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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Goethe als Erneuerer

antike Motiv, dessen Name dann als eine Hauptsache beibehalten wird, mit
neuem gegenwärtigen, zwar zeitlos gemeintem, aber doch in damals moderner
sprech- und Denkweise gegebnen Leben. Dahin gehören fast alle Gestalten
der Iphigenie, namentlich die Heldin und Orest, beide zusammen das gesteigerte
Abbild von Goethes zeitweiligen Innern, dahin Helena im Faust und der
Gedanke, die Titanennatur des aufstrebenden Geschlechts in der Behandlung
der Sage vom Prometheus zu gestalten. Mit lebendigerer Wonne als je
empfand Goethe die Berührung mit der Antike ans seiner großen italienischen
Reise; hier kommen ihm in jedem lebhaften Augenblick antike Bilder über
seinen Zustand in die Feder. Als er sich bei Bologna den Bergen wieder
nähert, wird er auch sofort wieder vom Gestein angezogen und kommt sich
vor "wie Antäus, der sich immer neu gestärkt fühlt, je kräftiger man ihn mit
seiner Mutter Erde in Berührung bringt." In Foligno schreibt er sich aus
dem Ärger über die Vetturine heraus mit den Worten: "Ich habe nichts
gewollt als das Land sehen, auf welche Kosten es sei, und wenn sie mich auf
Jxions Rad nach Rom schleppen, so will ich mich nicht beklagen." Während
der ganzen ersten Hälfte der Fahrt lebt in ihm eine Art Odysseusstimmung.
In Foligno sieht er sich "in einer völlig homerischen Haushaltung, wo alles
um ein auf der Erde brennendes Feuer in einer großen Halle versammelt ist,
schreit und lärmt." Dem Volk oder dem Publikum gegenüber fühlt er sich
als den listenreichen Helden, der es mit den aristophanischen Vögeln zu tun
hat, am Gardasee, in Vicenza, bei Capri taucht diese antike Komödie, die er
selbst kürzlich zu erneuern begonnen hatte, lebhaft vor ihm auf. scheint um ihn
herum Wirklichkeit werden zu wollen. Das Abenteuer von Malcesine, das er
hinterher lustig fand, war doch während seines Verlaufs nicht ohne Unbe¬
hagen für ihn gewesen, sodaß er in Verona froh ist, mit günstigem Wind
von dem Ufer geschieden zu sein, das "ihm lüstrygonisch zu werden gedroht
hatte." Er faßte "diese wunderbare Reise" als eine abenteuerliche Ent¬
deckungsfahrt in die Gefilde von Menschheit, Kunst und Natur auf. In
Sizilien erreicht sein odysseisches Gefühl den Gipfel. Der grimme Gouverneur
von Messina wird ihm zum Zyklopen; er entwirft das Drama Nausikcia: "es
war in dieser Komposition nichts, was ich nicht aus eigner Erfahrung nach
der Natur Hütte darstellen können." Es wäre eine Art Wettstreit mit Homer
und Sophokles zugleich geworden und eine Erneuerung beider. Properz, Ovid,
Horaz, Martial werden dem Dichter zu Brüdern, in deren Versmaßen er
nicht nur dichtet, sondern deren Empfindungen und Anschauungen, soweit es
der Deutsche nur vermag, er zum zweitenmal in sich erlebt. Die heroisch-
elegische Schwermut seines und des ovidischen Scheidens von Rom fließen
ihm in eins zusammen. Gern ergänzt er die Gedanken der alten Poeten
durch seine eignen, eine Art Zwiesprache mit ihnen haltend, wie mit Horaz
in dem Distichon der Jahreszeiten


Sorge, sie steiget mit dir zu Roß, sie steiget zu Schiffe;
Viel zudringlicher noch packet sich Amor uns aus.

Mit einem Zauberschlage war ihm das Verständnis der antiken Dichter in


Goethe als Erneuerer

antike Motiv, dessen Name dann als eine Hauptsache beibehalten wird, mit
neuem gegenwärtigen, zwar zeitlos gemeintem, aber doch in damals moderner
sprech- und Denkweise gegebnen Leben. Dahin gehören fast alle Gestalten
der Iphigenie, namentlich die Heldin und Orest, beide zusammen das gesteigerte
Abbild von Goethes zeitweiligen Innern, dahin Helena im Faust und der
Gedanke, die Titanennatur des aufstrebenden Geschlechts in der Behandlung
der Sage vom Prometheus zu gestalten. Mit lebendigerer Wonne als je
empfand Goethe die Berührung mit der Antike ans seiner großen italienischen
Reise; hier kommen ihm in jedem lebhaften Augenblick antike Bilder über
seinen Zustand in die Feder. Als er sich bei Bologna den Bergen wieder
nähert, wird er auch sofort wieder vom Gestein angezogen und kommt sich
vor „wie Antäus, der sich immer neu gestärkt fühlt, je kräftiger man ihn mit
seiner Mutter Erde in Berührung bringt." In Foligno schreibt er sich aus
dem Ärger über die Vetturine heraus mit den Worten: „Ich habe nichts
gewollt als das Land sehen, auf welche Kosten es sei, und wenn sie mich auf
Jxions Rad nach Rom schleppen, so will ich mich nicht beklagen." Während
der ganzen ersten Hälfte der Fahrt lebt in ihm eine Art Odysseusstimmung.
In Foligno sieht er sich „in einer völlig homerischen Haushaltung, wo alles
um ein auf der Erde brennendes Feuer in einer großen Halle versammelt ist,
schreit und lärmt." Dem Volk oder dem Publikum gegenüber fühlt er sich
als den listenreichen Helden, der es mit den aristophanischen Vögeln zu tun
hat, am Gardasee, in Vicenza, bei Capri taucht diese antike Komödie, die er
selbst kürzlich zu erneuern begonnen hatte, lebhaft vor ihm auf. scheint um ihn
herum Wirklichkeit werden zu wollen. Das Abenteuer von Malcesine, das er
hinterher lustig fand, war doch während seines Verlaufs nicht ohne Unbe¬
hagen für ihn gewesen, sodaß er in Verona froh ist, mit günstigem Wind
von dem Ufer geschieden zu sein, das „ihm lüstrygonisch zu werden gedroht
hatte." Er faßte „diese wunderbare Reise" als eine abenteuerliche Ent¬
deckungsfahrt in die Gefilde von Menschheit, Kunst und Natur auf. In
Sizilien erreicht sein odysseisches Gefühl den Gipfel. Der grimme Gouverneur
von Messina wird ihm zum Zyklopen; er entwirft das Drama Nausikcia: „es
war in dieser Komposition nichts, was ich nicht aus eigner Erfahrung nach
der Natur Hütte darstellen können." Es wäre eine Art Wettstreit mit Homer
und Sophokles zugleich geworden und eine Erneuerung beider. Properz, Ovid,
Horaz, Martial werden dem Dichter zu Brüdern, in deren Versmaßen er
nicht nur dichtet, sondern deren Empfindungen und Anschauungen, soweit es
der Deutsche nur vermag, er zum zweitenmal in sich erlebt. Die heroisch-
elegische Schwermut seines und des ovidischen Scheidens von Rom fließen
ihm in eins zusammen. Gern ergänzt er die Gedanken der alten Poeten
durch seine eignen, eine Art Zwiesprache mit ihnen haltend, wie mit Horaz
in dem Distichon der Jahreszeiten


Sorge, sie steiget mit dir zu Roß, sie steiget zu Schiffe;
Viel zudringlicher noch packet sich Amor uns aus.

Mit einem Zauberschlage war ihm das Verständnis der antiken Dichter in


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[0155] Goethe als Erneuerer antike Motiv, dessen Name dann als eine Hauptsache beibehalten wird, mit neuem gegenwärtigen, zwar zeitlos gemeintem, aber doch in damals moderner sprech- und Denkweise gegebnen Leben. Dahin gehören fast alle Gestalten der Iphigenie, namentlich die Heldin und Orest, beide zusammen das gesteigerte Abbild von Goethes zeitweiligen Innern, dahin Helena im Faust und der Gedanke, die Titanennatur des aufstrebenden Geschlechts in der Behandlung der Sage vom Prometheus zu gestalten. Mit lebendigerer Wonne als je empfand Goethe die Berührung mit der Antike ans seiner großen italienischen Reise; hier kommen ihm in jedem lebhaften Augenblick antike Bilder über seinen Zustand in die Feder. Als er sich bei Bologna den Bergen wieder nähert, wird er auch sofort wieder vom Gestein angezogen und kommt sich vor „wie Antäus, der sich immer neu gestärkt fühlt, je kräftiger man ihn mit seiner Mutter Erde in Berührung bringt." In Foligno schreibt er sich aus dem Ärger über die Vetturine heraus mit den Worten: „Ich habe nichts gewollt als das Land sehen, auf welche Kosten es sei, und wenn sie mich auf Jxions Rad nach Rom schleppen, so will ich mich nicht beklagen." Während der ganzen ersten Hälfte der Fahrt lebt in ihm eine Art Odysseusstimmung. In Foligno sieht er sich „in einer völlig homerischen Haushaltung, wo alles um ein auf der Erde brennendes Feuer in einer großen Halle versammelt ist, schreit und lärmt." Dem Volk oder dem Publikum gegenüber fühlt er sich als den listenreichen Helden, der es mit den aristophanischen Vögeln zu tun hat, am Gardasee, in Vicenza, bei Capri taucht diese antike Komödie, die er selbst kürzlich zu erneuern begonnen hatte, lebhaft vor ihm auf. scheint um ihn herum Wirklichkeit werden zu wollen. Das Abenteuer von Malcesine, das er hinterher lustig fand, war doch während seines Verlaufs nicht ohne Unbe¬ hagen für ihn gewesen, sodaß er in Verona froh ist, mit günstigem Wind von dem Ufer geschieden zu sein, das „ihm lüstrygonisch zu werden gedroht hatte." Er faßte „diese wunderbare Reise" als eine abenteuerliche Ent¬ deckungsfahrt in die Gefilde von Menschheit, Kunst und Natur auf. In Sizilien erreicht sein odysseisches Gefühl den Gipfel. Der grimme Gouverneur von Messina wird ihm zum Zyklopen; er entwirft das Drama Nausikcia: „es war in dieser Komposition nichts, was ich nicht aus eigner Erfahrung nach der Natur Hütte darstellen können." Es wäre eine Art Wettstreit mit Homer und Sophokles zugleich geworden und eine Erneuerung beider. Properz, Ovid, Horaz, Martial werden dem Dichter zu Brüdern, in deren Versmaßen er nicht nur dichtet, sondern deren Empfindungen und Anschauungen, soweit es der Deutsche nur vermag, er zum zweitenmal in sich erlebt. Die heroisch- elegische Schwermut seines und des ovidischen Scheidens von Rom fließen ihm in eins zusammen. Gern ergänzt er die Gedanken der alten Poeten durch seine eignen, eine Art Zwiesprache mit ihnen haltend, wie mit Horaz in dem Distichon der Jahreszeiten Sorge, sie steiget mit dir zu Roß, sie steiget zu Schiffe; Viel zudringlicher noch packet sich Amor uns aus. Mit einem Zauberschlage war ihm das Verständnis der antiken Dichter in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/155>, abgerufen am 23.07.2024.