ferne von
seinen über alles geliebten Bergen und fast noch erreicht von dem Murmeln
seines teuern Sees; und wenn wir dann daran denken werden, daß unter deu
Blumen dieses Rasens Friedrich Ratzel ruht, der die Sprache der Blumen
verstand, dem die Firnen erzählten, und der das Rauschen der Wellen deuten
konnte: so wird es vielleicht auch uns sein, als lebte er uns wieder auf, und
als umschwebte uns sein Geist. Ja es wird uns nicht bloß so sein. Was
bei vielen andern bloße Rede, bloße Mystik oder Romantik wäre, bei ihm
wird es Tat und Wahrheit sein. Er lebte sud sxsvis Ästörnitatis, ihm war
die Zeit schon Ewigkeit. Und weil er hier schon in der Ewigkeit lebte, so
war sein Tod kein Sterben, es war ein Hinübergleiten in das höhere Leben
voll Geist und Wahrheit, voll Leben und Schauen, das er hier schon gesucht
und geglaubt hatte. Ihm war das Wort: „In ihm leben, weben und sind
wir" eine Wahrheit, darum erlebt er nun auch das andre: „Ich bin die Auf¬
erstehung und das Leben," „Ich lebe, lind ihr sollt auch leben!" Amen.




Das „Rotwelsch" des deutschen Gauners
L. Günther Line linguistisch-psychologische Skizze von in Gießen
(Schluß)

WM> und hierbei ist man nicht stehn geblieben. Während einerseits zuweilen
Tiere und Personen ihrer Bezeichnung nach leblosen Sachen gleich¬
gestellt erscheinen (wie z. B. bei Wvllsack für Schaf, Wüllen-
bündel für Kapuziner, Wunnenberg, hübsche Jungfrau, Lappen,
Leineweber, Bindfaden, Gerichtsdiener, Laterne oder Lampe,
! Polizei, Blitzableiter, Gendarm, usw.), hat mau andrerseits unbe¬
seelte Gegenstände, namentlich Werkzeuge, personifiziert, gleichsam als ob sie selbst,
und nicht der sie handhabende Mensch, eine Tätigkeit ausübten. Wie wir in unsrer


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[0532] Das „Rotwelsch" des deutschen Gauners Dankes, dcisz wir einen solchen Mann gehabt haben und den unsern nennen durften. Der Kreis, das Vaterland, die Wissenschaft, die ihn bis heute hatten, mögen statt zu klagen sich glücklich preisen und dem Geber alles Guten und dem Vater aller Geister in Demut danken. Und dies dürfen wir auch der ticftraucrnden Familie zurufen. Wir beugen uns vor dem heiligen Schmerz um einen solchen Gatten und Vater und erkennen willig die Majestät so herben Leides an. Aber auch hier darf es gelten: das Bewußtsein, einen solchen Mann durch Jahrzehnte in täglichem, stündlichen Umgang mit Leib und Seele zu eigen gehabt zu haben, ist so sehr geheiligten, demütigen Dankes wert, daß sich auch ihm gegenüber der Schmerz, der jetzt seine Rechte fordert, mit der Zeit in wehmütigen, aber doch stolz gehobnen Dank auflösen muß. Nicht wie lange man hatte, sondern was man hatte, wiegt in Wahrheit. Wenn aber wir, die Freunde und Schüler, und vielleicht mancher, der heute nicht hier sein kann, über Jahr und Tag wieder einmal hierher pilgern werden an dieses lauschige Plätzchen, das ganz so ist, wie ich mir denke, daß Friedrich Ratzel es sich zum Rasten fürs Leben und vielleicht auch für die ewige Rast gewünscht haben mag, gegrüßt dort in der Ferne von seinen über alles geliebten Bergen und fast noch erreicht von dem Murmeln seines teuern Sees; und wenn wir dann daran denken werden, daß unter deu Blumen dieses Rasens Friedrich Ratzel ruht, der die Sprache der Blumen verstand, dem die Firnen erzählten, und der das Rauschen der Wellen deuten konnte: so wird es vielleicht auch uns sein, als lebte er uns wieder auf, und als umschwebte uns sein Geist. Ja es wird uns nicht bloß so sein. Was bei vielen andern bloße Rede, bloße Mystik oder Romantik wäre, bei ihm wird es Tat und Wahrheit sein. Er lebte sud sxsvis Ästörnitatis, ihm war die Zeit schon Ewigkeit. Und weil er hier schon in der Ewigkeit lebte, so war sein Tod kein Sterben, es war ein Hinübergleiten in das höhere Leben voll Geist und Wahrheit, voll Leben und Schauen, das er hier schon gesucht und geglaubt hatte. Ihm war das Wort: „In ihm leben, weben und sind wir" eine Wahrheit, darum erlebt er nun auch das andre: „Ich bin die Auf¬ erstehung und das Leben," „Ich lebe, lind ihr sollt auch leben!" Amen. Das „Rotwelsch" des deutschen Gauners L. Günther Line linguistisch-psychologische Skizze von in Gießen (Schluß) WM> und hierbei ist man nicht stehn geblieben. Während einerseits zuweilen Tiere und Personen ihrer Bezeichnung nach leblosen Sachen gleich¬ gestellt erscheinen (wie z. B. bei Wvllsack für Schaf, Wüllen- bündel für Kapuziner, Wunnenberg, hübsche Jungfrau, Lappen, Leineweber, Bindfaden, Gerichtsdiener, Laterne oder Lampe, ! Polizei, Blitzableiter, Gendarm, usw.), hat mau andrerseits unbe¬ seelte Gegenstände, namentlich Werkzeuge, personifiziert, gleichsam als ob sie selbst, und nicht der sie handhabende Mensch, eine Tätigkeit ausübten. Wie wir in unsrer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/532>, abgerufen am 24.06.2024.