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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Literargeschichtlichos

deshalb sind seine Darstellungen so reich an pathologischen Zügen und an
Hinweisen auf das Pathologische. Goethe selbst sagte ja einmal: Die Welt
ist so voller Schwachköpfe und Narren, daß man nicht nötig hat, sie im Toll¬
hause zu suchen.

Neu ist aber die Beobachtung eines bei Goethe periodisch auftretenden
pathologischen Zustandes. War er schon nicht so gesund, wie man nach
seinen ungeheuern Leistungen glauben sollte, hielt er viel auf Ärzte, war er
öfter "hübekonder" (Christiane an Nil. Meyer) infolge von "hemeroldalumstün,"
ist sein Greisenalter der glänzendste Beweis für die ungeheure Stärke seiner
Natur: so läßt sich außerdem eine physiologische Periodizität an ihm be¬
obachten (I, 205 s.). Und zwar treten ungefähr aller sieben Jahre solche
Zustände ein, in denen sich mit großer Erregung erhöhte Produktivität und
nicht selten Krankheit verbunden zeigt, zum Beispiel 1823 (I, 215 f. Vergl.
Möbius, Schopenhauer S. 55, 77, 1904: Rousseau S. 191 f.). Ausdrücklich
muß bemerkt werden, daß zwischen diesen großen Erregungen nicht immer
gleichmäßige Stimmung besteht, sondern Schwankungen verschiedner Art vor¬
kommen, wenn er auch "kein Mädchen im Kopfe hatte," daß die Division
durch sieben nicht glatt aufgeht.

Fragt ein Skeptiker, welchen Gewinn für das Verständnis Goethes wir
davon haben, welchen Verlust wir hätten, wenn wir das alles nicht wüßten,
jener Anlaß zu hypochondrischen Anwandlungen habe ja doch keine Spür in
Goethes Werken hinterlassen, nicht einmal in dem, was Nicolai an Werthers
Grabe sagt, so kann man ihm antworten, daß immerhin das intslliAörö auch
hierin zu seinem Recht kommt, ja daß es zur Entschuldigung Goethes bei¬
trägt. Ich unterlasse (vielleicht auch zum hundertunderstenmale) von Goethes
eignen Äußerungen über den Dichterwahnsinn zu reden und bemerke nur, daß
die Periodizität des Schaffens immer ihren Rhythmus hat. Daß sogar ein
Goethe nicht immer dichterisch tätig war oder solche Werke schuf, die bei der
Siebung der Nachwelt als Werke ersten Ranges im Sieb bleiben, ist um so
begreiflicher, als er wissenschaftlich so intensiv und extensiv arbeitete, sammelte,
amtliche Plackereien hatte u. a. in.

Wenn Möbius wieder darauf verweist, daß für Ottilie in den Wahlver¬
wandtschaften Minna Herzlich Modell gewesen sei, so scheint mir das nur
mit der Einschränkung erlaubt, die Möbius selbst an andern Personen (I, 105)
gelten läßt. Es kommt hinzu, daß Ottilie, die Goethe so viel Feines sagen
läßt, stark gegen die wahre Minna absticht. Denn von dieser wird uns
glaubhaft berichtet, daß sie zwar von Jugend auf gesund war, aber geistig
nicht sehr hoch stand, sich geistig nur langsam entwickelte, sodciß ihr keine an¬
haltende und strengere Verstandesarbeit zugemutet werden konnte. Auch war
sie schreibfaul. (Das Frommannsche Haus und seine Freunde. III. Auflage
1889. Stuttgart. S. 117 f.)

Überhaupt hat die ganze Modellsucherei eine üble Ähnlichkeit mit der
ewigen Quellenschnüffelei in der Philologie (im engern Sinne). Wir wissen
ja, daß ein großer Teil der Kunst ans Reproduktion beruht, und können uns
denken, daß die Dichter einzelne Personen zu ihren Gestaltungen benutze"


Literargeschichtlichos

deshalb sind seine Darstellungen so reich an pathologischen Zügen und an
Hinweisen auf das Pathologische. Goethe selbst sagte ja einmal: Die Welt
ist so voller Schwachköpfe und Narren, daß man nicht nötig hat, sie im Toll¬
hause zu suchen.

Neu ist aber die Beobachtung eines bei Goethe periodisch auftretenden
pathologischen Zustandes. War er schon nicht so gesund, wie man nach
seinen ungeheuern Leistungen glauben sollte, hielt er viel auf Ärzte, war er
öfter „hübekonder" (Christiane an Nil. Meyer) infolge von „hemeroldalumstün,"
ist sein Greisenalter der glänzendste Beweis für die ungeheure Stärke seiner
Natur: so läßt sich außerdem eine physiologische Periodizität an ihm be¬
obachten (I, 205 s.). Und zwar treten ungefähr aller sieben Jahre solche
Zustände ein, in denen sich mit großer Erregung erhöhte Produktivität und
nicht selten Krankheit verbunden zeigt, zum Beispiel 1823 (I, 215 f. Vergl.
Möbius, Schopenhauer S. 55, 77, 1904: Rousseau S. 191 f.). Ausdrücklich
muß bemerkt werden, daß zwischen diesen großen Erregungen nicht immer
gleichmäßige Stimmung besteht, sondern Schwankungen verschiedner Art vor¬
kommen, wenn er auch „kein Mädchen im Kopfe hatte," daß die Division
durch sieben nicht glatt aufgeht.

Fragt ein Skeptiker, welchen Gewinn für das Verständnis Goethes wir
davon haben, welchen Verlust wir hätten, wenn wir das alles nicht wüßten,
jener Anlaß zu hypochondrischen Anwandlungen habe ja doch keine Spür in
Goethes Werken hinterlassen, nicht einmal in dem, was Nicolai an Werthers
Grabe sagt, so kann man ihm antworten, daß immerhin das intslliAörö auch
hierin zu seinem Recht kommt, ja daß es zur Entschuldigung Goethes bei¬
trägt. Ich unterlasse (vielleicht auch zum hundertunderstenmale) von Goethes
eignen Äußerungen über den Dichterwahnsinn zu reden und bemerke nur, daß
die Periodizität des Schaffens immer ihren Rhythmus hat. Daß sogar ein
Goethe nicht immer dichterisch tätig war oder solche Werke schuf, die bei der
Siebung der Nachwelt als Werke ersten Ranges im Sieb bleiben, ist um so
begreiflicher, als er wissenschaftlich so intensiv und extensiv arbeitete, sammelte,
amtliche Plackereien hatte u. a. in.

Wenn Möbius wieder darauf verweist, daß für Ottilie in den Wahlver¬
wandtschaften Minna Herzlich Modell gewesen sei, so scheint mir das nur
mit der Einschränkung erlaubt, die Möbius selbst an andern Personen (I, 105)
gelten läßt. Es kommt hinzu, daß Ottilie, die Goethe so viel Feines sagen
läßt, stark gegen die wahre Minna absticht. Denn von dieser wird uns
glaubhaft berichtet, daß sie zwar von Jugend auf gesund war, aber geistig
nicht sehr hoch stand, sich geistig nur langsam entwickelte, sodciß ihr keine an¬
haltende und strengere Verstandesarbeit zugemutet werden konnte. Auch war
sie schreibfaul. (Das Frommannsche Haus und seine Freunde. III. Auflage
1889. Stuttgart. S. 117 f.)

Überhaupt hat die ganze Modellsucherei eine üble Ähnlichkeit mit der
ewigen Quellenschnüffelei in der Philologie (im engern Sinne). Wir wissen
ja, daß ein großer Teil der Kunst ans Reproduktion beruht, und können uns
denken, daß die Dichter einzelne Personen zu ihren Gestaltungen benutze»


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[0704] Literargeschichtlichos deshalb sind seine Darstellungen so reich an pathologischen Zügen und an Hinweisen auf das Pathologische. Goethe selbst sagte ja einmal: Die Welt ist so voller Schwachköpfe und Narren, daß man nicht nötig hat, sie im Toll¬ hause zu suchen. Neu ist aber die Beobachtung eines bei Goethe periodisch auftretenden pathologischen Zustandes. War er schon nicht so gesund, wie man nach seinen ungeheuern Leistungen glauben sollte, hielt er viel auf Ärzte, war er öfter „hübekonder" (Christiane an Nil. Meyer) infolge von „hemeroldalumstün," ist sein Greisenalter der glänzendste Beweis für die ungeheure Stärke seiner Natur: so läßt sich außerdem eine physiologische Periodizität an ihm be¬ obachten (I, 205 s.). Und zwar treten ungefähr aller sieben Jahre solche Zustände ein, in denen sich mit großer Erregung erhöhte Produktivität und nicht selten Krankheit verbunden zeigt, zum Beispiel 1823 (I, 215 f. Vergl. Möbius, Schopenhauer S. 55, 77, 1904: Rousseau S. 191 f.). Ausdrücklich muß bemerkt werden, daß zwischen diesen großen Erregungen nicht immer gleichmäßige Stimmung besteht, sondern Schwankungen verschiedner Art vor¬ kommen, wenn er auch „kein Mädchen im Kopfe hatte," daß die Division durch sieben nicht glatt aufgeht. Fragt ein Skeptiker, welchen Gewinn für das Verständnis Goethes wir davon haben, welchen Verlust wir hätten, wenn wir das alles nicht wüßten, jener Anlaß zu hypochondrischen Anwandlungen habe ja doch keine Spür in Goethes Werken hinterlassen, nicht einmal in dem, was Nicolai an Werthers Grabe sagt, so kann man ihm antworten, daß immerhin das intslliAörö auch hierin zu seinem Recht kommt, ja daß es zur Entschuldigung Goethes bei¬ trägt. Ich unterlasse (vielleicht auch zum hundertunderstenmale) von Goethes eignen Äußerungen über den Dichterwahnsinn zu reden und bemerke nur, daß die Periodizität des Schaffens immer ihren Rhythmus hat. Daß sogar ein Goethe nicht immer dichterisch tätig war oder solche Werke schuf, die bei der Siebung der Nachwelt als Werke ersten Ranges im Sieb bleiben, ist um so begreiflicher, als er wissenschaftlich so intensiv und extensiv arbeitete, sammelte, amtliche Plackereien hatte u. a. in. Wenn Möbius wieder darauf verweist, daß für Ottilie in den Wahlver¬ wandtschaften Minna Herzlich Modell gewesen sei, so scheint mir das nur mit der Einschränkung erlaubt, die Möbius selbst an andern Personen (I, 105) gelten läßt. Es kommt hinzu, daß Ottilie, die Goethe so viel Feines sagen läßt, stark gegen die wahre Minna absticht. Denn von dieser wird uns glaubhaft berichtet, daß sie zwar von Jugend auf gesund war, aber geistig nicht sehr hoch stand, sich geistig nur langsam entwickelte, sodciß ihr keine an¬ haltende und strengere Verstandesarbeit zugemutet werden konnte. Auch war sie schreibfaul. (Das Frommannsche Haus und seine Freunde. III. Auflage 1889. Stuttgart. S. 117 f.) Überhaupt hat die ganze Modellsucherei eine üble Ähnlichkeit mit der ewigen Quellenschnüffelei in der Philologie (im engern Sinne). Wir wissen ja, daß ein großer Teil der Kunst ans Reproduktion beruht, und können uns denken, daß die Dichter einzelne Personen zu ihren Gestaltungen benutze»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/704>, abgerufen am 04.07.2024.