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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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weltliche Musik im alten Leipzig

Stellung wie die akademischen Lehrer erhalten. Dann aber müßte man aus
den Archiven alle die neuern Akten entfernen, deren Geheimhaltung das
Staatsinteresse verlangt, und für sie eigne Staatsanstalten errichten.




weltliche Musik im alten Leipzig

Ringel ringel reihe,
Wir sind der Kinder dreie,
Wir sitzen unterm Hollerbusch,
Machen alle husch husch husch!

it diesem Liede habe ich in Leipzig als vierjähriger Knabe den
musikalischen Teil meines Lebens begonnen, und wie ich unzäh¬
lige andre kleine Leipziger. Tanzschritt, Gesang und Spiel sind
dabei eins: wir Brüder gingen uns an der Hand haltend im
Kreise, sangen auf den getretner Takt und kauerten uns auf das
erste Husch purzelnd und lachend zusammen. Der Rhythmus ist zweiteilig, sodaß
je ein Tritt und eine betonte Silbe zusammenfallen, doch haben die Zweisilben¬
reime der beiden ersten Zeilen jeder zwei Accente; in allen vier Zeilen ist der
erste und der dritte Accent stärker als der zweite und der vierte, und der dritte
überwiegt wieder überall den ersten etwas. Die Melodie ist mit Noten nicht
getreu wiederzugeben, denn die Intervalle werden beim Gesang mehr ange¬
deutet, als daß sie rein ausgeführt würden; und am Schlüsse geht der singend
hersagende Ton vollends in einen dramatischen Sprechton über, für den nur
die fallende Richtung der Melodik und die relative Höhe des Endtones fest¬
stehen. Immerhin hat die Melodie eine Art Gesetzmäßigkeit. In den beiden
ersten Zeilen wird ein mittlerer Ton durchgehends festgehalten, und nur un¬
mittelbar vor den hauptbetonten Silben geht die Stimme unwillkürlich etwas
in die Höhe, unmittelbar nach ihnen sinkt sie etwas, sodaß sich für die ersten
beiden Zeilen noch ohne Zwang folgendes Notenbild von einem im wesentlichen
fallenden Rhythmus ergibt:



Die dritte Zeile wird dann etwas höher halb gesungen, halb gesprochen, und
die vierte stürzt sich von ihrem hohen Anfangston in vier unregelmäßigen Inter¬
vallen, die zusammen ziemlich eine Oktave ausmachen, auf den Anfangs- und
Haupttor der ersten Zeilen herab, auf dem die drei Husch das Ganze schließen.
So einfach gewachsen und altertümlich der Rhythmus ist, so natürlich ergibt sich
seine Melodie bei wenig gesteigertem Sprechen: die mehr rentierenden beiden
ersten Zeilen, die lebhaftere dritte und die fallende vierte.

Auf dieselbe Weise wie die beiden ersten notierten Zeilen dieses Ringel¬
ringelreihe singen oder sprechen in singendem Tone Leipziger Kinder und die


weltliche Musik im alten Leipzig

Stellung wie die akademischen Lehrer erhalten. Dann aber müßte man aus
den Archiven alle die neuern Akten entfernen, deren Geheimhaltung das
Staatsinteresse verlangt, und für sie eigne Staatsanstalten errichten.




weltliche Musik im alten Leipzig

Ringel ringel reihe,
Wir sind der Kinder dreie,
Wir sitzen unterm Hollerbusch,
Machen alle husch husch husch!

it diesem Liede habe ich in Leipzig als vierjähriger Knabe den
musikalischen Teil meines Lebens begonnen, und wie ich unzäh¬
lige andre kleine Leipziger. Tanzschritt, Gesang und Spiel sind
dabei eins: wir Brüder gingen uns an der Hand haltend im
Kreise, sangen auf den getretner Takt und kauerten uns auf das
erste Husch purzelnd und lachend zusammen. Der Rhythmus ist zweiteilig, sodaß
je ein Tritt und eine betonte Silbe zusammenfallen, doch haben die Zweisilben¬
reime der beiden ersten Zeilen jeder zwei Accente; in allen vier Zeilen ist der
erste und der dritte Accent stärker als der zweite und der vierte, und der dritte
überwiegt wieder überall den ersten etwas. Die Melodie ist mit Noten nicht
getreu wiederzugeben, denn die Intervalle werden beim Gesang mehr ange¬
deutet, als daß sie rein ausgeführt würden; und am Schlüsse geht der singend
hersagende Ton vollends in einen dramatischen Sprechton über, für den nur
die fallende Richtung der Melodik und die relative Höhe des Endtones fest¬
stehen. Immerhin hat die Melodie eine Art Gesetzmäßigkeit. In den beiden
ersten Zeilen wird ein mittlerer Ton durchgehends festgehalten, und nur un¬
mittelbar vor den hauptbetonten Silben geht die Stimme unwillkürlich etwas
in die Höhe, unmittelbar nach ihnen sinkt sie etwas, sodaß sich für die ersten
beiden Zeilen noch ohne Zwang folgendes Notenbild von einem im wesentlichen
fallenden Rhythmus ergibt:



Die dritte Zeile wird dann etwas höher halb gesungen, halb gesprochen, und
die vierte stürzt sich von ihrem hohen Anfangston in vier unregelmäßigen Inter¬
vallen, die zusammen ziemlich eine Oktave ausmachen, auf den Anfangs- und
Haupttor der ersten Zeilen herab, auf dem die drei Husch das Ganze schließen.
So einfach gewachsen und altertümlich der Rhythmus ist, so natürlich ergibt sich
seine Melodie bei wenig gesteigertem Sprechen: die mehr rentierenden beiden
ersten Zeilen, die lebhaftere dritte und die fallende vierte.

Auf dieselbe Weise wie die beiden ersten notierten Zeilen dieses Ringel¬
ringelreihe singen oder sprechen in singendem Tone Leipziger Kinder und die


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[0461] weltliche Musik im alten Leipzig Stellung wie die akademischen Lehrer erhalten. Dann aber müßte man aus den Archiven alle die neuern Akten entfernen, deren Geheimhaltung das Staatsinteresse verlangt, und für sie eigne Staatsanstalten errichten. weltliche Musik im alten Leipzig Ringel ringel reihe, Wir sind der Kinder dreie, Wir sitzen unterm Hollerbusch, Machen alle husch husch husch! it diesem Liede habe ich in Leipzig als vierjähriger Knabe den musikalischen Teil meines Lebens begonnen, und wie ich unzäh¬ lige andre kleine Leipziger. Tanzschritt, Gesang und Spiel sind dabei eins: wir Brüder gingen uns an der Hand haltend im Kreise, sangen auf den getretner Takt und kauerten uns auf das erste Husch purzelnd und lachend zusammen. Der Rhythmus ist zweiteilig, sodaß je ein Tritt und eine betonte Silbe zusammenfallen, doch haben die Zweisilben¬ reime der beiden ersten Zeilen jeder zwei Accente; in allen vier Zeilen ist der erste und der dritte Accent stärker als der zweite und der vierte, und der dritte überwiegt wieder überall den ersten etwas. Die Melodie ist mit Noten nicht getreu wiederzugeben, denn die Intervalle werden beim Gesang mehr ange¬ deutet, als daß sie rein ausgeführt würden; und am Schlüsse geht der singend hersagende Ton vollends in einen dramatischen Sprechton über, für den nur die fallende Richtung der Melodik und die relative Höhe des Endtones fest¬ stehen. Immerhin hat die Melodie eine Art Gesetzmäßigkeit. In den beiden ersten Zeilen wird ein mittlerer Ton durchgehends festgehalten, und nur un¬ mittelbar vor den hauptbetonten Silben geht die Stimme unwillkürlich etwas in die Höhe, unmittelbar nach ihnen sinkt sie etwas, sodaß sich für die ersten beiden Zeilen noch ohne Zwang folgendes Notenbild von einem im wesentlichen fallenden Rhythmus ergibt: [Abbildung] Die dritte Zeile wird dann etwas höher halb gesungen, halb gesprochen, und die vierte stürzt sich von ihrem hohen Anfangston in vier unregelmäßigen Inter¬ vallen, die zusammen ziemlich eine Oktave ausmachen, auf den Anfangs- und Haupttor der ersten Zeilen herab, auf dem die drei Husch das Ganze schließen. So einfach gewachsen und altertümlich der Rhythmus ist, so natürlich ergibt sich seine Melodie bei wenig gesteigertem Sprechen: die mehr rentierenden beiden ersten Zeilen, die lebhaftere dritte und die fallende vierte. Auf dieselbe Weise wie die beiden ersten notierten Zeilen dieses Ringel¬ ringelreihe singen oder sprechen in singendem Tone Leipziger Kinder und die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/461>, abgerufen am 26.06.2024.