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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Literargeschichtliches

sichern, was im Parzival der treffliche Gramoflcmz von Jtonje rühmt: Wir
minnen uns noch ungesehen.

Da uns Mörike in der Hauptsache Lyriker ist, wie Storm. der sich ge¬
legentlich seinen Schüler nennt, bei seinem schmächtigen Bändchen Lyrik
Novellist, so kann man sich nicht wundern, daß Mörike, der zuerst auch an
seinen Dramatikerberuf glaubte und allerlei journalistische Pläne verfolgte, so
langsam wirkte, daß das Schicksal den Kranz lange unter dem Mantel ver¬
borgen hielt (Briefe I, 190).


Handlung ist der Welt allmächtiger Puls, und deshalb
Fistel oftmals tauberem Ohr der hohe
Lyrische Dichter.

Es ist doch nicht so leicht, ihn sicher zu verstehn, ihn ganz zu genießen,
ihn, wie Mörike in einem Brief an seine Braut sagt (117), bis auf den
letzten verborgensten Honigtropfen auszusciugen, und jede Silbe, jeden leisen
Gedankenübergang mikroskopisch zu durchdringen. Immerhin könnte man
wünschen, daß jeder in einem hübschen Gedicht seinen eignen Regenbogen
sähe und auch Mörikes Plastik und Farbenschmelz genösse. Wen es nach
etwas Mystik gelüstet, der findet außerdem seine Rechnung (140, 197, 374).
Auch er hatte seine Leiden; er war nicht selten krank (besonders hören wir
von rheumatischen und Lähmungserscheinungen), hatte eigentlich immer kein
Geld, erlebte 1826 bis 1834 unerfreuliche Wanderjahre eines Pfarrvikars,
und seine Verlobung mit Luise Rau löste sich nach etwa fünf Jahren, als
er endlich dort Pfarrer wurde, wo wir ihn uns gewöhnlich denken, in Clever¬
sulzbach (1834 bis 1843). Da machte seine 1816 geborne Schwester Klara
die Hausfrau (190). Trotz seiner Liebenswürdigkeit hatte die Gemeinde doch
mancherlei an ihm auszusetzen, wie denu auch er oft Amtsüberdruß empfand.
Nachdem er seinen Abschied genommen hatte, lernte er 1845 Margarete
von Speth (damals sechsundzwanzig Jahre alt) kennen, die er 1851 heiratete.
Die Ehe war nicht so glücklich, wie man hätte erwarten können, sodaß 1873
eine Trennung erfolgte. Der Staat, der ihm oft Urlaub und Unterstützung
gewährt hatte, konnte ihn nicht allein durch die Pension ernähren. So über¬
nahm Mörike zeitweilig am Königlichen Katharinenstift Lektionen über poetische
Literatur der Deutschen mit Parallelen aus andern Literaturen, wofür sich sein
Honorar allmählich auf dreihundertundfunfzig Gulden erhöhte.

An Freunden und Bekannten fehlte es ihm zum Glück nicht. In den
Briefen sind außer der Familie hauptsächlich vertreten die Braut (112 f.)?
Waiblinger (der, irre ich nicht, nun auch sein literarisches Denkmal erhalten
hat), Hartlaub, Mährlen, Schwab, Kurz, Tieck. Sie füllten ihm gelegentlich
"die Luft mit angenehmem Wesen." Auch seine Berührung mit Ludwig
Richter und Schwind gehört hierher. Nicht ganz ohne Anteil war er an
der Politik (273, 365).

Sehen wir von seinen Entwürfen ab (M. 289 f.) und halten uns an
das Fertige, so gehört Mörike in hohem Maße zu deu Dichtern, die äußer¬
lich und innerlich Erlebtes widerspiegeln, was seinen Wert und seine lebendige
Wahrheit mit begründet. Viel Eignes enthält der 1832 erschienene Maler


Literargeschichtliches

sichern, was im Parzival der treffliche Gramoflcmz von Jtonje rühmt: Wir
minnen uns noch ungesehen.

Da uns Mörike in der Hauptsache Lyriker ist, wie Storm. der sich ge¬
legentlich seinen Schüler nennt, bei seinem schmächtigen Bändchen Lyrik
Novellist, so kann man sich nicht wundern, daß Mörike, der zuerst auch an
seinen Dramatikerberuf glaubte und allerlei journalistische Pläne verfolgte, so
langsam wirkte, daß das Schicksal den Kranz lange unter dem Mantel ver¬
borgen hielt (Briefe I, 190).


Handlung ist der Welt allmächtiger Puls, und deshalb
Fistel oftmals tauberem Ohr der hohe
Lyrische Dichter.

Es ist doch nicht so leicht, ihn sicher zu verstehn, ihn ganz zu genießen,
ihn, wie Mörike in einem Brief an seine Braut sagt (117), bis auf den
letzten verborgensten Honigtropfen auszusciugen, und jede Silbe, jeden leisen
Gedankenübergang mikroskopisch zu durchdringen. Immerhin könnte man
wünschen, daß jeder in einem hübschen Gedicht seinen eignen Regenbogen
sähe und auch Mörikes Plastik und Farbenschmelz genösse. Wen es nach
etwas Mystik gelüstet, der findet außerdem seine Rechnung (140, 197, 374).
Auch er hatte seine Leiden; er war nicht selten krank (besonders hören wir
von rheumatischen und Lähmungserscheinungen), hatte eigentlich immer kein
Geld, erlebte 1826 bis 1834 unerfreuliche Wanderjahre eines Pfarrvikars,
und seine Verlobung mit Luise Rau löste sich nach etwa fünf Jahren, als
er endlich dort Pfarrer wurde, wo wir ihn uns gewöhnlich denken, in Clever¬
sulzbach (1834 bis 1843). Da machte seine 1816 geborne Schwester Klara
die Hausfrau (190). Trotz seiner Liebenswürdigkeit hatte die Gemeinde doch
mancherlei an ihm auszusetzen, wie denu auch er oft Amtsüberdruß empfand.
Nachdem er seinen Abschied genommen hatte, lernte er 1845 Margarete
von Speth (damals sechsundzwanzig Jahre alt) kennen, die er 1851 heiratete.
Die Ehe war nicht so glücklich, wie man hätte erwarten können, sodaß 1873
eine Trennung erfolgte. Der Staat, der ihm oft Urlaub und Unterstützung
gewährt hatte, konnte ihn nicht allein durch die Pension ernähren. So über¬
nahm Mörike zeitweilig am Königlichen Katharinenstift Lektionen über poetische
Literatur der Deutschen mit Parallelen aus andern Literaturen, wofür sich sein
Honorar allmählich auf dreihundertundfunfzig Gulden erhöhte.

An Freunden und Bekannten fehlte es ihm zum Glück nicht. In den
Briefen sind außer der Familie hauptsächlich vertreten die Braut (112 f.)?
Waiblinger (der, irre ich nicht, nun auch sein literarisches Denkmal erhalten
hat), Hartlaub, Mährlen, Schwab, Kurz, Tieck. Sie füllten ihm gelegentlich
„die Luft mit angenehmem Wesen." Auch seine Berührung mit Ludwig
Richter und Schwind gehört hierher. Nicht ganz ohne Anteil war er an
der Politik (273, 365).

Sehen wir von seinen Entwürfen ab (M. 289 f.) und halten uns an
das Fertige, so gehört Mörike in hohem Maße zu deu Dichtern, die äußer¬
lich und innerlich Erlebtes widerspiegeln, was seinen Wert und seine lebendige
Wahrheit mit begründet. Viel Eignes enthält der 1832 erschienene Maler


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[0754] Literargeschichtliches sichern, was im Parzival der treffliche Gramoflcmz von Jtonje rühmt: Wir minnen uns noch ungesehen. Da uns Mörike in der Hauptsache Lyriker ist, wie Storm. der sich ge¬ legentlich seinen Schüler nennt, bei seinem schmächtigen Bändchen Lyrik Novellist, so kann man sich nicht wundern, daß Mörike, der zuerst auch an seinen Dramatikerberuf glaubte und allerlei journalistische Pläne verfolgte, so langsam wirkte, daß das Schicksal den Kranz lange unter dem Mantel ver¬ borgen hielt (Briefe I, 190). Handlung ist der Welt allmächtiger Puls, und deshalb Fistel oftmals tauberem Ohr der hohe Lyrische Dichter. Es ist doch nicht so leicht, ihn sicher zu verstehn, ihn ganz zu genießen, ihn, wie Mörike in einem Brief an seine Braut sagt (117), bis auf den letzten verborgensten Honigtropfen auszusciugen, und jede Silbe, jeden leisen Gedankenübergang mikroskopisch zu durchdringen. Immerhin könnte man wünschen, daß jeder in einem hübschen Gedicht seinen eignen Regenbogen sähe und auch Mörikes Plastik und Farbenschmelz genösse. Wen es nach etwas Mystik gelüstet, der findet außerdem seine Rechnung (140, 197, 374). Auch er hatte seine Leiden; er war nicht selten krank (besonders hören wir von rheumatischen und Lähmungserscheinungen), hatte eigentlich immer kein Geld, erlebte 1826 bis 1834 unerfreuliche Wanderjahre eines Pfarrvikars, und seine Verlobung mit Luise Rau löste sich nach etwa fünf Jahren, als er endlich dort Pfarrer wurde, wo wir ihn uns gewöhnlich denken, in Clever¬ sulzbach (1834 bis 1843). Da machte seine 1816 geborne Schwester Klara die Hausfrau (190). Trotz seiner Liebenswürdigkeit hatte die Gemeinde doch mancherlei an ihm auszusetzen, wie denu auch er oft Amtsüberdruß empfand. Nachdem er seinen Abschied genommen hatte, lernte er 1845 Margarete von Speth (damals sechsundzwanzig Jahre alt) kennen, die er 1851 heiratete. Die Ehe war nicht so glücklich, wie man hätte erwarten können, sodaß 1873 eine Trennung erfolgte. Der Staat, der ihm oft Urlaub und Unterstützung gewährt hatte, konnte ihn nicht allein durch die Pension ernähren. So über¬ nahm Mörike zeitweilig am Königlichen Katharinenstift Lektionen über poetische Literatur der Deutschen mit Parallelen aus andern Literaturen, wofür sich sein Honorar allmählich auf dreihundertundfunfzig Gulden erhöhte. An Freunden und Bekannten fehlte es ihm zum Glück nicht. In den Briefen sind außer der Familie hauptsächlich vertreten die Braut (112 f.)? Waiblinger (der, irre ich nicht, nun auch sein literarisches Denkmal erhalten hat), Hartlaub, Mährlen, Schwab, Kurz, Tieck. Sie füllten ihm gelegentlich „die Luft mit angenehmem Wesen." Auch seine Berührung mit Ludwig Richter und Schwind gehört hierher. Nicht ganz ohne Anteil war er an der Politik (273, 365). Sehen wir von seinen Entwürfen ab (M. 289 f.) und halten uns an das Fertige, so gehört Mörike in hohem Maße zu deu Dichtern, die äußer¬ lich und innerlich Erlebtes widerspiegeln, was seinen Wert und seine lebendige Wahrheit mit begründet. Viel Eignes enthält der 1832 erschienene Maler

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/754>, abgerufen am 25.07.2024.