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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Literargeschichtliches

sagt, muß man einschränkend hinzufügen, daß die von ihm jenen Richtern zu-
geschriebnen Beweggründe oft unbegründet sind, abgerechnet etwa die infamen
Besudlungen, die man vergeblich an dem reinen, wehmütigen Bilde Friede-
rikens versucht hat.

In seinem Werke Goethe (I. Teil, 264 Seiten. II. Teil, 260 Seiten.
Leipzig, Joh. Ambros. Barth, 1903; jeder Band 3 Mark, geb. 4.50 Mark,
sehr schöner deutlicher Druck) hat P. I. Möbius uur das spinozistische In¬
teresse no<zus rillörs, means llsrs, veo ästöstari, sha intölli^ers. Mit klinischer
Genauigkeit werden die Tatsachen gebucht, und wenn viel vom Pathologischen
bei Goethe die Rede ist, so sind die Ergebnisse doch nicht so wie in den Büchern
über Rousseau und über Schopenhauer. Das liegt nicht an einer weniger
sorgfältigen Methode, sondern am Patienten selbst, wenn denn Goethe als
solcher bezeichnet werden darf. Hier handelt es sich nicht um ein Ancilogon
der "Revision des Prozesses Goethe," die in den Grenzboten (1898, Ur. 42)
treffend beleuchtet worden ist. Vielmehr will Möbius die Erkenntnis Goethes
durch die Mittel der modernen medizinischen Wissenschaft fördern. Weil an
jedem hervorragenden Menschen das Pathologische teil habe, darum sei bei
jeder Biographie die Hilfe des Sachverständigen nötig. (Möbius, Rousseau
XI, 1903.)

Die Lehre, daß die Hauptursache für den Menschen das "Milieu" sei,
nennt Möbius widerwärtig und dumm (I, 183), meint auch, daß bei der
Mangelhaftigkeit unsrer Einsicht von einer befriedigenden Erklärung des
Wunders Goethe aus den Eigenschaften seiner Eltern keine Rede sein kann;
daß wir bei den Müttern großer Männer nicht viel würden prophezeien
können, wenn wir die Söhne nicht schon kennten: untersucht aber doch die
ganze Familie und findet in ihr ein Beispiel der bis zur Vernichtung fort¬
schreitenden Entartung. Und mitten in all dem Jammer steht der Genius.
Möbius lehnt die widerlichen Untersuchungen eines andern ab (I, 169 f.) und
glaubt seinerseits, daß der Weingenuß an den mancherlei traurigen Erscheinungen
schuld sei.

Die Sterblichkeit seiner Kinder sei darauf zurückzuführen. Christianens
Vater soll Trinker gewesen sein. Christiane habe die Neigung geerbt. Von
Trunksucht sei freilich bei Goethe keine Rede, wie hätte er auch sonst so viel
und so arbeiten können! Immerhin sei der tägliche Genuß einer in Wein¬
ländern noch für müßig geltenden Menge schädlich gewesen. Vermutlich sei
Christiane von Goethe noch etwas zum Mittrinken angeregt worden.

Auch sonst wird Goethe mit dem Auge eines Mediziners geprüft; so sein
Äußeres II, 26 f. Möbius findet, daß die Porträts meist nichts taugen.
Gewiß. Noch viel deutlicher sieht man in seinem "Schopenhauer," wie wenig
man sich darauf verlassen darf, wie wir denn auch von Shakespeare durchaus
kein Bild haben, das unsrer Vorstellung charakteristisch entspräche, während
man sich ihn gern so dächte, wie er von Kaulbach (Zeitalter der Reformation)
gemalt ist. Auf das Geistige übergehend bespricht Möbius die Weiber, die
Freundschaft, Kinderliebe, Heftigkeit, den Erwerbsinn, die Neigung zum Wunder¬
baren u. a. in.


Literargeschichtliches

sagt, muß man einschränkend hinzufügen, daß die von ihm jenen Richtern zu-
geschriebnen Beweggründe oft unbegründet sind, abgerechnet etwa die infamen
Besudlungen, die man vergeblich an dem reinen, wehmütigen Bilde Friede-
rikens versucht hat.

In seinem Werke Goethe (I. Teil, 264 Seiten. II. Teil, 260 Seiten.
Leipzig, Joh. Ambros. Barth, 1903; jeder Band 3 Mark, geb. 4.50 Mark,
sehr schöner deutlicher Druck) hat P. I. Möbius uur das spinozistische In¬
teresse no<zus rillörs, means llsrs, veo ästöstari, sha intölli^ers. Mit klinischer
Genauigkeit werden die Tatsachen gebucht, und wenn viel vom Pathologischen
bei Goethe die Rede ist, so sind die Ergebnisse doch nicht so wie in den Büchern
über Rousseau und über Schopenhauer. Das liegt nicht an einer weniger
sorgfältigen Methode, sondern am Patienten selbst, wenn denn Goethe als
solcher bezeichnet werden darf. Hier handelt es sich nicht um ein Ancilogon
der „Revision des Prozesses Goethe," die in den Grenzboten (1898, Ur. 42)
treffend beleuchtet worden ist. Vielmehr will Möbius die Erkenntnis Goethes
durch die Mittel der modernen medizinischen Wissenschaft fördern. Weil an
jedem hervorragenden Menschen das Pathologische teil habe, darum sei bei
jeder Biographie die Hilfe des Sachverständigen nötig. (Möbius, Rousseau
XI, 1903.)

Die Lehre, daß die Hauptursache für den Menschen das „Milieu" sei,
nennt Möbius widerwärtig und dumm (I, 183), meint auch, daß bei der
Mangelhaftigkeit unsrer Einsicht von einer befriedigenden Erklärung des
Wunders Goethe aus den Eigenschaften seiner Eltern keine Rede sein kann;
daß wir bei den Müttern großer Männer nicht viel würden prophezeien
können, wenn wir die Söhne nicht schon kennten: untersucht aber doch die
ganze Familie und findet in ihr ein Beispiel der bis zur Vernichtung fort¬
schreitenden Entartung. Und mitten in all dem Jammer steht der Genius.
Möbius lehnt die widerlichen Untersuchungen eines andern ab (I, 169 f.) und
glaubt seinerseits, daß der Weingenuß an den mancherlei traurigen Erscheinungen
schuld sei.

Die Sterblichkeit seiner Kinder sei darauf zurückzuführen. Christianens
Vater soll Trinker gewesen sein. Christiane habe die Neigung geerbt. Von
Trunksucht sei freilich bei Goethe keine Rede, wie hätte er auch sonst so viel
und so arbeiten können! Immerhin sei der tägliche Genuß einer in Wein¬
ländern noch für müßig geltenden Menge schädlich gewesen. Vermutlich sei
Christiane von Goethe noch etwas zum Mittrinken angeregt worden.

Auch sonst wird Goethe mit dem Auge eines Mediziners geprüft; so sein
Äußeres II, 26 f. Möbius findet, daß die Porträts meist nichts taugen.
Gewiß. Noch viel deutlicher sieht man in seinem „Schopenhauer," wie wenig
man sich darauf verlassen darf, wie wir denn auch von Shakespeare durchaus
kein Bild haben, das unsrer Vorstellung charakteristisch entspräche, während
man sich ihn gern so dächte, wie er von Kaulbach (Zeitalter der Reformation)
gemalt ist. Auf das Geistige übergehend bespricht Möbius die Weiber, die
Freundschaft, Kinderliebe, Heftigkeit, den Erwerbsinn, die Neigung zum Wunder¬
baren u. a. in.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/702>, abgerufen am 04.07.2024.