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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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weltliche Musik im alten Leipzig

Bis gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts genügten dem einfachen,
d, h. einstimmigen unbegleiteten deutschen Liebeslied im ganzen die in den Zeiten
des Minnesangs geschaffnen musikalischen Formen; im vierzehnten Jahrhundert
trat der Bürgerssohn neben den Junkherrn, ohne ihn zunächst musikalisch-technisch
zu überbieten. Melodien wohl aus dem vierzehnten Jahrhundert, wo das
bürgerliche Liebeslied zum erstenmal reich blühte, waren noch in dem Leipzig
des sechzehnten Jahrhunderts im Schwange. Wie manches liebe mal mag in
einer schönen Juninacht in enger Gasse eine derbe Handwerksburschenkehle
das auf der Wanderschaft erlebte Urbild von Goethes Heidenröslein an¬
gestimmt haben:



Oder in nicht so volkstümlicher Tonart ein von der Handelsfahrt zurück¬
kehrender Kaufherrensohn, dem sein feines Lieb die Treue nicht gehalten hatte,
unter ihrem Fenster kläglich Abschied genommen haben:



Beide Lieder haben sehr ähnlichen Strophenrhythmus und damit übereinstimmend
auch fast ganz entsprechenden melodischen Bau. In jedem bestehn die Stollen
aus zwei melodisch nahe verwandten Zeilen, und in jedem schließt der Abgesang
mit demselben Reim, Rhythmus und derselben Melodie, wie schon die Stollen
geschlossen hatten, ja das Scheidelied wiederholt als zweite Hälfte des Abgesangs
den ganzen Stollen; zu Beginn der beiden Abgesänge wird eine neue Melodie¬
zeile zweimal nacheinander ganz gleich gebracht. Beide Lieder gehen im Drei¬
takt, die Tonart ist aber in dem Heideblumenlied die dem spätern G-Dur ähnliche
shhpo^mixolydische, in dem andern die unserm A-Moll ähnliche shypo^äolische.*)

Das berühmteste Abschiedslied des endenden Mittelalters "Ich stund an
einem Morgen," ebenso wie die beiden vorhergehenden auch aus Leipzig bezeugt,
ist keine unmittelbare Liebeslyrik mehr, sondern bloß noch die Erzählung von
dem bittern Auseinandergehen zweier Liebenden: der novellistische Rahmen hat
sich des Motivs des alten unmittelbaren Tagelieds bemächtigt.



Mixolydisch hieß der Lauf Z bis ^', hupomixoludisch der Lauf ni bis ä mit dem zwischen¬
liegenden A als Haupt- und Schlußton. Ebenso verhalten sich äolisch und hvvoäolisch.
weltliche Musik im alten Leipzig

Bis gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts genügten dem einfachen,
d, h. einstimmigen unbegleiteten deutschen Liebeslied im ganzen die in den Zeiten
des Minnesangs geschaffnen musikalischen Formen; im vierzehnten Jahrhundert
trat der Bürgerssohn neben den Junkherrn, ohne ihn zunächst musikalisch-technisch
zu überbieten. Melodien wohl aus dem vierzehnten Jahrhundert, wo das
bürgerliche Liebeslied zum erstenmal reich blühte, waren noch in dem Leipzig
des sechzehnten Jahrhunderts im Schwange. Wie manches liebe mal mag in
einer schönen Juninacht in enger Gasse eine derbe Handwerksburschenkehle
das auf der Wanderschaft erlebte Urbild von Goethes Heidenröslein an¬
gestimmt haben:



Oder in nicht so volkstümlicher Tonart ein von der Handelsfahrt zurück¬
kehrender Kaufherrensohn, dem sein feines Lieb die Treue nicht gehalten hatte,
unter ihrem Fenster kläglich Abschied genommen haben:



Beide Lieder haben sehr ähnlichen Strophenrhythmus und damit übereinstimmend
auch fast ganz entsprechenden melodischen Bau. In jedem bestehn die Stollen
aus zwei melodisch nahe verwandten Zeilen, und in jedem schließt der Abgesang
mit demselben Reim, Rhythmus und derselben Melodie, wie schon die Stollen
geschlossen hatten, ja das Scheidelied wiederholt als zweite Hälfte des Abgesangs
den ganzen Stollen; zu Beginn der beiden Abgesänge wird eine neue Melodie¬
zeile zweimal nacheinander ganz gleich gebracht. Beide Lieder gehen im Drei¬
takt, die Tonart ist aber in dem Heideblumenlied die dem spätern G-Dur ähnliche
shhpo^mixolydische, in dem andern die unserm A-Moll ähnliche shypo^äolische.*)

Das berühmteste Abschiedslied des endenden Mittelalters „Ich stund an
einem Morgen," ebenso wie die beiden vorhergehenden auch aus Leipzig bezeugt,
ist keine unmittelbare Liebeslyrik mehr, sondern bloß noch die Erzählung von
dem bittern Auseinandergehen zweier Liebenden: der novellistische Rahmen hat
sich des Motivs des alten unmittelbaren Tagelieds bemächtigt.



Mixolydisch hieß der Lauf Z bis ^', hupomixoludisch der Lauf ni bis ä mit dem zwischen¬
liegenden A als Haupt- und Schlußton. Ebenso verhalten sich äolisch und hvvoäolisch.
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[0465] weltliche Musik im alten Leipzig Bis gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts genügten dem einfachen, d, h. einstimmigen unbegleiteten deutschen Liebeslied im ganzen die in den Zeiten des Minnesangs geschaffnen musikalischen Formen; im vierzehnten Jahrhundert trat der Bürgerssohn neben den Junkherrn, ohne ihn zunächst musikalisch-technisch zu überbieten. Melodien wohl aus dem vierzehnten Jahrhundert, wo das bürgerliche Liebeslied zum erstenmal reich blühte, waren noch in dem Leipzig des sechzehnten Jahrhunderts im Schwange. Wie manches liebe mal mag in einer schönen Juninacht in enger Gasse eine derbe Handwerksburschenkehle das auf der Wanderschaft erlebte Urbild von Goethes Heidenröslein an¬ gestimmt haben: [Abbildung] Oder in nicht so volkstümlicher Tonart ein von der Handelsfahrt zurück¬ kehrender Kaufherrensohn, dem sein feines Lieb die Treue nicht gehalten hatte, unter ihrem Fenster kläglich Abschied genommen haben: [Abbildung] Beide Lieder haben sehr ähnlichen Strophenrhythmus und damit übereinstimmend auch fast ganz entsprechenden melodischen Bau. In jedem bestehn die Stollen aus zwei melodisch nahe verwandten Zeilen, und in jedem schließt der Abgesang mit demselben Reim, Rhythmus und derselben Melodie, wie schon die Stollen geschlossen hatten, ja das Scheidelied wiederholt als zweite Hälfte des Abgesangs den ganzen Stollen; zu Beginn der beiden Abgesänge wird eine neue Melodie¬ zeile zweimal nacheinander ganz gleich gebracht. Beide Lieder gehen im Drei¬ takt, die Tonart ist aber in dem Heideblumenlied die dem spätern G-Dur ähnliche shhpo^mixolydische, in dem andern die unserm A-Moll ähnliche shypo^äolische.*) Das berühmteste Abschiedslied des endenden Mittelalters „Ich stund an einem Morgen," ebenso wie die beiden vorhergehenden auch aus Leipzig bezeugt, ist keine unmittelbare Liebeslyrik mehr, sondern bloß noch die Erzählung von dem bittern Auseinandergehen zweier Liebenden: der novellistische Rahmen hat sich des Motivs des alten unmittelbaren Tagelieds bemächtigt. Mixolydisch hieß der Lauf Z bis ^', hupomixoludisch der Lauf ni bis ä mit dem zwischen¬ liegenden A als Haupt- und Schlußton. Ebenso verhalten sich äolisch und hvvoäolisch.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/465>, abgerufen am 26.06.2024.