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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Literargeschichtliches

Rollen -- auch Maync erinnert dabei an Kellers Grünen Heinrich. Ebenso
ists bei vielen Gedichten. Sie sind wohl lehrreicher für die Dichterpsycho¬
logie, als Dramen, wie oben die von Kleist. Zufällig stieß einmal Mörike
in einem Fremdwörterbuch auf den ihm bis dahin unbekannten Frauen¬
namen Rohtraut. "Er leuchtete mich an als wie eine Rosenglut, und schon
war auch die Königstochter da. Von dieser Vorstellung erwärmt trat ich
aus dem Zimmer zu ebner Erde in den Garten hinaus, ging einmal den
breiten Weg bis zur hintersten Laube hinüber und hatte das Gedicht er¬
funden, fast gleichzeitig damit das Versmaß und die ersten Zeilen, worauf
die Ausführung auch wie von selbst erfolgte" (vergl. 396). Solche Erzählung
hat ihren Reiz und ist jedenfalls interessanter, als wenn wir die Dichter¬
blumen auf den Draht der Assoziativ" und Apperzeption aufgezogen finden,
Drähte, die uns hier erst recht im Stich lassen würden, was kaum bewiesen
zu werden braucht. Aber auch die Milieuformel nützt uns nichts. Daß
Mörike den Namen las, gehört zum Milieu des Gedichts, denn von einem
solchen kann man als Unterabteilung des Personenmilieus reden. Wir über¬
lassen den Leuten, die das Talent haben, alles am besten zu wissen, geist¬
reich daran herum zu Spintisieren, wie nun aus dem Namen xlus Individuum
Mörike xws Zeit das Gedicht mit seinem Rhythmus usw. entstanden ist.
Daß übrigens gerade in Frankreich, allerdings durch einen so gelehrten und
geistreichen Historiker und Psychologen wie Taine, die Milieulehre eine so
eingehende Ausbildung gefunden hat, scheint mir mit den exakten Neigungen
und Fähigkeiten der Franzosen zusammenzuhängen. Sie messen nicht nur
gut, sondern ihre Naturforscher, Mathematiker, Mediziner veranschaulichen uns
ihre Tendenz zur Exaktheit. Daraus kann sich die Vorstellung entwickeln,
daß eine Periode, ein Mensch, sein Produkt, sich wie ein Rechenexempel
herausbringen lassen. Das ist eine interessante Verstandesübung und kommt
unsern philologisch-historischen Neigungen entgegen. Wer aber die noch unge¬
lösten tausend Rätsel der Entwicklungsgeschichte kennt, wird sich auch für die
geistigen Erzeugnisse bescheiden.

Es gibt freilich eine Sensation, wenn so ein Historiker, falls er immer
diesen Namen verdienen sollte, Zeit, Land, Familie geschildert hat, dann seine
Batterien demaskiert und so tut, als hätte er das Individuum mit nachträg¬
licher Divination als notwendig begriffen und dargestellt. Wir halten uns
nicht dabei auf, daß durch den spärlichen Saatwurf des Genies Körner auch
in niedrige Hütten fallen, deren Dunstkreis zu diesem Gewächs gar nicht zu
passen scheint. Aber da man doch die bedeutenden Individuen nach der
Milieuformel zu untersuchen pflegt, so bleibt das Rätsel der Zahl bestehn.
Weder wird uns klar, in welchem Zahlenverhältnis sie zur Fabrikware der
Natur stehn, noch warum sich zu einer gewissen Zeit in einem gewissen
Gebiet die Größen häufen, wie etwa bei uns in der zweiten Hälfte des acht¬
zehnten Jahrhunderts in der Literatur. Wenn wir schon glauben, daß, nach
einem gewissen Rhythmus der Dinge oder des Denkens, der Aufklärungs¬
philosophie die aufsteigende Welle eines sie überwindenden Denkens folgen
mußte, so wissen wir nicht, wie sie gerade aus dem Hause des Königsberger


Literargeschichtliches

Rollen — auch Maync erinnert dabei an Kellers Grünen Heinrich. Ebenso
ists bei vielen Gedichten. Sie sind wohl lehrreicher für die Dichterpsycho¬
logie, als Dramen, wie oben die von Kleist. Zufällig stieß einmal Mörike
in einem Fremdwörterbuch auf den ihm bis dahin unbekannten Frauen¬
namen Rohtraut. „Er leuchtete mich an als wie eine Rosenglut, und schon
war auch die Königstochter da. Von dieser Vorstellung erwärmt trat ich
aus dem Zimmer zu ebner Erde in den Garten hinaus, ging einmal den
breiten Weg bis zur hintersten Laube hinüber und hatte das Gedicht er¬
funden, fast gleichzeitig damit das Versmaß und die ersten Zeilen, worauf
die Ausführung auch wie von selbst erfolgte" (vergl. 396). Solche Erzählung
hat ihren Reiz und ist jedenfalls interessanter, als wenn wir die Dichter¬
blumen auf den Draht der Assoziativ« und Apperzeption aufgezogen finden,
Drähte, die uns hier erst recht im Stich lassen würden, was kaum bewiesen
zu werden braucht. Aber auch die Milieuformel nützt uns nichts. Daß
Mörike den Namen las, gehört zum Milieu des Gedichts, denn von einem
solchen kann man als Unterabteilung des Personenmilieus reden. Wir über¬
lassen den Leuten, die das Talent haben, alles am besten zu wissen, geist¬
reich daran herum zu Spintisieren, wie nun aus dem Namen xlus Individuum
Mörike xws Zeit das Gedicht mit seinem Rhythmus usw. entstanden ist.
Daß übrigens gerade in Frankreich, allerdings durch einen so gelehrten und
geistreichen Historiker und Psychologen wie Taine, die Milieulehre eine so
eingehende Ausbildung gefunden hat, scheint mir mit den exakten Neigungen
und Fähigkeiten der Franzosen zusammenzuhängen. Sie messen nicht nur
gut, sondern ihre Naturforscher, Mathematiker, Mediziner veranschaulichen uns
ihre Tendenz zur Exaktheit. Daraus kann sich die Vorstellung entwickeln,
daß eine Periode, ein Mensch, sein Produkt, sich wie ein Rechenexempel
herausbringen lassen. Das ist eine interessante Verstandesübung und kommt
unsern philologisch-historischen Neigungen entgegen. Wer aber die noch unge¬
lösten tausend Rätsel der Entwicklungsgeschichte kennt, wird sich auch für die
geistigen Erzeugnisse bescheiden.

Es gibt freilich eine Sensation, wenn so ein Historiker, falls er immer
diesen Namen verdienen sollte, Zeit, Land, Familie geschildert hat, dann seine
Batterien demaskiert und so tut, als hätte er das Individuum mit nachträg¬
licher Divination als notwendig begriffen und dargestellt. Wir halten uns
nicht dabei auf, daß durch den spärlichen Saatwurf des Genies Körner auch
in niedrige Hütten fallen, deren Dunstkreis zu diesem Gewächs gar nicht zu
passen scheint. Aber da man doch die bedeutenden Individuen nach der
Milieuformel zu untersuchen pflegt, so bleibt das Rätsel der Zahl bestehn.
Weder wird uns klar, in welchem Zahlenverhältnis sie zur Fabrikware der
Natur stehn, noch warum sich zu einer gewissen Zeit in einem gewissen
Gebiet die Größen häufen, wie etwa bei uns in der zweiten Hälfte des acht¬
zehnten Jahrhunderts in der Literatur. Wenn wir schon glauben, daß, nach
einem gewissen Rhythmus der Dinge oder des Denkens, der Aufklärungs¬
philosophie die aufsteigende Welle eines sie überwindenden Denkens folgen
mußte, so wissen wir nicht, wie sie gerade aus dem Hause des Königsberger


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[0755] Literargeschichtliches Rollen — auch Maync erinnert dabei an Kellers Grünen Heinrich. Ebenso ists bei vielen Gedichten. Sie sind wohl lehrreicher für die Dichterpsycho¬ logie, als Dramen, wie oben die von Kleist. Zufällig stieß einmal Mörike in einem Fremdwörterbuch auf den ihm bis dahin unbekannten Frauen¬ namen Rohtraut. „Er leuchtete mich an als wie eine Rosenglut, und schon war auch die Königstochter da. Von dieser Vorstellung erwärmt trat ich aus dem Zimmer zu ebner Erde in den Garten hinaus, ging einmal den breiten Weg bis zur hintersten Laube hinüber und hatte das Gedicht er¬ funden, fast gleichzeitig damit das Versmaß und die ersten Zeilen, worauf die Ausführung auch wie von selbst erfolgte" (vergl. 396). Solche Erzählung hat ihren Reiz und ist jedenfalls interessanter, als wenn wir die Dichter¬ blumen auf den Draht der Assoziativ« und Apperzeption aufgezogen finden, Drähte, die uns hier erst recht im Stich lassen würden, was kaum bewiesen zu werden braucht. Aber auch die Milieuformel nützt uns nichts. Daß Mörike den Namen las, gehört zum Milieu des Gedichts, denn von einem solchen kann man als Unterabteilung des Personenmilieus reden. Wir über¬ lassen den Leuten, die das Talent haben, alles am besten zu wissen, geist¬ reich daran herum zu Spintisieren, wie nun aus dem Namen xlus Individuum Mörike xws Zeit das Gedicht mit seinem Rhythmus usw. entstanden ist. Daß übrigens gerade in Frankreich, allerdings durch einen so gelehrten und geistreichen Historiker und Psychologen wie Taine, die Milieulehre eine so eingehende Ausbildung gefunden hat, scheint mir mit den exakten Neigungen und Fähigkeiten der Franzosen zusammenzuhängen. Sie messen nicht nur gut, sondern ihre Naturforscher, Mathematiker, Mediziner veranschaulichen uns ihre Tendenz zur Exaktheit. Daraus kann sich die Vorstellung entwickeln, daß eine Periode, ein Mensch, sein Produkt, sich wie ein Rechenexempel herausbringen lassen. Das ist eine interessante Verstandesübung und kommt unsern philologisch-historischen Neigungen entgegen. Wer aber die noch unge¬ lösten tausend Rätsel der Entwicklungsgeschichte kennt, wird sich auch für die geistigen Erzeugnisse bescheiden. Es gibt freilich eine Sensation, wenn so ein Historiker, falls er immer diesen Namen verdienen sollte, Zeit, Land, Familie geschildert hat, dann seine Batterien demaskiert und so tut, als hätte er das Individuum mit nachträg¬ licher Divination als notwendig begriffen und dargestellt. Wir halten uns nicht dabei auf, daß durch den spärlichen Saatwurf des Genies Körner auch in niedrige Hütten fallen, deren Dunstkreis zu diesem Gewächs gar nicht zu passen scheint. Aber da man doch die bedeutenden Individuen nach der Milieuformel zu untersuchen pflegt, so bleibt das Rätsel der Zahl bestehn. Weder wird uns klar, in welchem Zahlenverhältnis sie zur Fabrikware der Natur stehn, noch warum sich zu einer gewissen Zeit in einem gewissen Gebiet die Größen häufen, wie etwa bei uns in der zweiten Hälfte des acht¬ zehnten Jahrhunderts in der Literatur. Wenn wir schon glauben, daß, nach einem gewissen Rhythmus der Dinge oder des Denkens, der Aufklärungs¬ philosophie die aufsteigende Welle eines sie überwindenden Denkens folgen mußte, so wissen wir nicht, wie sie gerade aus dem Hause des Königsberger

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/755>, abgerufen am 25.07.2024.