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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Zu Friedrich Ratzels Gedächtnis

Wer so ins Große arbeitet, der ist von selbst dessen sicher, das Herz der
Jugend zu gewinnen. So konnte es nicht anders kommen, als daß unser
Ratzel ein Lehrer von Gottes Gnaden war. In Scharen strömte die aka¬
demische Jugend zu seinem Hörsaal, mit begeistertem Dank lauschte sie seinen
Worten. Man muß es an seinen eignen Söhnen und Schülern erfahren haben,
um zu wissen, wie sehr sein Wort die studierende Jugend zu fesseln vermochte.
Die Klarheit und der schöne Fluß seiner Rede, die Tiefe und Weite seiner
Gedanken, die Meisterschaft über die Form, der Adel seiner Haltung und Ge¬
bärde machten seine Vorlesungen vielen zu Stunden hohen Genusses. Seinen
engern Schülern war er Freund, Berater und Helfer, oft bis an die Grenzen
der eignen Kraft. Sein tiefliegendes klarblaues Auge strahlte Milde, Wohl¬
wollen und natürliche Herzensgüte für jeden, der ihm nahe trat. Jetzt eben,
wie vor wenig Jahren bei seinem Professorenjubilüum, wetteiferten die dank¬
baren Schüler, seinen sechzigsten Geburtstag ihm zum Ehrentage zu machen.
Was unsre Universität und die andern hohen Schulen, an denen er früher
und bisher gewirkt hat, an Friedrich Ratzel verlieren, wird nachher noch von
andern ausgesprochen werden. Soviel darf ich aber hier schon sagen: die
Universität Leipzig verliert in ihm einen ihrer leuchtendsten Sterne, und im
Kreise seiner Amtsgenossen bis auf den letzten Mann, dessen bin ich gewiß,
klingt der Schmerz und die Trauer nach, daß dieses holde Gestirn uns nun
so jäh erbleicht ist.

Aber Friedrich Ratzel war nicht bloß Gelehrter und Lehrer, er war da¬
neben und in beidem ein echter Künstler unter den Geographen. Jedes Buch
von Ratzel war ein Kunstwerk; jeder seiner zahlreichen Essays ein Edelstein
oder vielmehr ein Schmuckkästchen mit kunstvoll geschliffnen und wohl zusammen¬
gefügten edeln Steinen. Wo er die Feder ergreift, da wird sie ihm zum Pinsel
des Malers und zum Griffel des Dichters; was er schreibt, sind Verse in
Prosa und Gemälde in Worten. Sein Blick für das Schöne in der Natur,
sein warmes Herz für sie, seine reiche Phantasie, seine Herrschaft über das
Wort und die Form wirken zusammen, ihn zu einem gelehrten Künstler im
Worte zu machen.

Sein Blick in die Natur ist der Blick des gelehrten Poeten. Überall
sieht dieser Naturforscher nicht die "Natur," wie so viele andre sie sehen,
als ein Zusammensein von anorganischen und organischen Dingen und Ge¬
bilden, die eben da sind und wieder gehn -- sein Blick sieht gleichsam durch
die Dinge hindurch auf ihren tiefsten Grund, und dieser tiefste Grund ist
ihm Geist und Leben.

Und wäre es der härteste und sprödeste Stoff, ihm lebt er, ihm erzählt
er eine Geschichte. Die Blume des Feldes, ihm redet sie; die Welle des
Meeres, ihm raunt ihr Rauschen etwas zu; die hochaufgetürmten Bergriesen,
die wandernden Gletscher berichten ihm von mächtigen Kämpfen der Urzeit,
der eilende Wüstensand mit seinen bizarren Gebilden und seiner Länder und
Städte verheerenden Macht erzählt ihm vom Ringen feindlicher Gewalten
auf Erden.

Das ganze Werden und Geschehen in der Natur vom Uranbeginn bis


Zu Friedrich Ratzels Gedächtnis

Wer so ins Große arbeitet, der ist von selbst dessen sicher, das Herz der
Jugend zu gewinnen. So konnte es nicht anders kommen, als daß unser
Ratzel ein Lehrer von Gottes Gnaden war. In Scharen strömte die aka¬
demische Jugend zu seinem Hörsaal, mit begeistertem Dank lauschte sie seinen
Worten. Man muß es an seinen eignen Söhnen und Schülern erfahren haben,
um zu wissen, wie sehr sein Wort die studierende Jugend zu fesseln vermochte.
Die Klarheit und der schöne Fluß seiner Rede, die Tiefe und Weite seiner
Gedanken, die Meisterschaft über die Form, der Adel seiner Haltung und Ge¬
bärde machten seine Vorlesungen vielen zu Stunden hohen Genusses. Seinen
engern Schülern war er Freund, Berater und Helfer, oft bis an die Grenzen
der eignen Kraft. Sein tiefliegendes klarblaues Auge strahlte Milde, Wohl¬
wollen und natürliche Herzensgüte für jeden, der ihm nahe trat. Jetzt eben,
wie vor wenig Jahren bei seinem Professorenjubilüum, wetteiferten die dank¬
baren Schüler, seinen sechzigsten Geburtstag ihm zum Ehrentage zu machen.
Was unsre Universität und die andern hohen Schulen, an denen er früher
und bisher gewirkt hat, an Friedrich Ratzel verlieren, wird nachher noch von
andern ausgesprochen werden. Soviel darf ich aber hier schon sagen: die
Universität Leipzig verliert in ihm einen ihrer leuchtendsten Sterne, und im
Kreise seiner Amtsgenossen bis auf den letzten Mann, dessen bin ich gewiß,
klingt der Schmerz und die Trauer nach, daß dieses holde Gestirn uns nun
so jäh erbleicht ist.

Aber Friedrich Ratzel war nicht bloß Gelehrter und Lehrer, er war da¬
neben und in beidem ein echter Künstler unter den Geographen. Jedes Buch
von Ratzel war ein Kunstwerk; jeder seiner zahlreichen Essays ein Edelstein
oder vielmehr ein Schmuckkästchen mit kunstvoll geschliffnen und wohl zusammen¬
gefügten edeln Steinen. Wo er die Feder ergreift, da wird sie ihm zum Pinsel
des Malers und zum Griffel des Dichters; was er schreibt, sind Verse in
Prosa und Gemälde in Worten. Sein Blick für das Schöne in der Natur,
sein warmes Herz für sie, seine reiche Phantasie, seine Herrschaft über das
Wort und die Form wirken zusammen, ihn zu einem gelehrten Künstler im
Worte zu machen.

Sein Blick in die Natur ist der Blick des gelehrten Poeten. Überall
sieht dieser Naturforscher nicht die „Natur," wie so viele andre sie sehen,
als ein Zusammensein von anorganischen und organischen Dingen und Ge¬
bilden, die eben da sind und wieder gehn — sein Blick sieht gleichsam durch
die Dinge hindurch auf ihren tiefsten Grund, und dieser tiefste Grund ist
ihm Geist und Leben.

Und wäre es der härteste und sprödeste Stoff, ihm lebt er, ihm erzählt
er eine Geschichte. Die Blume des Feldes, ihm redet sie; die Welle des
Meeres, ihm raunt ihr Rauschen etwas zu; die hochaufgetürmten Bergriesen,
die wandernden Gletscher berichten ihm von mächtigen Kämpfen der Urzeit,
der eilende Wüstensand mit seinen bizarren Gebilden und seiner Länder und
Städte verheerenden Macht erzählt ihm vom Ringen feindlicher Gewalten
auf Erden.

Das ganze Werden und Geschehen in der Natur vom Uranbeginn bis


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[0528] Zu Friedrich Ratzels Gedächtnis Wer so ins Große arbeitet, der ist von selbst dessen sicher, das Herz der Jugend zu gewinnen. So konnte es nicht anders kommen, als daß unser Ratzel ein Lehrer von Gottes Gnaden war. In Scharen strömte die aka¬ demische Jugend zu seinem Hörsaal, mit begeistertem Dank lauschte sie seinen Worten. Man muß es an seinen eignen Söhnen und Schülern erfahren haben, um zu wissen, wie sehr sein Wort die studierende Jugend zu fesseln vermochte. Die Klarheit und der schöne Fluß seiner Rede, die Tiefe und Weite seiner Gedanken, die Meisterschaft über die Form, der Adel seiner Haltung und Ge¬ bärde machten seine Vorlesungen vielen zu Stunden hohen Genusses. Seinen engern Schülern war er Freund, Berater und Helfer, oft bis an die Grenzen der eignen Kraft. Sein tiefliegendes klarblaues Auge strahlte Milde, Wohl¬ wollen und natürliche Herzensgüte für jeden, der ihm nahe trat. Jetzt eben, wie vor wenig Jahren bei seinem Professorenjubilüum, wetteiferten die dank¬ baren Schüler, seinen sechzigsten Geburtstag ihm zum Ehrentage zu machen. Was unsre Universität und die andern hohen Schulen, an denen er früher und bisher gewirkt hat, an Friedrich Ratzel verlieren, wird nachher noch von andern ausgesprochen werden. Soviel darf ich aber hier schon sagen: die Universität Leipzig verliert in ihm einen ihrer leuchtendsten Sterne, und im Kreise seiner Amtsgenossen bis auf den letzten Mann, dessen bin ich gewiß, klingt der Schmerz und die Trauer nach, daß dieses holde Gestirn uns nun so jäh erbleicht ist. Aber Friedrich Ratzel war nicht bloß Gelehrter und Lehrer, er war da¬ neben und in beidem ein echter Künstler unter den Geographen. Jedes Buch von Ratzel war ein Kunstwerk; jeder seiner zahlreichen Essays ein Edelstein oder vielmehr ein Schmuckkästchen mit kunstvoll geschliffnen und wohl zusammen¬ gefügten edeln Steinen. Wo er die Feder ergreift, da wird sie ihm zum Pinsel des Malers und zum Griffel des Dichters; was er schreibt, sind Verse in Prosa und Gemälde in Worten. Sein Blick für das Schöne in der Natur, sein warmes Herz für sie, seine reiche Phantasie, seine Herrschaft über das Wort und die Form wirken zusammen, ihn zu einem gelehrten Künstler im Worte zu machen. Sein Blick in die Natur ist der Blick des gelehrten Poeten. Überall sieht dieser Naturforscher nicht die „Natur," wie so viele andre sie sehen, als ein Zusammensein von anorganischen und organischen Dingen und Ge¬ bilden, die eben da sind und wieder gehn — sein Blick sieht gleichsam durch die Dinge hindurch auf ihren tiefsten Grund, und dieser tiefste Grund ist ihm Geist und Leben. Und wäre es der härteste und sprödeste Stoff, ihm lebt er, ihm erzählt er eine Geschichte. Die Blume des Feldes, ihm redet sie; die Welle des Meeres, ihm raunt ihr Rauschen etwas zu; die hochaufgetürmten Bergriesen, die wandernden Gletscher berichten ihm von mächtigen Kämpfen der Urzeit, der eilende Wüstensand mit seinen bizarren Gebilden und seiner Länder und Städte verheerenden Macht erzählt ihm vom Ringen feindlicher Gewalten auf Erden. Das ganze Werden und Geschehen in der Natur vom Uranbeginn bis

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/528>, abgerufen am 24.06.2024.