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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Literargeschichtliches

Wenn auch das Gezeter oder das salbungsvolle Geseufze über Goethes
Verliebtheit nicht aufhören wird, so muß doch wiederholt werden, daß wir
statistisch gar nicht wissen, wie die Menschen sich sonst verhalten oder ver¬
halten hätten, wenn sie an Goethes Stelle gewesen wären. Bei Tag und bei
Nacht geht eben viel durch das Labyrinth der Brust, was von den Menschen
nicht gewußt oder bedacht wird. Vermutlich würde sich die Welt noch düstrer
ausnehmen, wenn die Geschichte der geheimen Schmerzen oder der bösen Ge¬
danken mit annähernder Vollständigkeit geschrieben würde, und zwar mit den
grellen Farben, die nach Treitschke alle wahrhaftige Geschichte trägt. Goethes
Rat: Beurteile niemand, bis du an seiner Stelle gestanden hast, ist zwar un¬
durchführbar, aber beherzigenswert. Wie hätten sich viele, die jetzt in der
Toga der Korrektheit prangen, benommen, wenn sie an seiner Stelle gewesen
wären -- berühmt, umschwärmt, in einem großen und mannigfach ausge¬
zeichneten Kreise des Verkehrs! Ja man kann sich an den kleinen scherzhaften
Vers aus einem andern Kreise erinnern: Zürne nicht ob Lota Montez, selber
habend nicht gekonnt es.

Oder sollen wir zu Goethes Verteidigung auf noch weit ältere Herren
verweisen (Genesis 5 oder 25)? Wir bescheiden uns nun mit dem, was wir
direkt von ihm wissen. Da sollte man doch aufhören, ihm vorzuwerfen, was
er einmal an Frau von Stein schreibt: Ich log und trog mich bey allen
hübschen Gesichtern herum und hatte den Vorteil, immer im Augenblick zu
glauben, was ich sagte (Fielitz I, 22). Denn das bezieht sich auf einen
einzigen Abend. Möbius urteilt besonnen II, 41. An kleinern Neigungen
fehlte es zwar fast nie ganz, aber die eigentlichen Liebschaften traten perio¬
disch auf. Goethes Scherz gegen Julie von Egloffstein (1822: Mir geht es
schlecht, denn ich bin weder verliebt, noch ist jemand in mich verliebt) hätte
Alex. Baumgartner leichter nehmen sollen.

Während Goethe nach Karoline von Egloffstein dichtende Frauen nicht
leiden konnte, ließ er sich in der Tat gern durch Frauen zum Dichten an¬
regen und genoß sie als Spiegel oder Echo. Möbius meint nicht übel, daß
die Verliebtheit des Dichters ein Kunstgriff der Natur sei. Die Weiber
machen sich um die Poesie verdient, wenn sie den Dichter lieben. Ja es ist
auch analog begreiflich, daß sich der Künstler durch ihre Teilnahme gefördert
fühlt, wie das bei Ibsen (Frau vom Meer IV, 1) angedeutet wird. Über
die Angelegenheit mit Ulrike von Levetzow endlich haben wir eine sachgemäße
Beurteilung bei Bielschowsky II, 481 f.

Ist so in Goethes Verhältnis zu den Frauen, von jener Periodizität
abgesehen, nichts Pathologisches zu finden, so geht Möbius dazu über, Goethes
eigne pathologische Zustünde und seine Schilderungen von dergleichen zu
mustern. Dabei werden wir vorsichtig sein müssen. Wer wollte nämlich
schließen, daß Shakespeare viel Pathologisches an sich hatte, weil er es dar¬
stellt? Sein Leben zeigt im Gegenteil keine Spur davon, nicht einmal in
den Nachspürungen von G. Brandes. So kommt denn auch Möbius nach der
Betrachtung von Werther, dem Harfner usw. zu dem richtigen Ergebnis: weil
wir bei Goethe das dichterisch erfaßte Bild des wirklichen Lebens finden,


Literargeschichtliches

Wenn auch das Gezeter oder das salbungsvolle Geseufze über Goethes
Verliebtheit nicht aufhören wird, so muß doch wiederholt werden, daß wir
statistisch gar nicht wissen, wie die Menschen sich sonst verhalten oder ver¬
halten hätten, wenn sie an Goethes Stelle gewesen wären. Bei Tag und bei
Nacht geht eben viel durch das Labyrinth der Brust, was von den Menschen
nicht gewußt oder bedacht wird. Vermutlich würde sich die Welt noch düstrer
ausnehmen, wenn die Geschichte der geheimen Schmerzen oder der bösen Ge¬
danken mit annähernder Vollständigkeit geschrieben würde, und zwar mit den
grellen Farben, die nach Treitschke alle wahrhaftige Geschichte trägt. Goethes
Rat: Beurteile niemand, bis du an seiner Stelle gestanden hast, ist zwar un¬
durchführbar, aber beherzigenswert. Wie hätten sich viele, die jetzt in der
Toga der Korrektheit prangen, benommen, wenn sie an seiner Stelle gewesen
wären — berühmt, umschwärmt, in einem großen und mannigfach ausge¬
zeichneten Kreise des Verkehrs! Ja man kann sich an den kleinen scherzhaften
Vers aus einem andern Kreise erinnern: Zürne nicht ob Lota Montez, selber
habend nicht gekonnt es.

Oder sollen wir zu Goethes Verteidigung auf noch weit ältere Herren
verweisen (Genesis 5 oder 25)? Wir bescheiden uns nun mit dem, was wir
direkt von ihm wissen. Da sollte man doch aufhören, ihm vorzuwerfen, was
er einmal an Frau von Stein schreibt: Ich log und trog mich bey allen
hübschen Gesichtern herum und hatte den Vorteil, immer im Augenblick zu
glauben, was ich sagte (Fielitz I, 22). Denn das bezieht sich auf einen
einzigen Abend. Möbius urteilt besonnen II, 41. An kleinern Neigungen
fehlte es zwar fast nie ganz, aber die eigentlichen Liebschaften traten perio¬
disch auf. Goethes Scherz gegen Julie von Egloffstein (1822: Mir geht es
schlecht, denn ich bin weder verliebt, noch ist jemand in mich verliebt) hätte
Alex. Baumgartner leichter nehmen sollen.

Während Goethe nach Karoline von Egloffstein dichtende Frauen nicht
leiden konnte, ließ er sich in der Tat gern durch Frauen zum Dichten an¬
regen und genoß sie als Spiegel oder Echo. Möbius meint nicht übel, daß
die Verliebtheit des Dichters ein Kunstgriff der Natur sei. Die Weiber
machen sich um die Poesie verdient, wenn sie den Dichter lieben. Ja es ist
auch analog begreiflich, daß sich der Künstler durch ihre Teilnahme gefördert
fühlt, wie das bei Ibsen (Frau vom Meer IV, 1) angedeutet wird. Über
die Angelegenheit mit Ulrike von Levetzow endlich haben wir eine sachgemäße
Beurteilung bei Bielschowsky II, 481 f.

Ist so in Goethes Verhältnis zu den Frauen, von jener Periodizität
abgesehen, nichts Pathologisches zu finden, so geht Möbius dazu über, Goethes
eigne pathologische Zustünde und seine Schilderungen von dergleichen zu
mustern. Dabei werden wir vorsichtig sein müssen. Wer wollte nämlich
schließen, daß Shakespeare viel Pathologisches an sich hatte, weil er es dar¬
stellt? Sein Leben zeigt im Gegenteil keine Spur davon, nicht einmal in
den Nachspürungen von G. Brandes. So kommt denn auch Möbius nach der
Betrachtung von Werther, dem Harfner usw. zu dem richtigen Ergebnis: weil
wir bei Goethe das dichterisch erfaßte Bild des wirklichen Lebens finden,


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[0703] Literargeschichtliches Wenn auch das Gezeter oder das salbungsvolle Geseufze über Goethes Verliebtheit nicht aufhören wird, so muß doch wiederholt werden, daß wir statistisch gar nicht wissen, wie die Menschen sich sonst verhalten oder ver¬ halten hätten, wenn sie an Goethes Stelle gewesen wären. Bei Tag und bei Nacht geht eben viel durch das Labyrinth der Brust, was von den Menschen nicht gewußt oder bedacht wird. Vermutlich würde sich die Welt noch düstrer ausnehmen, wenn die Geschichte der geheimen Schmerzen oder der bösen Ge¬ danken mit annähernder Vollständigkeit geschrieben würde, und zwar mit den grellen Farben, die nach Treitschke alle wahrhaftige Geschichte trägt. Goethes Rat: Beurteile niemand, bis du an seiner Stelle gestanden hast, ist zwar un¬ durchführbar, aber beherzigenswert. Wie hätten sich viele, die jetzt in der Toga der Korrektheit prangen, benommen, wenn sie an seiner Stelle gewesen wären — berühmt, umschwärmt, in einem großen und mannigfach ausge¬ zeichneten Kreise des Verkehrs! Ja man kann sich an den kleinen scherzhaften Vers aus einem andern Kreise erinnern: Zürne nicht ob Lota Montez, selber habend nicht gekonnt es. Oder sollen wir zu Goethes Verteidigung auf noch weit ältere Herren verweisen (Genesis 5 oder 25)? Wir bescheiden uns nun mit dem, was wir direkt von ihm wissen. Da sollte man doch aufhören, ihm vorzuwerfen, was er einmal an Frau von Stein schreibt: Ich log und trog mich bey allen hübschen Gesichtern herum und hatte den Vorteil, immer im Augenblick zu glauben, was ich sagte (Fielitz I, 22). Denn das bezieht sich auf einen einzigen Abend. Möbius urteilt besonnen II, 41. An kleinern Neigungen fehlte es zwar fast nie ganz, aber die eigentlichen Liebschaften traten perio¬ disch auf. Goethes Scherz gegen Julie von Egloffstein (1822: Mir geht es schlecht, denn ich bin weder verliebt, noch ist jemand in mich verliebt) hätte Alex. Baumgartner leichter nehmen sollen. Während Goethe nach Karoline von Egloffstein dichtende Frauen nicht leiden konnte, ließ er sich in der Tat gern durch Frauen zum Dichten an¬ regen und genoß sie als Spiegel oder Echo. Möbius meint nicht übel, daß die Verliebtheit des Dichters ein Kunstgriff der Natur sei. Die Weiber machen sich um die Poesie verdient, wenn sie den Dichter lieben. Ja es ist auch analog begreiflich, daß sich der Künstler durch ihre Teilnahme gefördert fühlt, wie das bei Ibsen (Frau vom Meer IV, 1) angedeutet wird. Über die Angelegenheit mit Ulrike von Levetzow endlich haben wir eine sachgemäße Beurteilung bei Bielschowsky II, 481 f. Ist so in Goethes Verhältnis zu den Frauen, von jener Periodizität abgesehen, nichts Pathologisches zu finden, so geht Möbius dazu über, Goethes eigne pathologische Zustünde und seine Schilderungen von dergleichen zu mustern. Dabei werden wir vorsichtig sein müssen. Wer wollte nämlich schließen, daß Shakespeare viel Pathologisches an sich hatte, weil er es dar¬ stellt? Sein Leben zeigt im Gegenteil keine Spur davon, nicht einmal in den Nachspürungen von G. Brandes. So kommt denn auch Möbius nach der Betrachtung von Werther, dem Harfner usw. zu dem richtigen Ergebnis: weil wir bei Goethe das dichterisch erfaßte Bild des wirklichen Lebens finden,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/703>, abgerufen am 04.07.2024.