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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Urquell aller Dinge, auch seines Lebens, sich in Andacht zu versenken. Einer
seiner Arbeitsgenossen von der Naturwissenschaft, der ihm ehedem eng ver¬
bunden war, dann aber ganz andre Wege einschlug als er selbst, äußerte ein¬
mal halb ironisch, Ratzel sei nnter die Mystiker gegangen. Ratzel war das
weder Ironie noch Vorwurf -- waren denn nicht Spinoza und Fechner auch
Mystiker gewesen, ist denn nicht das nur mit dem Gemüt erfaßte, nicht mehr
in Worte und Begriffe zu kleidende Ergreifen der Gottheit und das geheimnis¬
volle Leben der Seele mit ihr und in ihr das Beste und Größte an aller
Religion?

Sein Christentum ist nicht nach der Schablone; es mag auch in manchen
Punkten andre Wege gegangen sein, als er etwa da und dort lehrhaft dar¬
gestellt oder vorausgesetzt fand: er konnte wie sonst so auch hier von Differenzen
absehen und sah, wie er nur einmal sagte, auf die Hauptsache im religiösen
Leben, die Vertiefung des Gemüts in Gott, das Vergessen des Alltags und
das sich Einleben in die ideale, die höhere Welt -- das fand er, wenn auch
nicht immer ihn restlos befriedigend, so doch allezeit so, daß er immer neu
nach diesem Quell wahren Lebens begehrte.

So versteh" wir, daß sein Christentum auch im Verhältnis der Kon¬
fessionen gewissermaßen auf einer hohem Warte stand. Wie er, der Sohn
der süddeutschen Erde, der mit Begeisterung in den Kampf um das neue Reich
hinausgezogen war und sich mit Ehren das Eiserne Kreuz und mit ihm eine
Letze fürs Leben geholt hatte, allezeit ein warmer und treuer kerndeutscher
Mann war und sich doch daneben ans seinen weiten Reisen Gerechtigkeit gegen
andre Völker und damit ein gewisses Weltbürgertum angeeignet hatte, so stand
er auch im religiösen Leben. Allem Hader abhold, aller Schablone feind,
eher nachgebend als das Seine schroff behauptend, vertrat er, obwohl für sich
ein treuer und überzeugter Sohn des Protestantismus, doch auch hier ein
gewisses religiöses Weltbürgertum. Was ihm die Hauptsache im religiösen
Leben war, konnte er auch anderswo, wenn auch minder vollkommen ausge¬
prägt, finden. Möchte seine Weitherzigkeit und Milde auf allen Seiten Früchte
tragen und Nachahmer gewinnen!




Ich bin am Ettde. Ich habe Ihnen, leidtragende Freunde, das Bild
Friedrich Ratzels zu zeichnen gesucht, so wie es mir sich, soweit ich seine Werke
und den Umgang mit ihm im Augenblick ins Gedächtnis zurückrufen konnte,
darstellte. Andre mögen wohl später vor allem das Bild des Gelehrten,
vielleicht auch des Mannes, genauer und richtiger zeichnen -- keiner subjektiv
wahrer und wenige mit größerer Liebe und reinerer Hochachtung für seine
Person.

Was wir verloren haben, habe ich versucht zu schildern -- die Freunde,
die Kollegen, unsre Universität, das Vaterland und die Wissenschaft des weiten
Erdkreises. Es ist viel, unendlich viel. Aber die Größe des Schmerzes
kann und muß übertroffen werden von dem Gefühl der Freude und des


Urquell aller Dinge, auch seines Lebens, sich in Andacht zu versenken. Einer
seiner Arbeitsgenossen von der Naturwissenschaft, der ihm ehedem eng ver¬
bunden war, dann aber ganz andre Wege einschlug als er selbst, äußerte ein¬
mal halb ironisch, Ratzel sei nnter die Mystiker gegangen. Ratzel war das
weder Ironie noch Vorwurf — waren denn nicht Spinoza und Fechner auch
Mystiker gewesen, ist denn nicht das nur mit dem Gemüt erfaßte, nicht mehr
in Worte und Begriffe zu kleidende Ergreifen der Gottheit und das geheimnis¬
volle Leben der Seele mit ihr und in ihr das Beste und Größte an aller
Religion?

Sein Christentum ist nicht nach der Schablone; es mag auch in manchen
Punkten andre Wege gegangen sein, als er etwa da und dort lehrhaft dar¬
gestellt oder vorausgesetzt fand: er konnte wie sonst so auch hier von Differenzen
absehen und sah, wie er nur einmal sagte, auf die Hauptsache im religiösen
Leben, die Vertiefung des Gemüts in Gott, das Vergessen des Alltags und
das sich Einleben in die ideale, die höhere Welt — das fand er, wenn auch
nicht immer ihn restlos befriedigend, so doch allezeit so, daß er immer neu
nach diesem Quell wahren Lebens begehrte.

So versteh« wir, daß sein Christentum auch im Verhältnis der Kon¬
fessionen gewissermaßen auf einer hohem Warte stand. Wie er, der Sohn
der süddeutschen Erde, der mit Begeisterung in den Kampf um das neue Reich
hinausgezogen war und sich mit Ehren das Eiserne Kreuz und mit ihm eine
Letze fürs Leben geholt hatte, allezeit ein warmer und treuer kerndeutscher
Mann war und sich doch daneben ans seinen weiten Reisen Gerechtigkeit gegen
andre Völker und damit ein gewisses Weltbürgertum angeeignet hatte, so stand
er auch im religiösen Leben. Allem Hader abhold, aller Schablone feind,
eher nachgebend als das Seine schroff behauptend, vertrat er, obwohl für sich
ein treuer und überzeugter Sohn des Protestantismus, doch auch hier ein
gewisses religiöses Weltbürgertum. Was ihm die Hauptsache im religiösen
Leben war, konnte er auch anderswo, wenn auch minder vollkommen ausge¬
prägt, finden. Möchte seine Weitherzigkeit und Milde auf allen Seiten Früchte
tragen und Nachahmer gewinnen!




Ich bin am Ettde. Ich habe Ihnen, leidtragende Freunde, das Bild
Friedrich Ratzels zu zeichnen gesucht, so wie es mir sich, soweit ich seine Werke
und den Umgang mit ihm im Augenblick ins Gedächtnis zurückrufen konnte,
darstellte. Andre mögen wohl später vor allem das Bild des Gelehrten,
vielleicht auch des Mannes, genauer und richtiger zeichnen — keiner subjektiv
wahrer und wenige mit größerer Liebe und reinerer Hochachtung für seine
Person.

Was wir verloren haben, habe ich versucht zu schildern — die Freunde,
die Kollegen, unsre Universität, das Vaterland und die Wissenschaft des weiten
Erdkreises. Es ist viel, unendlich viel. Aber die Größe des Schmerzes
kann und muß übertroffen werden von dem Gefühl der Freude und des


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[0531] Urquell aller Dinge, auch seines Lebens, sich in Andacht zu versenken. Einer seiner Arbeitsgenossen von der Naturwissenschaft, der ihm ehedem eng ver¬ bunden war, dann aber ganz andre Wege einschlug als er selbst, äußerte ein¬ mal halb ironisch, Ratzel sei nnter die Mystiker gegangen. Ratzel war das weder Ironie noch Vorwurf — waren denn nicht Spinoza und Fechner auch Mystiker gewesen, ist denn nicht das nur mit dem Gemüt erfaßte, nicht mehr in Worte und Begriffe zu kleidende Ergreifen der Gottheit und das geheimnis¬ volle Leben der Seele mit ihr und in ihr das Beste und Größte an aller Religion? Sein Christentum ist nicht nach der Schablone; es mag auch in manchen Punkten andre Wege gegangen sein, als er etwa da und dort lehrhaft dar¬ gestellt oder vorausgesetzt fand: er konnte wie sonst so auch hier von Differenzen absehen und sah, wie er nur einmal sagte, auf die Hauptsache im religiösen Leben, die Vertiefung des Gemüts in Gott, das Vergessen des Alltags und das sich Einleben in die ideale, die höhere Welt — das fand er, wenn auch nicht immer ihn restlos befriedigend, so doch allezeit so, daß er immer neu nach diesem Quell wahren Lebens begehrte. So versteh« wir, daß sein Christentum auch im Verhältnis der Kon¬ fessionen gewissermaßen auf einer hohem Warte stand. Wie er, der Sohn der süddeutschen Erde, der mit Begeisterung in den Kampf um das neue Reich hinausgezogen war und sich mit Ehren das Eiserne Kreuz und mit ihm eine Letze fürs Leben geholt hatte, allezeit ein warmer und treuer kerndeutscher Mann war und sich doch daneben ans seinen weiten Reisen Gerechtigkeit gegen andre Völker und damit ein gewisses Weltbürgertum angeeignet hatte, so stand er auch im religiösen Leben. Allem Hader abhold, aller Schablone feind, eher nachgebend als das Seine schroff behauptend, vertrat er, obwohl für sich ein treuer und überzeugter Sohn des Protestantismus, doch auch hier ein gewisses religiöses Weltbürgertum. Was ihm die Hauptsache im religiösen Leben war, konnte er auch anderswo, wenn auch minder vollkommen ausge¬ prägt, finden. Möchte seine Weitherzigkeit und Milde auf allen Seiten Früchte tragen und Nachahmer gewinnen! Ich bin am Ettde. Ich habe Ihnen, leidtragende Freunde, das Bild Friedrich Ratzels zu zeichnen gesucht, so wie es mir sich, soweit ich seine Werke und den Umgang mit ihm im Augenblick ins Gedächtnis zurückrufen konnte, darstellte. Andre mögen wohl später vor allem das Bild des Gelehrten, vielleicht auch des Mannes, genauer und richtiger zeichnen — keiner subjektiv wahrer und wenige mit größerer Liebe und reinerer Hochachtung für seine Person. Was wir verloren haben, habe ich versucht zu schildern — die Freunde, die Kollegen, unsre Universität, das Vaterland und die Wissenschaft des weiten Erdkreises. Es ist viel, unendlich viel. Aber die Größe des Schmerzes kann und muß übertroffen werden von dem Gefühl der Freude und des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/531>, abgerufen am 24.06.2024.