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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Zu Friedrich Ralzels Gedächtnis

heute ist ihm eine gewaltige Geschichte, ein herrliches Epos, und er ist der
Homer, der es singt, oder ein hehres, aber noch dunkles, ungedcutetes Ge¬
mälde, und er selbst ist der Prophet, der es im Worte deutet. Wenn er in
einem Aufsatz den Bergkristall beschreibt, so führt er uns zurück in die Urzeit,
wo die Atome noch lose im Weltall ihr Spiel trieben, und zeigt uns, wie ein
Wille in der Natur sie bändigt und sie zusammenzwingt, daß sie sich fester
und fester aneinanderschmiegen, bis endlich in dem blinkenden Prisma Sonnen¬
licht und Weltall sich spiegeln. Oder wenn er in einem andern die "Königin
der Nacht" zeichnet, so zaubert er alle ihre Herrlichkeiten vor unser geistiges
Auge, um als das Letzte und Beste das zu erkennen, daß sich ein Teil ihrer
Schönheit an der Rückseite darstellt, da, wo kein Menschenauge sie ungesucht
finden kann, sondern nur die stille Freude der Natur selbst an ihrem Können
und das selige Genügen ihres Meisters an seinem Kunstwerk sie wahrnehmen.
Überall sieht er den Kosmos, das Kunstwerk in der Natur, überall Leben
und Geist, überall Zwecke und Ziele, überall eine waltende Vernunft, die
des Meisters.*)

Damit wird denn auch von selbst der Künstler zum Philosophen. Heißt
Philosophie das Vordringen zu den letzten Gründen der Erscheinungen, so
ist Friedrich Ratzel nach alledem, was wir schon von ihm gehört haben, in
der Tat ein Philosoph unter seinen Fachgenossen. Und wollte man ihn ein¬
reihen unter den Philosophen, die auf ihn gewirkt haben mögen, so scheinen
mir zwei sich um den Anteil an ihm streiten zu können. Der eine ist der
größte Sohn Israels seit den Tagen der Apostel, Baruch Spinoza. Manches
an ihm mochte Ratzel ablehnen, in manchem über ihn hinausgeschritten sein,
aber den Grundsatz, alle Dinge, wie Spinoza sagt, sub spsois aswrintiMs,
"im Lichte der Ewigkeit" zu betrachten, hat er mit ihm gemein. Natur,
Weltall, Erde, Menschen und Völker -- alles dient ihm großen ewigen Ge¬
setzen und Gedanken; alles auch in Geschichte, in Politik, in Handel und
Wandel, im Streit des Tages und der Meinungen hebt er hinauf auf eine
höhere Warte überlegner, ich möchte sagen: überzeitlicher Betrachtungsweise.
Wo andre hadern, sieht er überlegen zu, wo andre sich ereifern, hält er vor¬
nehm zurück und fragt: cui dovo suo spsoik g-stgruitiMs? -- was soll das für
das große Ganze und im Lichte der letzten Ziele der Geschichte und des Da¬
seins'der Völker und Menschen?

Wo aber Spinoza ihm nicht zureicht, da tritt für ihn, soweit ich sehe,
sein ehemaliger Leipziger Amtsgcnosse, der Naturforscher und Naturphilosoph
Fechner ein. Nicht umsonst hat bei Fechuers hundertsten Geburtstag auch



Eine nachträgliche Bestätigung dieser Auffassung kommt mir durch die Güte eines
Ratzel nahestehenden Freundes bei der Drucklegung des Obigen zu; ihm schrieb er einmal
als Erläuterung zu einer seiner kleinen Schriften die Worte: seine Absicht sei, zu zeigen, wie
in der Natur "sich endlos Schönes an Großes reiht" und tun zu lassen
Grenzboten >! > 1904 K9
Zu Friedrich Ralzels Gedächtnis

heute ist ihm eine gewaltige Geschichte, ein herrliches Epos, und er ist der
Homer, der es singt, oder ein hehres, aber noch dunkles, ungedcutetes Ge¬
mälde, und er selbst ist der Prophet, der es im Worte deutet. Wenn er in
einem Aufsatz den Bergkristall beschreibt, so führt er uns zurück in die Urzeit,
wo die Atome noch lose im Weltall ihr Spiel trieben, und zeigt uns, wie ein
Wille in der Natur sie bändigt und sie zusammenzwingt, daß sie sich fester
und fester aneinanderschmiegen, bis endlich in dem blinkenden Prisma Sonnen¬
licht und Weltall sich spiegeln. Oder wenn er in einem andern die „Königin
der Nacht" zeichnet, so zaubert er alle ihre Herrlichkeiten vor unser geistiges
Auge, um als das Letzte und Beste das zu erkennen, daß sich ein Teil ihrer
Schönheit an der Rückseite darstellt, da, wo kein Menschenauge sie ungesucht
finden kann, sondern nur die stille Freude der Natur selbst an ihrem Können
und das selige Genügen ihres Meisters an seinem Kunstwerk sie wahrnehmen.
Überall sieht er den Kosmos, das Kunstwerk in der Natur, überall Leben
und Geist, überall Zwecke und Ziele, überall eine waltende Vernunft, die
des Meisters.*)

Damit wird denn auch von selbst der Künstler zum Philosophen. Heißt
Philosophie das Vordringen zu den letzten Gründen der Erscheinungen, so
ist Friedrich Ratzel nach alledem, was wir schon von ihm gehört haben, in
der Tat ein Philosoph unter seinen Fachgenossen. Und wollte man ihn ein¬
reihen unter den Philosophen, die auf ihn gewirkt haben mögen, so scheinen
mir zwei sich um den Anteil an ihm streiten zu können. Der eine ist der
größte Sohn Israels seit den Tagen der Apostel, Baruch Spinoza. Manches
an ihm mochte Ratzel ablehnen, in manchem über ihn hinausgeschritten sein,
aber den Grundsatz, alle Dinge, wie Spinoza sagt, sub spsois aswrintiMs,
„im Lichte der Ewigkeit" zu betrachten, hat er mit ihm gemein. Natur,
Weltall, Erde, Menschen und Völker — alles dient ihm großen ewigen Ge¬
setzen und Gedanken; alles auch in Geschichte, in Politik, in Handel und
Wandel, im Streit des Tages und der Meinungen hebt er hinauf auf eine
höhere Warte überlegner, ich möchte sagen: überzeitlicher Betrachtungsweise.
Wo andre hadern, sieht er überlegen zu, wo andre sich ereifern, hält er vor¬
nehm zurück und fragt: cui dovo suo spsoik g-stgruitiMs? — was soll das für
das große Ganze und im Lichte der letzten Ziele der Geschichte und des Da¬
seins'der Völker und Menschen?

Wo aber Spinoza ihm nicht zureicht, da tritt für ihn, soweit ich sehe,
sein ehemaliger Leipziger Amtsgcnosse, der Naturforscher und Naturphilosoph
Fechner ein. Nicht umsonst hat bei Fechuers hundertsten Geburtstag auch



Eine nachträgliche Bestätigung dieser Auffassung kommt mir durch die Güte eines
Ratzel nahestehenden Freundes bei der Drucklegung des Obigen zu; ihm schrieb er einmal
als Erläuterung zu einer seiner kleinen Schriften die Worte: seine Absicht sei, zu zeigen, wie
in der Natur „sich endlos Schönes an Großes reiht" und tun zu lassen
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[0529] Zu Friedrich Ralzels Gedächtnis heute ist ihm eine gewaltige Geschichte, ein herrliches Epos, und er ist der Homer, der es singt, oder ein hehres, aber noch dunkles, ungedcutetes Ge¬ mälde, und er selbst ist der Prophet, der es im Worte deutet. Wenn er in einem Aufsatz den Bergkristall beschreibt, so führt er uns zurück in die Urzeit, wo die Atome noch lose im Weltall ihr Spiel trieben, und zeigt uns, wie ein Wille in der Natur sie bändigt und sie zusammenzwingt, daß sie sich fester und fester aneinanderschmiegen, bis endlich in dem blinkenden Prisma Sonnen¬ licht und Weltall sich spiegeln. Oder wenn er in einem andern die „Königin der Nacht" zeichnet, so zaubert er alle ihre Herrlichkeiten vor unser geistiges Auge, um als das Letzte und Beste das zu erkennen, daß sich ein Teil ihrer Schönheit an der Rückseite darstellt, da, wo kein Menschenauge sie ungesucht finden kann, sondern nur die stille Freude der Natur selbst an ihrem Können und das selige Genügen ihres Meisters an seinem Kunstwerk sie wahrnehmen. Überall sieht er den Kosmos, das Kunstwerk in der Natur, überall Leben und Geist, überall Zwecke und Ziele, überall eine waltende Vernunft, die des Meisters.*) Damit wird denn auch von selbst der Künstler zum Philosophen. Heißt Philosophie das Vordringen zu den letzten Gründen der Erscheinungen, so ist Friedrich Ratzel nach alledem, was wir schon von ihm gehört haben, in der Tat ein Philosoph unter seinen Fachgenossen. Und wollte man ihn ein¬ reihen unter den Philosophen, die auf ihn gewirkt haben mögen, so scheinen mir zwei sich um den Anteil an ihm streiten zu können. Der eine ist der größte Sohn Israels seit den Tagen der Apostel, Baruch Spinoza. Manches an ihm mochte Ratzel ablehnen, in manchem über ihn hinausgeschritten sein, aber den Grundsatz, alle Dinge, wie Spinoza sagt, sub spsois aswrintiMs, „im Lichte der Ewigkeit" zu betrachten, hat er mit ihm gemein. Natur, Weltall, Erde, Menschen und Völker — alles dient ihm großen ewigen Ge¬ setzen und Gedanken; alles auch in Geschichte, in Politik, in Handel und Wandel, im Streit des Tages und der Meinungen hebt er hinauf auf eine höhere Warte überlegner, ich möchte sagen: überzeitlicher Betrachtungsweise. Wo andre hadern, sieht er überlegen zu, wo andre sich ereifern, hält er vor¬ nehm zurück und fragt: cui dovo suo spsoik g-stgruitiMs? — was soll das für das große Ganze und im Lichte der letzten Ziele der Geschichte und des Da¬ seins'der Völker und Menschen? Wo aber Spinoza ihm nicht zureicht, da tritt für ihn, soweit ich sehe, sein ehemaliger Leipziger Amtsgcnosse, der Naturforscher und Naturphilosoph Fechner ein. Nicht umsonst hat bei Fechuers hundertsten Geburtstag auch Eine nachträgliche Bestätigung dieser Auffassung kommt mir durch die Güte eines Ratzel nahestehenden Freundes bei der Drucklegung des Obigen zu; ihm schrieb er einmal als Erläuterung zu einer seiner kleinen Schriften die Worte: seine Absicht sei, zu zeigen, wie in der Natur „sich endlos Schönes an Großes reiht" und tun zu lassen Grenzboten >! > 1904 K9

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/529>, abgerufen am 24.06.2024.