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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Westfälische Geschichten

um Zinsen, da kam einer, der Zinsen bezahlen wollte. Rechnungen waren gar nicht
oder waren doppelt bezahlt. Die große Wirtschaft, sieben Kinder, alles lag auf
den Schultern der Mutter. Sie fuhr in die Stadt und übergab dem Justizrat
die Papiere und die Regelung der Verhältnisse. Es stellte sich heraus, daß trotz
der Unordnung, in der das Ganze lag, ein bedeutendes Kapitalvermögen vorhanden
war, und daß die Bäuerin eine reiche Frau sei.

Sie stand kaum in der Mitte der dreißiger Jahre, und daß sie noch immer
schön sei, das mußten ihr sogar die Frauen und Mädchen lassen, die sie beneideten,
die sie verspotteten, weil sie an der Landestracht festhielt, die nur noch von wenigen
beibehalten wurde: das schwarze Tuchkleid, die schwarze Sammetkappe, deren
Stickerei jetzt in der Trauer mit schwarzem Flor überzogen war, und die schwarze
Bindebänder hatte; das schwarzseidne Fürtuch, die schwarzseidne Schürze -- es
stand ihr gut.

Daß sich bald nach dem Tode des Schulzen Freier meldeten bei der Bäuerin,
trotz ihrer sieben Kinder, war kein Wunder. Ich hab den Stoffer, sagte sie. Er
ist so lange auf dem Hofe, wie ich da bin, hat die Wirtschaft auf dem Acker geführt,
so lange der Bauer gelebt hat, der sich nicht darum kümmern wollte. In den
Jahren ist er auch; heiraten tut der nicht mehr! So lange der auf dem Hofe
bleibt, so lange kann ichs ansehen. Ich danke für die Ehre, aber ich bleibe allein.

Von früh bis spät war die Mutter tätig, im Haus, im Garten und im Feld,
und sie fand doch Zeit, nach den Kindern zu sehen, sie zur Arbeit anzuhalten, zu
den Schulaufgaben, zum Spielen. Sie durfte nur sagen: Soll ich mich ärgern über
euch? Dann tat jedes seine Pflicht.

Zu ihrem Philipp trat sie oft, wenn er in seinem Verschlage saß: Der Vikar
hat gesagt, daß er zufrieden sei mit dir! Und sie legte dann ihre harte Hand auf
seinen Kopf, blätterte in seinen Büchern und ging wieder.

Das Trauerjahr war um. Nach der Jahresseelenmesfe ging die Mutter zum
Vikar hinein. Heute sollte es sich entscheiden, ob der geistliche Herr den Philipp
als für genug vorbereitet und befähigt hielt, das Gymnasium zu beziehen. Dem
Jungen pochte das Herz in der Brust. Er hatte auf dem freien Platze Vor der
Schule auf seine Mutter warten wollen. Aber es litt ihn nicht dort. Er lief nach
Hause, setzte sich in seinen Verschlag und nahm die Bücher zur Hand, und konnte
doch nicht lernen! Die Buchstaben tanzten vor seinen Augen, er konnte nicht still
sitzen auf seinem Stuhl. Da ging die Tür auf, die von der Küche in die beste
Stube führte. Seine Mutter trat ein, er kannte ihren Schritt, und es kam noch
jemand mit ihr.

Darum bin ich gekommen, Lore, hörte er sagen (es war die Stimme seines
Onkels, die so sprach), daß ich höre, wie ich daran bin mit dir. Daß ich weg¬
gezogen bin vom Hof, als du den Bauern geheiratet hast -- du weißt recht gut,
warum ich nicht habe bleiben können. Daß du seine Frau warst, das konnte ich
nicht mit ansehen, Lore. -- Setz dich, Lorenz, sagte seine Mutter, und trink ein
Schälchen Kaffee, dann wollen wir darüber sprechen.

Sie ging hinaus und kam dann wieder herein. Der Junge hörte in seinem
Verschlag, wie sie mit den Tassen klapperte und die Teller auf dem Tische zurecht-
schob. -- Nun streich ich dir ein Butterbrot, Lorenz, sagte sie. Du mußt essen,
hast den weiten Weg gehabt. -- Ist dankenswert, Lore, aber das Essen schmeckt
mir nicht, so lang ich nicht weiß, wie es steht mit uns beiden. Wenn ich dazu-
malen der Bauer gewesen wäre auf dem Piepershof, wie ich nur der zweite Sohn
war, ein armer Schlucker, du hättest mich genommen, ohne daß ich dir hätte drohen
müssen: "Deine Mutter werf ich auf die Straße, wenn du nicht Ja sagst, Lore."
Lore, hart ists gewesen für mich, weil ich doch gewußt habe: dich hat sie liebt
Auf der Kirmes, Lore, weißt noch, wie wir da getanzt haben in dem Zelt, den
ganzen Abend, du mit mir, ich mit dir? Und hernach, beim Nachhausegehn, im
Busch, als wir da standen auf der Brücke? -- Ich weiß es noch all, so gut wie


Grenzboten II 1904 103
Westfälische Geschichten

um Zinsen, da kam einer, der Zinsen bezahlen wollte. Rechnungen waren gar nicht
oder waren doppelt bezahlt. Die große Wirtschaft, sieben Kinder, alles lag auf
den Schultern der Mutter. Sie fuhr in die Stadt und übergab dem Justizrat
die Papiere und die Regelung der Verhältnisse. Es stellte sich heraus, daß trotz
der Unordnung, in der das Ganze lag, ein bedeutendes Kapitalvermögen vorhanden
war, und daß die Bäuerin eine reiche Frau sei.

Sie stand kaum in der Mitte der dreißiger Jahre, und daß sie noch immer
schön sei, das mußten ihr sogar die Frauen und Mädchen lassen, die sie beneideten,
die sie verspotteten, weil sie an der Landestracht festhielt, die nur noch von wenigen
beibehalten wurde: das schwarze Tuchkleid, die schwarze Sammetkappe, deren
Stickerei jetzt in der Trauer mit schwarzem Flor überzogen war, und die schwarze
Bindebänder hatte; das schwarzseidne Fürtuch, die schwarzseidne Schürze — es
stand ihr gut.

Daß sich bald nach dem Tode des Schulzen Freier meldeten bei der Bäuerin,
trotz ihrer sieben Kinder, war kein Wunder. Ich hab den Stoffer, sagte sie. Er
ist so lange auf dem Hofe, wie ich da bin, hat die Wirtschaft auf dem Acker geführt,
so lange der Bauer gelebt hat, der sich nicht darum kümmern wollte. In den
Jahren ist er auch; heiraten tut der nicht mehr! So lange der auf dem Hofe
bleibt, so lange kann ichs ansehen. Ich danke für die Ehre, aber ich bleibe allein.

Von früh bis spät war die Mutter tätig, im Haus, im Garten und im Feld,
und sie fand doch Zeit, nach den Kindern zu sehen, sie zur Arbeit anzuhalten, zu
den Schulaufgaben, zum Spielen. Sie durfte nur sagen: Soll ich mich ärgern über
euch? Dann tat jedes seine Pflicht.

Zu ihrem Philipp trat sie oft, wenn er in seinem Verschlage saß: Der Vikar
hat gesagt, daß er zufrieden sei mit dir! Und sie legte dann ihre harte Hand auf
seinen Kopf, blätterte in seinen Büchern und ging wieder.

Das Trauerjahr war um. Nach der Jahresseelenmesfe ging die Mutter zum
Vikar hinein. Heute sollte es sich entscheiden, ob der geistliche Herr den Philipp
als für genug vorbereitet und befähigt hielt, das Gymnasium zu beziehen. Dem
Jungen pochte das Herz in der Brust. Er hatte auf dem freien Platze Vor der
Schule auf seine Mutter warten wollen. Aber es litt ihn nicht dort. Er lief nach
Hause, setzte sich in seinen Verschlag und nahm die Bücher zur Hand, und konnte
doch nicht lernen! Die Buchstaben tanzten vor seinen Augen, er konnte nicht still
sitzen auf seinem Stuhl. Da ging die Tür auf, die von der Küche in die beste
Stube führte. Seine Mutter trat ein, er kannte ihren Schritt, und es kam noch
jemand mit ihr.

Darum bin ich gekommen, Lore, hörte er sagen (es war die Stimme seines
Onkels, die so sprach), daß ich höre, wie ich daran bin mit dir. Daß ich weg¬
gezogen bin vom Hof, als du den Bauern geheiratet hast — du weißt recht gut,
warum ich nicht habe bleiben können. Daß du seine Frau warst, das konnte ich
nicht mit ansehen, Lore. — Setz dich, Lorenz, sagte seine Mutter, und trink ein
Schälchen Kaffee, dann wollen wir darüber sprechen.

Sie ging hinaus und kam dann wieder herein. Der Junge hörte in seinem
Verschlag, wie sie mit den Tassen klapperte und die Teller auf dem Tische zurecht-
schob. — Nun streich ich dir ein Butterbrot, Lorenz, sagte sie. Du mußt essen,
hast den weiten Weg gehabt. — Ist dankenswert, Lore, aber das Essen schmeckt
mir nicht, so lang ich nicht weiß, wie es steht mit uns beiden. Wenn ich dazu-
malen der Bauer gewesen wäre auf dem Piepershof, wie ich nur der zweite Sohn
war, ein armer Schlucker, du hättest mich genommen, ohne daß ich dir hätte drohen
müssen: „Deine Mutter werf ich auf die Straße, wenn du nicht Ja sagst, Lore."
Lore, hart ists gewesen für mich, weil ich doch gewußt habe: dich hat sie liebt
Auf der Kirmes, Lore, weißt noch, wie wir da getanzt haben in dem Zelt, den
ganzen Abend, du mit mir, ich mit dir? Und hernach, beim Nachhausegehn, im
Busch, als wir da standen auf der Brücke? — Ich weiß es noch all, so gut wie


Grenzboten II 1904 103
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[0781] Westfälische Geschichten um Zinsen, da kam einer, der Zinsen bezahlen wollte. Rechnungen waren gar nicht oder waren doppelt bezahlt. Die große Wirtschaft, sieben Kinder, alles lag auf den Schultern der Mutter. Sie fuhr in die Stadt und übergab dem Justizrat die Papiere und die Regelung der Verhältnisse. Es stellte sich heraus, daß trotz der Unordnung, in der das Ganze lag, ein bedeutendes Kapitalvermögen vorhanden war, und daß die Bäuerin eine reiche Frau sei. Sie stand kaum in der Mitte der dreißiger Jahre, und daß sie noch immer schön sei, das mußten ihr sogar die Frauen und Mädchen lassen, die sie beneideten, die sie verspotteten, weil sie an der Landestracht festhielt, die nur noch von wenigen beibehalten wurde: das schwarze Tuchkleid, die schwarze Sammetkappe, deren Stickerei jetzt in der Trauer mit schwarzem Flor überzogen war, und die schwarze Bindebänder hatte; das schwarzseidne Fürtuch, die schwarzseidne Schürze — es stand ihr gut. Daß sich bald nach dem Tode des Schulzen Freier meldeten bei der Bäuerin, trotz ihrer sieben Kinder, war kein Wunder. Ich hab den Stoffer, sagte sie. Er ist so lange auf dem Hofe, wie ich da bin, hat die Wirtschaft auf dem Acker geführt, so lange der Bauer gelebt hat, der sich nicht darum kümmern wollte. In den Jahren ist er auch; heiraten tut der nicht mehr! So lange der auf dem Hofe bleibt, so lange kann ichs ansehen. Ich danke für die Ehre, aber ich bleibe allein. Von früh bis spät war die Mutter tätig, im Haus, im Garten und im Feld, und sie fand doch Zeit, nach den Kindern zu sehen, sie zur Arbeit anzuhalten, zu den Schulaufgaben, zum Spielen. Sie durfte nur sagen: Soll ich mich ärgern über euch? Dann tat jedes seine Pflicht. Zu ihrem Philipp trat sie oft, wenn er in seinem Verschlage saß: Der Vikar hat gesagt, daß er zufrieden sei mit dir! Und sie legte dann ihre harte Hand auf seinen Kopf, blätterte in seinen Büchern und ging wieder. Das Trauerjahr war um. Nach der Jahresseelenmesfe ging die Mutter zum Vikar hinein. Heute sollte es sich entscheiden, ob der geistliche Herr den Philipp als für genug vorbereitet und befähigt hielt, das Gymnasium zu beziehen. Dem Jungen pochte das Herz in der Brust. Er hatte auf dem freien Platze Vor der Schule auf seine Mutter warten wollen. Aber es litt ihn nicht dort. Er lief nach Hause, setzte sich in seinen Verschlag und nahm die Bücher zur Hand, und konnte doch nicht lernen! Die Buchstaben tanzten vor seinen Augen, er konnte nicht still sitzen auf seinem Stuhl. Da ging die Tür auf, die von der Küche in die beste Stube führte. Seine Mutter trat ein, er kannte ihren Schritt, und es kam noch jemand mit ihr. Darum bin ich gekommen, Lore, hörte er sagen (es war die Stimme seines Onkels, die so sprach), daß ich höre, wie ich daran bin mit dir. Daß ich weg¬ gezogen bin vom Hof, als du den Bauern geheiratet hast — du weißt recht gut, warum ich nicht habe bleiben können. Daß du seine Frau warst, das konnte ich nicht mit ansehen, Lore. — Setz dich, Lorenz, sagte seine Mutter, und trink ein Schälchen Kaffee, dann wollen wir darüber sprechen. Sie ging hinaus und kam dann wieder herein. Der Junge hörte in seinem Verschlag, wie sie mit den Tassen klapperte und die Teller auf dem Tische zurecht- schob. — Nun streich ich dir ein Butterbrot, Lorenz, sagte sie. Du mußt essen, hast den weiten Weg gehabt. — Ist dankenswert, Lore, aber das Essen schmeckt mir nicht, so lang ich nicht weiß, wie es steht mit uns beiden. Wenn ich dazu- malen der Bauer gewesen wäre auf dem Piepershof, wie ich nur der zweite Sohn war, ein armer Schlucker, du hättest mich genommen, ohne daß ich dir hätte drohen müssen: „Deine Mutter werf ich auf die Straße, wenn du nicht Ja sagst, Lore." Lore, hart ists gewesen für mich, weil ich doch gewußt habe: dich hat sie liebt Auf der Kirmes, Lore, weißt noch, wie wir da getanzt haben in dem Zelt, den ganzen Abend, du mit mir, ich mit dir? Und hernach, beim Nachhausegehn, im Busch, als wir da standen auf der Brücke? — Ich weiß es noch all, so gut wie Grenzboten II 1904 103

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/781>, abgerufen am 05.07.2024.