Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die christliche Mystik und die Religion der Zukunft

weise abwärts verbreiten und es dann wieder durch Reinigung, Erleuchtung
und Vollendung (oder Vereinigung) aufwärts, zu seinem Quell zurückleiten.
Der Prozeß setzt sich nach unten hin fort, in die irdische Region, und als Ab¬
bild der himmlischen erscheint hier die irdische Hierarchie. Dem historischen
Jesus in diesem Weltprozeß seine Stellung anzuweisen war nicht leicht; der
Verfasser hat es dennoch versucht, wohl im guten Glauben an die Kirchenlehre,
worin er aufgewachsen war. Die kirchlichen Sakramente werden als Mittel
der Reinigung, der Erleuchtung und der mystischen Einigung oder der Voll¬
endung erklärt.

Der Gegensatz zwischen verstandesmäßiger und gefühls- oder phantasie¬
mäßiger Behandlung der christlichen Glaubenswahrheiten ist seitdem bis auf
den heutigen Tag nicht mehr verschwunden und bald in der Form friedlicher
Arbeitteilung, bald in feindlichen Kämpfen offenbar geworden. Auf einige Jahr¬
hunderte trat er zunächst zurück, weil die morgenländische Kirche erstarrte und
unter mohammedanischer Herrschaft nur ein kümmerliches Dasein fristete, die
abendländische aber die große praktische Aufgabe der Bekehrung und ersten
Schulung der nordischen Barbaren lösen mußte. Unter den Sternen, die in
jener Nacht einsam glänzten, ist an dieser Stelle Johannes Scotus Erigena
zu nennen. Er war der erste selbständig spekulierende Kopf des jungen Nord¬
europas (nicht ein Germane, sondern ein Ire) und hat am Hofe Karls des
Kahlen die Schriften des Pseudodyonisius, von denen Ludwig der Fromme ein
Exemplar aus Byzanz zum Geschenk erhalten hatte, nicht nur übersetzt, sondern
auch in einem besondern Werke (of äivisicmö ng.tnrg.s) zum Aufbau seiner
eignen pantheistischen Lehre verwandt. Mit dem selbständigen Philosophieren
(wenn das einerseits von der Kirchenlehre, andrerseits von Aristoteles ab¬
hängige scholastische Denken selbständig genannt werden kann -- aber welcher
später geborne Mensch denkt unabhängig von seinen Vordenkern?) tritt die er¬
wähnte Arbeitteilung ein. Den Scholastikern gehn Männer zur Seite, die wie
Bernhard von Clairvaux mit hinreißender Beredsamkeit in Predigten die Gottes-
und die Nächstenliebe ausströmen, von denen ihre Seele überquillt, und die
Fülle der Seligkeit, die sie in der Betrachtung göttlicher Dinge empfinden,
dann auch Gelehrte wie die Victoriner und Bonaventura, die zwar Abhand¬
lungen schreiben, aber nicht in der Form trockner Quästionen und Responsionen
und syllogistischer Beweise, sondern in fortlaufender Rede, mit warmem Gefühl
und zu dem Zweck, in den Herzen die Liebe zu Gott zu entzünden.*) An die
Neuplatoniker und den Areopagiten erinnert bei ihnen nur die starke Betonung
der Kontemplation und das Bemühen, die Seele durch Reinigung, Erleuchtung
und Heiligung (das sind fortan technische Ausdrücke einer schulmäßig betriebnen



Bonaventura, der übrigens den meisten seiner Schriften die scholastische Form gegeben
hat, hat auch die Leidenswonnen der Gott liebenden Seele in einem langen rührenden Gedichte
besungen, dessen erste Strophe lautet:
Grenzboten III 1904 53
Die christliche Mystik und die Religion der Zukunft

weise abwärts verbreiten und es dann wieder durch Reinigung, Erleuchtung
und Vollendung (oder Vereinigung) aufwärts, zu seinem Quell zurückleiten.
Der Prozeß setzt sich nach unten hin fort, in die irdische Region, und als Ab¬
bild der himmlischen erscheint hier die irdische Hierarchie. Dem historischen
Jesus in diesem Weltprozeß seine Stellung anzuweisen war nicht leicht; der
Verfasser hat es dennoch versucht, wohl im guten Glauben an die Kirchenlehre,
worin er aufgewachsen war. Die kirchlichen Sakramente werden als Mittel
der Reinigung, der Erleuchtung und der mystischen Einigung oder der Voll¬
endung erklärt.

Der Gegensatz zwischen verstandesmäßiger und gefühls- oder phantasie¬
mäßiger Behandlung der christlichen Glaubenswahrheiten ist seitdem bis auf
den heutigen Tag nicht mehr verschwunden und bald in der Form friedlicher
Arbeitteilung, bald in feindlichen Kämpfen offenbar geworden. Auf einige Jahr¬
hunderte trat er zunächst zurück, weil die morgenländische Kirche erstarrte und
unter mohammedanischer Herrschaft nur ein kümmerliches Dasein fristete, die
abendländische aber die große praktische Aufgabe der Bekehrung und ersten
Schulung der nordischen Barbaren lösen mußte. Unter den Sternen, die in
jener Nacht einsam glänzten, ist an dieser Stelle Johannes Scotus Erigena
zu nennen. Er war der erste selbständig spekulierende Kopf des jungen Nord¬
europas (nicht ein Germane, sondern ein Ire) und hat am Hofe Karls des
Kahlen die Schriften des Pseudodyonisius, von denen Ludwig der Fromme ein
Exemplar aus Byzanz zum Geschenk erhalten hatte, nicht nur übersetzt, sondern
auch in einem besondern Werke (of äivisicmö ng.tnrg.s) zum Aufbau seiner
eignen pantheistischen Lehre verwandt. Mit dem selbständigen Philosophieren
(wenn das einerseits von der Kirchenlehre, andrerseits von Aristoteles ab¬
hängige scholastische Denken selbständig genannt werden kann — aber welcher
später geborne Mensch denkt unabhängig von seinen Vordenkern?) tritt die er¬
wähnte Arbeitteilung ein. Den Scholastikern gehn Männer zur Seite, die wie
Bernhard von Clairvaux mit hinreißender Beredsamkeit in Predigten die Gottes-
und die Nächstenliebe ausströmen, von denen ihre Seele überquillt, und die
Fülle der Seligkeit, die sie in der Betrachtung göttlicher Dinge empfinden,
dann auch Gelehrte wie die Victoriner und Bonaventura, die zwar Abhand¬
lungen schreiben, aber nicht in der Form trockner Quästionen und Responsionen
und syllogistischer Beweise, sondern in fortlaufender Rede, mit warmem Gefühl
und zu dem Zweck, in den Herzen die Liebe zu Gott zu entzünden.*) An die
Neuplatoniker und den Areopagiten erinnert bei ihnen nur die starke Betonung
der Kontemplation und das Bemühen, die Seele durch Reinigung, Erleuchtung
und Heiligung (das sind fortan technische Ausdrücke einer schulmäßig betriebnen



Bonaventura, der übrigens den meisten seiner Schriften die scholastische Form gegeben
hat, hat auch die Leidenswonnen der Gott liebenden Seele in einem langen rührenden Gedichte
besungen, dessen erste Strophe lautet:
Grenzboten III 1904 53
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0405" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/294822"/>
          <fw type="header" place="top"> Die christliche Mystik und die Religion der Zukunft</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1720" prev="#ID_1719"> weise abwärts verbreiten und es dann wieder durch Reinigung, Erleuchtung<lb/>
und Vollendung (oder Vereinigung) aufwärts, zu seinem Quell zurückleiten.<lb/>
Der Prozeß setzt sich nach unten hin fort, in die irdische Region, und als Ab¬<lb/>
bild der himmlischen erscheint hier die irdische Hierarchie. Dem historischen<lb/>
Jesus in diesem Weltprozeß seine Stellung anzuweisen war nicht leicht; der<lb/>
Verfasser hat es dennoch versucht, wohl im guten Glauben an die Kirchenlehre,<lb/>
worin er aufgewachsen war. Die kirchlichen Sakramente werden als Mittel<lb/>
der Reinigung, der Erleuchtung und der mystischen Einigung oder der Voll¬<lb/>
endung erklärt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1721" next="#ID_1722"> Der Gegensatz zwischen verstandesmäßiger und gefühls- oder phantasie¬<lb/>
mäßiger Behandlung der christlichen Glaubenswahrheiten ist seitdem bis auf<lb/>
den heutigen Tag nicht mehr verschwunden und bald in der Form friedlicher<lb/>
Arbeitteilung, bald in feindlichen Kämpfen offenbar geworden. Auf einige Jahr¬<lb/>
hunderte trat er zunächst zurück, weil die morgenländische Kirche erstarrte und<lb/>
unter mohammedanischer Herrschaft nur ein kümmerliches Dasein fristete, die<lb/>
abendländische aber die große praktische Aufgabe der Bekehrung und ersten<lb/>
Schulung der nordischen Barbaren lösen mußte. Unter den Sternen, die in<lb/>
jener Nacht einsam glänzten, ist an dieser Stelle Johannes Scotus Erigena<lb/>
zu nennen. Er war der erste selbständig spekulierende Kopf des jungen Nord¬<lb/>
europas (nicht ein Germane, sondern ein Ire) und hat am Hofe Karls des<lb/>
Kahlen die Schriften des Pseudodyonisius, von denen Ludwig der Fromme ein<lb/>
Exemplar aus Byzanz zum Geschenk erhalten hatte, nicht nur übersetzt, sondern<lb/>
auch in einem besondern Werke (of äivisicmö ng.tnrg.s) zum Aufbau seiner<lb/>
eignen pantheistischen Lehre verwandt. Mit dem selbständigen Philosophieren<lb/>
(wenn das einerseits von der Kirchenlehre, andrerseits von Aristoteles ab¬<lb/>
hängige scholastische Denken selbständig genannt werden kann &#x2014; aber welcher<lb/>
später geborne Mensch denkt unabhängig von seinen Vordenkern?) tritt die er¬<lb/>
wähnte Arbeitteilung ein. Den Scholastikern gehn Männer zur Seite, die wie<lb/>
Bernhard von Clairvaux mit hinreißender Beredsamkeit in Predigten die Gottes-<lb/>
und die Nächstenliebe ausströmen, von denen ihre Seele überquillt, und die<lb/>
Fülle der Seligkeit, die sie in der Betrachtung göttlicher Dinge empfinden,<lb/>
dann auch Gelehrte wie die Victoriner und Bonaventura, die zwar Abhand¬<lb/>
lungen schreiben, aber nicht in der Form trockner Quästionen und Responsionen<lb/>
und syllogistischer Beweise, sondern in fortlaufender Rede, mit warmem Gefühl<lb/>
und zu dem Zweck, in den Herzen die Liebe zu Gott zu entzünden.*) An die<lb/>
Neuplatoniker und den Areopagiten erinnert bei ihnen nur die starke Betonung<lb/>
der Kontemplation und das Bemühen, die Seele durch Reinigung, Erleuchtung<lb/>
und Heiligung (das sind fortan technische Ausdrücke einer schulmäßig betriebnen</p><lb/>
          <note xml:id="FID_64" place="foot"> Bonaventura, der übrigens den meisten seiner Schriften die scholastische Form gegeben<lb/>
hat, hat auch die Leidenswonnen der Gott liebenden Seele in einem langen rührenden Gedichte<lb/>
besungen, dessen erste Strophe lautet:<lb/><lg xml:id="POEMID_24" type="poem"><l/></lg></note><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III 1904 53</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0405] Die christliche Mystik und die Religion der Zukunft weise abwärts verbreiten und es dann wieder durch Reinigung, Erleuchtung und Vollendung (oder Vereinigung) aufwärts, zu seinem Quell zurückleiten. Der Prozeß setzt sich nach unten hin fort, in die irdische Region, und als Ab¬ bild der himmlischen erscheint hier die irdische Hierarchie. Dem historischen Jesus in diesem Weltprozeß seine Stellung anzuweisen war nicht leicht; der Verfasser hat es dennoch versucht, wohl im guten Glauben an die Kirchenlehre, worin er aufgewachsen war. Die kirchlichen Sakramente werden als Mittel der Reinigung, der Erleuchtung und der mystischen Einigung oder der Voll¬ endung erklärt. Der Gegensatz zwischen verstandesmäßiger und gefühls- oder phantasie¬ mäßiger Behandlung der christlichen Glaubenswahrheiten ist seitdem bis auf den heutigen Tag nicht mehr verschwunden und bald in der Form friedlicher Arbeitteilung, bald in feindlichen Kämpfen offenbar geworden. Auf einige Jahr¬ hunderte trat er zunächst zurück, weil die morgenländische Kirche erstarrte und unter mohammedanischer Herrschaft nur ein kümmerliches Dasein fristete, die abendländische aber die große praktische Aufgabe der Bekehrung und ersten Schulung der nordischen Barbaren lösen mußte. Unter den Sternen, die in jener Nacht einsam glänzten, ist an dieser Stelle Johannes Scotus Erigena zu nennen. Er war der erste selbständig spekulierende Kopf des jungen Nord¬ europas (nicht ein Germane, sondern ein Ire) und hat am Hofe Karls des Kahlen die Schriften des Pseudodyonisius, von denen Ludwig der Fromme ein Exemplar aus Byzanz zum Geschenk erhalten hatte, nicht nur übersetzt, sondern auch in einem besondern Werke (of äivisicmö ng.tnrg.s) zum Aufbau seiner eignen pantheistischen Lehre verwandt. Mit dem selbständigen Philosophieren (wenn das einerseits von der Kirchenlehre, andrerseits von Aristoteles ab¬ hängige scholastische Denken selbständig genannt werden kann — aber welcher später geborne Mensch denkt unabhängig von seinen Vordenkern?) tritt die er¬ wähnte Arbeitteilung ein. Den Scholastikern gehn Männer zur Seite, die wie Bernhard von Clairvaux mit hinreißender Beredsamkeit in Predigten die Gottes- und die Nächstenliebe ausströmen, von denen ihre Seele überquillt, und die Fülle der Seligkeit, die sie in der Betrachtung göttlicher Dinge empfinden, dann auch Gelehrte wie die Victoriner und Bonaventura, die zwar Abhand¬ lungen schreiben, aber nicht in der Form trockner Quästionen und Responsionen und syllogistischer Beweise, sondern in fortlaufender Rede, mit warmem Gefühl und zu dem Zweck, in den Herzen die Liebe zu Gott zu entzünden.*) An die Neuplatoniker und den Areopagiten erinnert bei ihnen nur die starke Betonung der Kontemplation und das Bemühen, die Seele durch Reinigung, Erleuchtung und Heiligung (das sind fortan technische Ausdrücke einer schulmäßig betriebnen Bonaventura, der übrigens den meisten seiner Schriften die scholastische Form gegeben hat, hat auch die Leidenswonnen der Gott liebenden Seele in einem langen rührenden Gedichte besungen, dessen erste Strophe lautet: Grenzboten III 1904 53

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/405
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/405>, abgerufen am 29.06.2024.