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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Zu Friedrich Ratzeis Gedächtnis

geistige Eigenart, so wie sie sich mir darstellten, Ihnen zu zeichnen, so glaube
ich das am ehesten in der Weise tun zu können, daß ich Sie, die Sie ihn ja
zumeist persönlich nahe gekannt haben, daran erinnere, daß Friedrich Ratzel
nicht allein ein Gelehrter und ein Lehrer von Gottes Gnaden war, sondern
auch zugleich ein Künstler unter den Gelehrten seiner Wissenschaft, den Geo¬
graphen, ebenso aber auch ein Philosoph unter seinen Fachgenossen und nicht
minder endlich ein auch öffentlich und mit der Feder sich betütigender tief
religiöser Charakter, ein lauterer Christ unter den Geographen und Natur¬
forschern.




Daß Ratzel ein Gelehrter und ein Lehrer von Gottes Gnaden war, wissen
die, die einen Blick in seine Schriften und in seinen Hörsaal getan haben. Sein
Ideal war Karl Ritter, den er mit Stolz und Bescheidenheit seinen Lehrer
nannte. Mit ihm hat er gemein den Blick ins Große, die Scheu, am Kleinen
und Einzelnen haften zu bleiben. Ihm genügte es nicht, die Erde und ihre
Teile zu beschreiben, die äußere Gestalt einzelner Länder und Erdgebilde dar¬
zustellen, die Statistik ihrer Bewohner und ihrer Lebensverhältnisse aufzunehmen.
Sein Blick ging weiter und umfaßte mehr, das Letzte und Höchste war allezeit
sein Ziel, die Herstellung der großen Zusammenhänge seine Freude. Das
Weltall in seinem Entsteh" und Werden; -- die Erde von ihren Uranfängen
an; -- der Mensch, wie er war und ist und sein wird: das waren die Linien,
in denen sich sein Denken und Forschen bewegte, und das Letzte war ihm immer
der Mensch. Er ist ihm das eigentliche Objekt der Geographie. Menschen¬
geographie ist sein Ziel. Vom Paläontologen und Erdbeschreiber wird er zum
Anthropologen im weitesten Sinne.

Wie das Weltall die Erde, die Erde den Menschen werden und sich ge¬
stalten sieht, wie Erdgestalt und natürliche Bedingungen, wie Meeresbranden
und Wüstensand auf Menschen und Völker wirken und sie zu dem machen,
was sie geworden sind -- wie Natur und Kultur zusammenarbeiten und in
steter Wechselwirkung stehn, wie sich der Weltverkehr über die Erde hin ge¬
staltet, was seine Hemmungen, was seine Bedingungen sind, wie aus ihnen
die großen sozialen Aufgaben und immer neue Probleme des Völkerlebens
herauswachsen; wie Sitten und Sagen über den Erdball wandern, wie der
Menschen Tun und Treiben in der Urzeit war und an den entlegensten Punkten
des Erdballs heute ist, und wie alles das mit unsichtbaren Fäden unter sich
verknüpft ist: das und vieles andre sind die Fragen, die ihn beschäftigen, die
Themata, die ihn reizen.

Sie führten ihn auch von selbst in fruchtbaren Verkehr mit uns andern.
Es war ein stetes Geben und Nehmen. Er holte bei uns von der orientalischen
und der biblischen Sprachwissenschaft und Altertumskunde, er holte bei der
Assyriologie und der Scmskritistik, bei der Sprachvergleichung, der Mythologie
und der alten Geschichte, was er brauchte, um es seinen großen Gedanken-
reihen einzugliedern, und er gab uns allen dafür vielfach Winke, Ideen und
Gesichtspunkte für die Verarbeitung und Wertung des uns zugänglichen Stoffes.


Zu Friedrich Ratzeis Gedächtnis

geistige Eigenart, so wie sie sich mir darstellten, Ihnen zu zeichnen, so glaube
ich das am ehesten in der Weise tun zu können, daß ich Sie, die Sie ihn ja
zumeist persönlich nahe gekannt haben, daran erinnere, daß Friedrich Ratzel
nicht allein ein Gelehrter und ein Lehrer von Gottes Gnaden war, sondern
auch zugleich ein Künstler unter den Gelehrten seiner Wissenschaft, den Geo¬
graphen, ebenso aber auch ein Philosoph unter seinen Fachgenossen und nicht
minder endlich ein auch öffentlich und mit der Feder sich betütigender tief
religiöser Charakter, ein lauterer Christ unter den Geographen und Natur¬
forschern.




Daß Ratzel ein Gelehrter und ein Lehrer von Gottes Gnaden war, wissen
die, die einen Blick in seine Schriften und in seinen Hörsaal getan haben. Sein
Ideal war Karl Ritter, den er mit Stolz und Bescheidenheit seinen Lehrer
nannte. Mit ihm hat er gemein den Blick ins Große, die Scheu, am Kleinen
und Einzelnen haften zu bleiben. Ihm genügte es nicht, die Erde und ihre
Teile zu beschreiben, die äußere Gestalt einzelner Länder und Erdgebilde dar¬
zustellen, die Statistik ihrer Bewohner und ihrer Lebensverhältnisse aufzunehmen.
Sein Blick ging weiter und umfaßte mehr, das Letzte und Höchste war allezeit
sein Ziel, die Herstellung der großen Zusammenhänge seine Freude. Das
Weltall in seinem Entsteh» und Werden; — die Erde von ihren Uranfängen
an; — der Mensch, wie er war und ist und sein wird: das waren die Linien,
in denen sich sein Denken und Forschen bewegte, und das Letzte war ihm immer
der Mensch. Er ist ihm das eigentliche Objekt der Geographie. Menschen¬
geographie ist sein Ziel. Vom Paläontologen und Erdbeschreiber wird er zum
Anthropologen im weitesten Sinne.

Wie das Weltall die Erde, die Erde den Menschen werden und sich ge¬
stalten sieht, wie Erdgestalt und natürliche Bedingungen, wie Meeresbranden
und Wüstensand auf Menschen und Völker wirken und sie zu dem machen,
was sie geworden sind — wie Natur und Kultur zusammenarbeiten und in
steter Wechselwirkung stehn, wie sich der Weltverkehr über die Erde hin ge¬
staltet, was seine Hemmungen, was seine Bedingungen sind, wie aus ihnen
die großen sozialen Aufgaben und immer neue Probleme des Völkerlebens
herauswachsen; wie Sitten und Sagen über den Erdball wandern, wie der
Menschen Tun und Treiben in der Urzeit war und an den entlegensten Punkten
des Erdballs heute ist, und wie alles das mit unsichtbaren Fäden unter sich
verknüpft ist: das und vieles andre sind die Fragen, die ihn beschäftigen, die
Themata, die ihn reizen.

Sie führten ihn auch von selbst in fruchtbaren Verkehr mit uns andern.
Es war ein stetes Geben und Nehmen. Er holte bei uns von der orientalischen
und der biblischen Sprachwissenschaft und Altertumskunde, er holte bei der
Assyriologie und der Scmskritistik, bei der Sprachvergleichung, der Mythologie
und der alten Geschichte, was er brauchte, um es seinen großen Gedanken-
reihen einzugliedern, und er gab uns allen dafür vielfach Winke, Ideen und
Gesichtspunkte für die Verarbeitung und Wertung des uns zugänglichen Stoffes.


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[0527] Zu Friedrich Ratzeis Gedächtnis geistige Eigenart, so wie sie sich mir darstellten, Ihnen zu zeichnen, so glaube ich das am ehesten in der Weise tun zu können, daß ich Sie, die Sie ihn ja zumeist persönlich nahe gekannt haben, daran erinnere, daß Friedrich Ratzel nicht allein ein Gelehrter und ein Lehrer von Gottes Gnaden war, sondern auch zugleich ein Künstler unter den Gelehrten seiner Wissenschaft, den Geo¬ graphen, ebenso aber auch ein Philosoph unter seinen Fachgenossen und nicht minder endlich ein auch öffentlich und mit der Feder sich betütigender tief religiöser Charakter, ein lauterer Christ unter den Geographen und Natur¬ forschern. Daß Ratzel ein Gelehrter und ein Lehrer von Gottes Gnaden war, wissen die, die einen Blick in seine Schriften und in seinen Hörsaal getan haben. Sein Ideal war Karl Ritter, den er mit Stolz und Bescheidenheit seinen Lehrer nannte. Mit ihm hat er gemein den Blick ins Große, die Scheu, am Kleinen und Einzelnen haften zu bleiben. Ihm genügte es nicht, die Erde und ihre Teile zu beschreiben, die äußere Gestalt einzelner Länder und Erdgebilde dar¬ zustellen, die Statistik ihrer Bewohner und ihrer Lebensverhältnisse aufzunehmen. Sein Blick ging weiter und umfaßte mehr, das Letzte und Höchste war allezeit sein Ziel, die Herstellung der großen Zusammenhänge seine Freude. Das Weltall in seinem Entsteh» und Werden; — die Erde von ihren Uranfängen an; — der Mensch, wie er war und ist und sein wird: das waren die Linien, in denen sich sein Denken und Forschen bewegte, und das Letzte war ihm immer der Mensch. Er ist ihm das eigentliche Objekt der Geographie. Menschen¬ geographie ist sein Ziel. Vom Paläontologen und Erdbeschreiber wird er zum Anthropologen im weitesten Sinne. Wie das Weltall die Erde, die Erde den Menschen werden und sich ge¬ stalten sieht, wie Erdgestalt und natürliche Bedingungen, wie Meeresbranden und Wüstensand auf Menschen und Völker wirken und sie zu dem machen, was sie geworden sind — wie Natur und Kultur zusammenarbeiten und in steter Wechselwirkung stehn, wie sich der Weltverkehr über die Erde hin ge¬ staltet, was seine Hemmungen, was seine Bedingungen sind, wie aus ihnen die großen sozialen Aufgaben und immer neue Probleme des Völkerlebens herauswachsen; wie Sitten und Sagen über den Erdball wandern, wie der Menschen Tun und Treiben in der Urzeit war und an den entlegensten Punkten des Erdballs heute ist, und wie alles das mit unsichtbaren Fäden unter sich verknüpft ist: das und vieles andre sind die Fragen, die ihn beschäftigen, die Themata, die ihn reizen. Sie führten ihn auch von selbst in fruchtbaren Verkehr mit uns andern. Es war ein stetes Geben und Nehmen. Er holte bei uns von der orientalischen und der biblischen Sprachwissenschaft und Altertumskunde, er holte bei der Assyriologie und der Scmskritistik, bei der Sprachvergleichung, der Mythologie und der alten Geschichte, was er brauchte, um es seinen großen Gedanken- reihen einzugliedern, und er gab uns allen dafür vielfach Winke, Ideen und Gesichtspunkte für die Verarbeitung und Wertung des uns zugänglichen Stoffes.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/527>, abgerufen am 24.06.2024.