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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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schwäbisches Weltbürgertum vor hundert Jahren

mußten. -- Graf Reinhard hinterließ einen Sohn und eine Tochter. Der Sohn
starb als französischer Diplomat im Jahre 1873. Die Tochter aber starb nach
wechselvollen Schicksalen 1861 in Tübingen als eine verwitwete Frau Major
von Diemar.

Und nun das Fazit aus diesem Stuck schwäbischen Weltbürgertums?
Davon, daß Reinhard durch sein konsequent durchgeführtes kosmopolitisches
Prinzip ein Renegat und Apostat, ja ein Vaterlandsverräter und französischer
Scherge geworden sei, wie ihm dies Ernst Moritz Arndt in der Hitze seines
glühenden Patriotismus zum Vorwurf gemacht hat, kann gar keine Rede sein.
Arndt hat sich in das Wesen Reinharts gar nicht hineindenken können.

Reinhard stand als Philosoph über den Parteien und Nationalitäten. Er
war weder deutscher noch französischer Patriot. Wohl war es die Folge seines
freien Entschlusses, daß er in der Welt an den französischen Tisch zu sitzen
kam. Aber nicht Frankreich als solchem glaubte er zu dienen; sondern was er
glaubte, war das: man könne die Tugenden und Pflichten eines Weltbürgers,
so wie die Zeitverhältnisse lagen, verhältnismäßig am vollkommensten nicht ans
deutschem, sondern auf französischem Boden erfüllen. So verstanden ihn auch
die Franzosen selbst, vor allem Sieyes, Napoleon und Tallehrand. Nur mit
seinem äußern Menschen sozusagen gehörte er also Frankreich an, mit seinem Kopf
aber gehörte er nicht zu Frankreich, sondern zu einer Art von philosophischem
Idealstaat, dem Weltbürgertum. Sein Herz jedoch schlug deutsch. Deutsch hat
er gedichtet, deutsch hat er geliebt, deutsch mit seinen Freunden in der Heimat
korrespondiert, und nach Deutschland, besonders nach Süddeutschland, zur Schwä¬
bischen Alb und in die Schweizerberge und an den deutschen Rhein hat er im
Alter seine Erholungsreisen unternommen. Nur noch Goethe stand auf dieser
Hohe des Weltbürgertums. Dies hat auch die beiden Einsamen so innig ver¬
bunden.

Gleichwohl kann nicht geleugnet werden, daß Goethe dabei eins dein
Freunde voraus hatte: Goethe war im Lande seiner Geburt geblieben. Er hat
das Problem des Weltbürgertums nur in der Theorie gelöst. Reinhard da¬
gegen zog die letzte Konsequenz ihres gemeinsamen Standpunkts. Er hat das
Problem auch praktisch gelöst, indem er sich ihm zuliebe von dem Lande, das
ihn geboren hatte, trennte.

Aber diese Lösung hat ihn offenbar nie ganz befriedigt. Reinhard fühlte
sich nirgends mehr heimisch. Er hatte sich in einen dauernden und schweren
Konflikt der Pflichten verstrickt. Seelenkämpfe sind ihm in der Folge nicht
erspart geblieben. Es ist ihm in seiner kosmopolitischen, genauer deutsch-fran¬
zösischen Haut nie ganz wohl geworden, wenn auch der Diplomat in ihm es
ihm verbot, sogar dem Freunde in Weimar darüber zu beichte". Aber ein Jahr
vor seinem Tode äußerte er: "Ich habe die Politik übersatt; sie ist einmal
mein Beruf gewesen. Und so kann es geschehen, daß man den Weg verfehlt
sein ganzes Leben lang."

Sollten wir ihm darob zürnen? Gewiß nicht. Wir sind froh, daß wir
dieses Geständnis von ihm haben, wie er froh gewesen sein wird, daß es um
einmal heraus war, was er solange schweigend mit sich hatte herumtrage"


schwäbisches Weltbürgertum vor hundert Jahren

mußten. — Graf Reinhard hinterließ einen Sohn und eine Tochter. Der Sohn
starb als französischer Diplomat im Jahre 1873. Die Tochter aber starb nach
wechselvollen Schicksalen 1861 in Tübingen als eine verwitwete Frau Major
von Diemar.

Und nun das Fazit aus diesem Stuck schwäbischen Weltbürgertums?
Davon, daß Reinhard durch sein konsequent durchgeführtes kosmopolitisches
Prinzip ein Renegat und Apostat, ja ein Vaterlandsverräter und französischer
Scherge geworden sei, wie ihm dies Ernst Moritz Arndt in der Hitze seines
glühenden Patriotismus zum Vorwurf gemacht hat, kann gar keine Rede sein.
Arndt hat sich in das Wesen Reinharts gar nicht hineindenken können.

Reinhard stand als Philosoph über den Parteien und Nationalitäten. Er
war weder deutscher noch französischer Patriot. Wohl war es die Folge seines
freien Entschlusses, daß er in der Welt an den französischen Tisch zu sitzen
kam. Aber nicht Frankreich als solchem glaubte er zu dienen; sondern was er
glaubte, war das: man könne die Tugenden und Pflichten eines Weltbürgers,
so wie die Zeitverhältnisse lagen, verhältnismäßig am vollkommensten nicht ans
deutschem, sondern auf französischem Boden erfüllen. So verstanden ihn auch
die Franzosen selbst, vor allem Sieyes, Napoleon und Tallehrand. Nur mit
seinem äußern Menschen sozusagen gehörte er also Frankreich an, mit seinem Kopf
aber gehörte er nicht zu Frankreich, sondern zu einer Art von philosophischem
Idealstaat, dem Weltbürgertum. Sein Herz jedoch schlug deutsch. Deutsch hat
er gedichtet, deutsch hat er geliebt, deutsch mit seinen Freunden in der Heimat
korrespondiert, und nach Deutschland, besonders nach Süddeutschland, zur Schwä¬
bischen Alb und in die Schweizerberge und an den deutschen Rhein hat er im
Alter seine Erholungsreisen unternommen. Nur noch Goethe stand auf dieser
Hohe des Weltbürgertums. Dies hat auch die beiden Einsamen so innig ver¬
bunden.

Gleichwohl kann nicht geleugnet werden, daß Goethe dabei eins dein
Freunde voraus hatte: Goethe war im Lande seiner Geburt geblieben. Er hat
das Problem des Weltbürgertums nur in der Theorie gelöst. Reinhard da¬
gegen zog die letzte Konsequenz ihres gemeinsamen Standpunkts. Er hat das
Problem auch praktisch gelöst, indem er sich ihm zuliebe von dem Lande, das
ihn geboren hatte, trennte.

Aber diese Lösung hat ihn offenbar nie ganz befriedigt. Reinhard fühlte
sich nirgends mehr heimisch. Er hatte sich in einen dauernden und schweren
Konflikt der Pflichten verstrickt. Seelenkämpfe sind ihm in der Folge nicht
erspart geblieben. Es ist ihm in seiner kosmopolitischen, genauer deutsch-fran¬
zösischen Haut nie ganz wohl geworden, wenn auch der Diplomat in ihm es
ihm verbot, sogar dem Freunde in Weimar darüber zu beichte». Aber ein Jahr
vor seinem Tode äußerte er: „Ich habe die Politik übersatt; sie ist einmal
mein Beruf gewesen. Und so kann es geschehen, daß man den Weg verfehlt
sein ganzes Leben lang."

Sollten wir ihm darob zürnen? Gewiß nicht. Wir sind froh, daß wir
dieses Geständnis von ihm haben, wie er froh gewesen sein wird, daß es um
einmal heraus war, was er solange schweigend mit sich hatte herumtrage"


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[0512] schwäbisches Weltbürgertum vor hundert Jahren mußten. — Graf Reinhard hinterließ einen Sohn und eine Tochter. Der Sohn starb als französischer Diplomat im Jahre 1873. Die Tochter aber starb nach wechselvollen Schicksalen 1861 in Tübingen als eine verwitwete Frau Major von Diemar. Und nun das Fazit aus diesem Stuck schwäbischen Weltbürgertums? Davon, daß Reinhard durch sein konsequent durchgeführtes kosmopolitisches Prinzip ein Renegat und Apostat, ja ein Vaterlandsverräter und französischer Scherge geworden sei, wie ihm dies Ernst Moritz Arndt in der Hitze seines glühenden Patriotismus zum Vorwurf gemacht hat, kann gar keine Rede sein. Arndt hat sich in das Wesen Reinharts gar nicht hineindenken können. Reinhard stand als Philosoph über den Parteien und Nationalitäten. Er war weder deutscher noch französischer Patriot. Wohl war es die Folge seines freien Entschlusses, daß er in der Welt an den französischen Tisch zu sitzen kam. Aber nicht Frankreich als solchem glaubte er zu dienen; sondern was er glaubte, war das: man könne die Tugenden und Pflichten eines Weltbürgers, so wie die Zeitverhältnisse lagen, verhältnismäßig am vollkommensten nicht ans deutschem, sondern auf französischem Boden erfüllen. So verstanden ihn auch die Franzosen selbst, vor allem Sieyes, Napoleon und Tallehrand. Nur mit seinem äußern Menschen sozusagen gehörte er also Frankreich an, mit seinem Kopf aber gehörte er nicht zu Frankreich, sondern zu einer Art von philosophischem Idealstaat, dem Weltbürgertum. Sein Herz jedoch schlug deutsch. Deutsch hat er gedichtet, deutsch hat er geliebt, deutsch mit seinen Freunden in der Heimat korrespondiert, und nach Deutschland, besonders nach Süddeutschland, zur Schwä¬ bischen Alb und in die Schweizerberge und an den deutschen Rhein hat er im Alter seine Erholungsreisen unternommen. Nur noch Goethe stand auf dieser Hohe des Weltbürgertums. Dies hat auch die beiden Einsamen so innig ver¬ bunden. Gleichwohl kann nicht geleugnet werden, daß Goethe dabei eins dein Freunde voraus hatte: Goethe war im Lande seiner Geburt geblieben. Er hat das Problem des Weltbürgertums nur in der Theorie gelöst. Reinhard da¬ gegen zog die letzte Konsequenz ihres gemeinsamen Standpunkts. Er hat das Problem auch praktisch gelöst, indem er sich ihm zuliebe von dem Lande, das ihn geboren hatte, trennte. Aber diese Lösung hat ihn offenbar nie ganz befriedigt. Reinhard fühlte sich nirgends mehr heimisch. Er hatte sich in einen dauernden und schweren Konflikt der Pflichten verstrickt. Seelenkämpfe sind ihm in der Folge nicht erspart geblieben. Es ist ihm in seiner kosmopolitischen, genauer deutsch-fran¬ zösischen Haut nie ganz wohl geworden, wenn auch der Diplomat in ihm es ihm verbot, sogar dem Freunde in Weimar darüber zu beichte». Aber ein Jahr vor seinem Tode äußerte er: „Ich habe die Politik übersatt; sie ist einmal mein Beruf gewesen. Und so kann es geschehen, daß man den Weg verfehlt sein ganzes Leben lang." Sollten wir ihm darob zürnen? Gewiß nicht. Wir sind froh, daß wir dieses Geständnis von ihm haben, wie er froh gewesen sein wird, daß es um einmal heraus war, was er solange schweigend mit sich hatte herumtrage"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/512>, abgerufen am 24.06.2024.