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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Weltliche Musik im alten Leipzig

mais erst entwickelnden Sinn für künstlichem Strophenbau mit feiner Berech¬
nung für die Wiederkehr von Zeilenrhythmus, Reim und teilweise auch Melodie
an bestimmten Stellen der ersten Aufgesangsstellen wie des Abgesanges, so haben
wir die musikalischen Grundlagen des deutschen Minnesangs.

Der Minnesang war keine Sache der damals noch kleinen deutschen
Burgstädte, sondern der Adelssitze und namentlich der jungen Fürstenhöfe der
Stauferzeit. Trotzdem hat Leipzig in der Geschichte des Minnesangs eine Stelle
erhalten: hier lebte in spätern Jahren Heinrich von Morungen -- er bezog
von dem Meißner Markgrafen einen Nentengehalt aus der Leipziger Münze,
den er gegen 1220 dem Thomaskloster zu überschreiben bat, vielleicht weil er
sich damals in dieses zurückzog -- und starb hier in hohem Alter, von Hause
ein nordthüringischer Ritter. Morungen war das größte lyrische Talent Deutsch¬
lands vor Walther von der Vogelweide. Seine Lieder waren lauge berühmt,
noch hundert und mehr Jahre später wurden sie in Südwestdeutschland hier und
dort abgeschrieben, nur wenige davon vereinzelt unter einem falschen Namen und
auch dann immer unter einem der besten der Früh- und Hochzeit des Minne¬
sangs, Dietmars von Alse, Reinmars des Alten oder Walthers selbst. Vielleicht
war er übrigens Walthers unmittelbarer Vorgänger als politischer Sängerbote
des meißnischen Markgrafen, vielleicht sind beide auch einander bekannt gewesen,
denn es klingt manche eigentümliche Wendung Morungens in Walthers spätern
Liedern an, und Leipzig liegt mitten auf dem Wege von der Wartburg nach
Dobrilugk, den beiden bekanntesten Aufenthaltsorten Walthers in Thüringen
und in Meißen. Von Morungenschen Melodien ist ebensowenig etwas erhalten
wie von denen Walthers. Den Tripeltakt wandte er, nach deu Texten zu
urteilen, vereinzelt und dann mit großem Geschick an, vielleicht gewährte er auch
der provenzalischen Musik Einfluß auf seine Weisen, wie er ein provenzalisches
Liedvorbild nachdichtete. Gewiß war er ein vorzüglicher Sänger seiner Zeit;
"zum Gesang bin ich geboren" ruft er einmal froh und stolz seinem Publikum
zu. Und seine Vortragskuust erhob sich naiv und kräftig über das Erlebnis,
das seinen Worten zugrunde lag, sodaß ihm welche die Wahrheit seiner flehenden
Minnelieder nicht glaubten:

Freilich: alles Singen gab sich damals noch heiter; die Lust an der Aus¬
übung der Kunst ließ alle Erfinderschmerzen vergessen. Noch niemand hat
damals in Deutschland etwa mit individualisierender Beseelung im einzelnen
gesungen. Auch die Melodiczeilcn des Minnesangs haben, so abwechslungsreich
sie gegenüber der stereotypen Zeilenwiederholung der primitiven Musik waren, und
so unbedingt sie auf den Einzelvortrag hinweisen, nur einen ganz allgemeinen
Gefühlswert gehabt, nirgends hat sich z. B. der Erfinder einer Weise des drei¬
zehnten Jahrhunderts für das Steigen oder Fallen seiner Melodie in charak¬
terisierendem Anschluß an den Inhalt von Textworten entschieden. Hätte man
sonst wohl auch deu Nachtgesang unter dem Fenster der geliebten Fran häufig,
wie es auch Morungen von sich sagt, einem singenden Diener überlassen?


Weltliche Musik im alten Leipzig

mais erst entwickelnden Sinn für künstlichem Strophenbau mit feiner Berech¬
nung für die Wiederkehr von Zeilenrhythmus, Reim und teilweise auch Melodie
an bestimmten Stellen der ersten Aufgesangsstellen wie des Abgesanges, so haben
wir die musikalischen Grundlagen des deutschen Minnesangs.

Der Minnesang war keine Sache der damals noch kleinen deutschen
Burgstädte, sondern der Adelssitze und namentlich der jungen Fürstenhöfe der
Stauferzeit. Trotzdem hat Leipzig in der Geschichte des Minnesangs eine Stelle
erhalten: hier lebte in spätern Jahren Heinrich von Morungen — er bezog
von dem Meißner Markgrafen einen Nentengehalt aus der Leipziger Münze,
den er gegen 1220 dem Thomaskloster zu überschreiben bat, vielleicht weil er
sich damals in dieses zurückzog — und starb hier in hohem Alter, von Hause
ein nordthüringischer Ritter. Morungen war das größte lyrische Talent Deutsch¬
lands vor Walther von der Vogelweide. Seine Lieder waren lauge berühmt,
noch hundert und mehr Jahre später wurden sie in Südwestdeutschland hier und
dort abgeschrieben, nur wenige davon vereinzelt unter einem falschen Namen und
auch dann immer unter einem der besten der Früh- und Hochzeit des Minne¬
sangs, Dietmars von Alse, Reinmars des Alten oder Walthers selbst. Vielleicht
war er übrigens Walthers unmittelbarer Vorgänger als politischer Sängerbote
des meißnischen Markgrafen, vielleicht sind beide auch einander bekannt gewesen,
denn es klingt manche eigentümliche Wendung Morungens in Walthers spätern
Liedern an, und Leipzig liegt mitten auf dem Wege von der Wartburg nach
Dobrilugk, den beiden bekanntesten Aufenthaltsorten Walthers in Thüringen
und in Meißen. Von Morungenschen Melodien ist ebensowenig etwas erhalten
wie von denen Walthers. Den Tripeltakt wandte er, nach deu Texten zu
urteilen, vereinzelt und dann mit großem Geschick an, vielleicht gewährte er auch
der provenzalischen Musik Einfluß auf seine Weisen, wie er ein provenzalisches
Liedvorbild nachdichtete. Gewiß war er ein vorzüglicher Sänger seiner Zeit;
„zum Gesang bin ich geboren" ruft er einmal froh und stolz seinem Publikum
zu. Und seine Vortragskuust erhob sich naiv und kräftig über das Erlebnis,
das seinen Worten zugrunde lag, sodaß ihm welche die Wahrheit seiner flehenden
Minnelieder nicht glaubten:

Freilich: alles Singen gab sich damals noch heiter; die Lust an der Aus¬
übung der Kunst ließ alle Erfinderschmerzen vergessen. Noch niemand hat
damals in Deutschland etwa mit individualisierender Beseelung im einzelnen
gesungen. Auch die Melodiczeilcn des Minnesangs haben, so abwechslungsreich
sie gegenüber der stereotypen Zeilenwiederholung der primitiven Musik waren, und
so unbedingt sie auf den Einzelvortrag hinweisen, nur einen ganz allgemeinen
Gefühlswert gehabt, nirgends hat sich z. B. der Erfinder einer Weise des drei¬
zehnten Jahrhunderts für das Steigen oder Fallen seiner Melodie in charak¬
terisierendem Anschluß an den Inhalt von Textworten entschieden. Hätte man
sonst wohl auch deu Nachtgesang unter dem Fenster der geliebten Fran häufig,
wie es auch Morungen von sich sagt, einem singenden Diener überlassen?


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[0464] Weltliche Musik im alten Leipzig mais erst entwickelnden Sinn für künstlichem Strophenbau mit feiner Berech¬ nung für die Wiederkehr von Zeilenrhythmus, Reim und teilweise auch Melodie an bestimmten Stellen der ersten Aufgesangsstellen wie des Abgesanges, so haben wir die musikalischen Grundlagen des deutschen Minnesangs. Der Minnesang war keine Sache der damals noch kleinen deutschen Burgstädte, sondern der Adelssitze und namentlich der jungen Fürstenhöfe der Stauferzeit. Trotzdem hat Leipzig in der Geschichte des Minnesangs eine Stelle erhalten: hier lebte in spätern Jahren Heinrich von Morungen — er bezog von dem Meißner Markgrafen einen Nentengehalt aus der Leipziger Münze, den er gegen 1220 dem Thomaskloster zu überschreiben bat, vielleicht weil er sich damals in dieses zurückzog — und starb hier in hohem Alter, von Hause ein nordthüringischer Ritter. Morungen war das größte lyrische Talent Deutsch¬ lands vor Walther von der Vogelweide. Seine Lieder waren lauge berühmt, noch hundert und mehr Jahre später wurden sie in Südwestdeutschland hier und dort abgeschrieben, nur wenige davon vereinzelt unter einem falschen Namen und auch dann immer unter einem der besten der Früh- und Hochzeit des Minne¬ sangs, Dietmars von Alse, Reinmars des Alten oder Walthers selbst. Vielleicht war er übrigens Walthers unmittelbarer Vorgänger als politischer Sängerbote des meißnischen Markgrafen, vielleicht sind beide auch einander bekannt gewesen, denn es klingt manche eigentümliche Wendung Morungens in Walthers spätern Liedern an, und Leipzig liegt mitten auf dem Wege von der Wartburg nach Dobrilugk, den beiden bekanntesten Aufenthaltsorten Walthers in Thüringen und in Meißen. Von Morungenschen Melodien ist ebensowenig etwas erhalten wie von denen Walthers. Den Tripeltakt wandte er, nach deu Texten zu urteilen, vereinzelt und dann mit großem Geschick an, vielleicht gewährte er auch der provenzalischen Musik Einfluß auf seine Weisen, wie er ein provenzalisches Liedvorbild nachdichtete. Gewiß war er ein vorzüglicher Sänger seiner Zeit; „zum Gesang bin ich geboren" ruft er einmal froh und stolz seinem Publikum zu. Und seine Vortragskuust erhob sich naiv und kräftig über das Erlebnis, das seinen Worten zugrunde lag, sodaß ihm welche die Wahrheit seiner flehenden Minnelieder nicht glaubten: Freilich: alles Singen gab sich damals noch heiter; die Lust an der Aus¬ übung der Kunst ließ alle Erfinderschmerzen vergessen. Noch niemand hat damals in Deutschland etwa mit individualisierender Beseelung im einzelnen gesungen. Auch die Melodiczeilcn des Minnesangs haben, so abwechslungsreich sie gegenüber der stereotypen Zeilenwiederholung der primitiven Musik waren, und so unbedingt sie auf den Einzelvortrag hinweisen, nur einen ganz allgemeinen Gefühlswert gehabt, nirgends hat sich z. B. der Erfinder einer Weise des drei¬ zehnten Jahrhunderts für das Steigen oder Fallen seiner Melodie in charak¬ terisierendem Anschluß an den Inhalt von Textworten entschieden. Hätte man sonst wohl auch deu Nachtgesang unter dem Fenster der geliebten Fran häufig, wie es auch Morungen von sich sagt, einem singenden Diener überlassen?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/464>, abgerufen am 26.06.2024.