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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Weltliche Musik im alten Leipzig

Eltern im Spiel mit ihnen die Anfangszeiten von Bauer Bauer Kessel, Schaale
Schaale Reiter, Backe backe Kuchen, Heile heile Kätzchen, Wir woll'u die Merse-
burger Brücke baun, Wir woll'u einmal spazieren gehn, Ich ging einmal nach
Engelland usw. Auch die Schlußzcilenmelodie all dieser kleinen Sachen ist im
wesentlichen dieselbe.

In mehreren von ihnen gibt es Zeilen, wo die schwachtonige Silbe zwischen
zwei betonten fehlt (wie oben schon in Reihe, dreie): in diesen Fällen stellt immer
der Quartenfall die melodische Bewegung her (schlug eins, kam nicht; der Gold¬
schmied, der Goldschmied); nur auf diesen Quartenfall ist dann auch die Melodie
gestellt bei nur zweiaecentigen Kurzzeilen wie: Das ist der Dann, der schüttelt
die Pflaumen; der ist ins Wässer gefallen usw. Einnccentige Kurzzeilen wie
Kinnewippchen, Notlippchen, Augenbrm'neben, Stirnebeinchen zeigen den Quartcn-
sprnng vom Auftakt aufwärts. Die Schlußzeile, zum Lachen einladend, indem
sie es andeutend melodisch vormacht, zeigt auch in diesem Kurzzeilen den
hohen Fall.

Das teilweise hohe Alter der Texte, die Verbreitung des Melodientypns
über Deutschland und seine naturwüchsige Einfachheit machen es wahrscheinlich,
daß schon vor tausend Jahren in den Häusern und Gassen der kleinen Burg
Libize solche Tonreiheu so gut wie anderwärts in deutscher Zunge erklungen
sind; vielleicht sind auch die im nahen Merseburg aufbewahrten und dort wohl
auch aufgezeichneten Zauberlieder, wie es ihr Rhythmus an die Hand gibt, nach
derselben Weise beschwörend gesungen worden.

Die melodische Haupteigentümlichkeit dieser Musik ist eine ungelehrte, aber
durch die Schwingungsmessung der Tone als richtig zu bestätigende Empfin¬
dung für das angenehme Tonverhältnis zunächst einer Quarte und dann einer
noch darüber gestellten Terz, d. h. für den Quartsextakkord in melodischer Be¬
wegung, anders gesprochen für den Dreiklang. Dazu kommen Gefallen an
zweiteiligem Rhythmus und lebhafter Sinn für eine ausgeprägte, dramatische
Kadenz. Insofern die Melodik nur ein rhythmisiertes, gehobnes Sprechen ist,
kann man von einem primitiven musikalischen Naturalismus bei dieser Singart
sprechen; als das Germanische daran scheint der aus einer verhältnismäßig großen
heitern seelischen Energie entspringende verlMtnismäßig weite Abstand der Inter¬
valle bezeichnet werden zu dürfen, der den Sinn für den harmonischen Zu¬
sammenklang verschiedner Töne eher wecken mußte als bei Völkern, deren Melodik
sich infolge engerer seelischer Energie mit kleinern Intervallen begnügte und
dabei schwerer auf die schönen Verhältnisse, das An- und Mitklingen gewisser
gerade weiterer Intervalle aufmerksam werden konnte.

Schalten Handlung und Bewegung, Spiel und Neigen aus, z. B. im
Morgengruß von der Zinne des Turmes, beim abendlichen Bergrnf zu Tale,
im Schlummersang an der Wiege des Kindes, so tritt das Melodische mehr
hervor, der untere Quartenton erklingt als obere Quinte, und erweckend entsteht
der aufsteigende oder beruhigend, von vornherein gleichsam kcidenzierend, der
melodisch fallende Dreiklang selbst:



Weltliche Musik im alten Leipzig

Eltern im Spiel mit ihnen die Anfangszeiten von Bauer Bauer Kessel, Schaale
Schaale Reiter, Backe backe Kuchen, Heile heile Kätzchen, Wir woll'u die Merse-
burger Brücke baun, Wir woll'u einmal spazieren gehn, Ich ging einmal nach
Engelland usw. Auch die Schlußzcilenmelodie all dieser kleinen Sachen ist im
wesentlichen dieselbe.

In mehreren von ihnen gibt es Zeilen, wo die schwachtonige Silbe zwischen
zwei betonten fehlt (wie oben schon in Reihe, dreie): in diesen Fällen stellt immer
der Quartenfall die melodische Bewegung her (schlug eins, kam nicht; der Gold¬
schmied, der Goldschmied); nur auf diesen Quartenfall ist dann auch die Melodie
gestellt bei nur zweiaecentigen Kurzzeilen wie: Das ist der Dann, der schüttelt
die Pflaumen; der ist ins Wässer gefallen usw. Einnccentige Kurzzeilen wie
Kinnewippchen, Notlippchen, Augenbrm'neben, Stirnebeinchen zeigen den Quartcn-
sprnng vom Auftakt aufwärts. Die Schlußzeile, zum Lachen einladend, indem
sie es andeutend melodisch vormacht, zeigt auch in diesem Kurzzeilen den
hohen Fall.

Das teilweise hohe Alter der Texte, die Verbreitung des Melodientypns
über Deutschland und seine naturwüchsige Einfachheit machen es wahrscheinlich,
daß schon vor tausend Jahren in den Häusern und Gassen der kleinen Burg
Libize solche Tonreiheu so gut wie anderwärts in deutscher Zunge erklungen
sind; vielleicht sind auch die im nahen Merseburg aufbewahrten und dort wohl
auch aufgezeichneten Zauberlieder, wie es ihr Rhythmus an die Hand gibt, nach
derselben Weise beschwörend gesungen worden.

Die melodische Haupteigentümlichkeit dieser Musik ist eine ungelehrte, aber
durch die Schwingungsmessung der Tone als richtig zu bestätigende Empfin¬
dung für das angenehme Tonverhältnis zunächst einer Quarte und dann einer
noch darüber gestellten Terz, d. h. für den Quartsextakkord in melodischer Be¬
wegung, anders gesprochen für den Dreiklang. Dazu kommen Gefallen an
zweiteiligem Rhythmus und lebhafter Sinn für eine ausgeprägte, dramatische
Kadenz. Insofern die Melodik nur ein rhythmisiertes, gehobnes Sprechen ist,
kann man von einem primitiven musikalischen Naturalismus bei dieser Singart
sprechen; als das Germanische daran scheint der aus einer verhältnismäßig großen
heitern seelischen Energie entspringende verlMtnismäßig weite Abstand der Inter¬
valle bezeichnet werden zu dürfen, der den Sinn für den harmonischen Zu¬
sammenklang verschiedner Töne eher wecken mußte als bei Völkern, deren Melodik
sich infolge engerer seelischer Energie mit kleinern Intervallen begnügte und
dabei schwerer auf die schönen Verhältnisse, das An- und Mitklingen gewisser
gerade weiterer Intervalle aufmerksam werden konnte.

Schalten Handlung und Bewegung, Spiel und Neigen aus, z. B. im
Morgengruß von der Zinne des Turmes, beim abendlichen Bergrnf zu Tale,
im Schlummersang an der Wiege des Kindes, so tritt das Melodische mehr
hervor, der untere Quartenton erklingt als obere Quinte, und erweckend entsteht
der aufsteigende oder beruhigend, von vornherein gleichsam kcidenzierend, der
melodisch fallende Dreiklang selbst:



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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/462>, abgerufen am 26.06.2024.