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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Literargeschichtliches

Eindruck stören würde. So sucht sich denn jeder heraus, was ihm erreichbar
ist oder paßt. Und so wird es auch sein bei einer Reihe von Schriften, die
mit großem Fleiß dem Studium einiger literarischer Persönlichkeiten ge¬
widmet sind."

Zunächst Goethe und kein Ende. Hätten wir von ihm nur die "Werke,
eine Bildsäule, wie etwa die des Sophokles im Lateran, ein paar Lebens¬
nachrichten, wie von den großen attischen Tragikern, so wüßten wir immerhin
noch mehr von ihm als von jenen. Denn er hat uns nicht bloß sein Leben
beschrieben, in Vers und Prosa individuelle Bekenntnisse gemacht, sondern auch
in den Annalen und dergleichen gesprochen, außerdem versichert: Es ist mir
wirklich sonderbar zumute, daß diese vier zarten Bündchen, die Resultate eines
halben Lebens, mich in Rom aufsuchen. Ich kann wohl sagen, es ist kein
Buchstabe darin, der nicht gelebt, empfunden, genossen, gelitten, gedacht wäre
(Zweiter Aufenthalt in Rom, 22. September 1787). Wir würden dann den
unerreicht großen Dichter und seine wunderbare Fülle anstaunen und sagen,
daß sich Zartheit, Tiefe, Erhabenheit, Schönheit in einziger Verbindung zeigen,
daß nur eine kerngesunde Natur zu solchen Leistungen befähigt war, daß er,
obgleich er die Welt kannte, sie optimistisch bejahte:


Und doch sang ich gläubigerweise,
Daß mir die Geliebte treu,
Daß die Welt, wie sie auch kreise,
Liebevoll und dankbar sei.

Vermutlich wären wir glücklicher ohne das gelehrte Wissen über ihn, das
doch bis zu einem gewissen Grade den unmittelbaren Genuß seiner Werke be¬
einträchtigt.

So offenherzig er nun selbst gewesen ist, so bleibt doch zweifelhaft, ob ihm
alle unsre Nachforschungen über sein Leben sympathisch gewesen wären. Beruft
man sich auf das psychologische Interesse, auf das Recht oder gar die Pflicht
des Historikers, so ist auch dagegen Widerspruch erhoben worden. Schopen¬
hauer nämlich, also ein Verehrer Goethes, findet nicht nur die Leute ver¬
ächtlich, die zum Beispiel Kants alten Hut und allerlei Autographen auf¬
merksam und ehrfurchtsvoll angafften, sondern auch die, die eifrig bemüht
seien, das Stoffliche der Dichterwerke, zum Beispiel die Faustsage und ihre
Literatur, sodann die persönlichen Verhältnisse und Begebenheiten im Leben
des Dichters, die zu seinem Werk Anlaß gegeben haben, zu erforschen und
gründlich kennen zu lernen. Sie glichen dem, der im Theater eine schöne
Dekoration sieht und nun auf die Bühne eilt, die hölzernen Gerüste, von
denen sie getragen wird, zu besichtigen. Noch ungünstiger urteilt Schopen¬
hauer über die weitläufigen Untersuchungen des Lebens Goethes von der
moralischen Seite, "um zu sehen, ob sie nicht dort irgendeinen Makel ent¬
decken können" . . . Auch hier ist Schopenhauer etwas Berserker. Immerhin
könnte er, dessen starke Seite die geschichtliche Betrachtung nicht war, sich jetzt
auf einen Historiker als Bundesgenossen berufen, da Treitschke die Arbeit der
Zunft der Goetheforscher pedantisch nennt, eine neue, wenig erfreuliche Spiel¬
art des deutschen gelehrten Philistertums. Dem, was Schopenhauer Wahres


Literargeschichtliches

Eindruck stören würde. So sucht sich denn jeder heraus, was ihm erreichbar
ist oder paßt. Und so wird es auch sein bei einer Reihe von Schriften, die
mit großem Fleiß dem Studium einiger literarischer Persönlichkeiten ge¬
widmet sind."

Zunächst Goethe und kein Ende. Hätten wir von ihm nur die „Werke,
eine Bildsäule, wie etwa die des Sophokles im Lateran, ein paar Lebens¬
nachrichten, wie von den großen attischen Tragikern, so wüßten wir immerhin
noch mehr von ihm als von jenen. Denn er hat uns nicht bloß sein Leben
beschrieben, in Vers und Prosa individuelle Bekenntnisse gemacht, sondern auch
in den Annalen und dergleichen gesprochen, außerdem versichert: Es ist mir
wirklich sonderbar zumute, daß diese vier zarten Bündchen, die Resultate eines
halben Lebens, mich in Rom aufsuchen. Ich kann wohl sagen, es ist kein
Buchstabe darin, der nicht gelebt, empfunden, genossen, gelitten, gedacht wäre
(Zweiter Aufenthalt in Rom, 22. September 1787). Wir würden dann den
unerreicht großen Dichter und seine wunderbare Fülle anstaunen und sagen,
daß sich Zartheit, Tiefe, Erhabenheit, Schönheit in einziger Verbindung zeigen,
daß nur eine kerngesunde Natur zu solchen Leistungen befähigt war, daß er,
obgleich er die Welt kannte, sie optimistisch bejahte:


Und doch sang ich gläubigerweise,
Daß mir die Geliebte treu,
Daß die Welt, wie sie auch kreise,
Liebevoll und dankbar sei.

Vermutlich wären wir glücklicher ohne das gelehrte Wissen über ihn, das
doch bis zu einem gewissen Grade den unmittelbaren Genuß seiner Werke be¬
einträchtigt.

So offenherzig er nun selbst gewesen ist, so bleibt doch zweifelhaft, ob ihm
alle unsre Nachforschungen über sein Leben sympathisch gewesen wären. Beruft
man sich auf das psychologische Interesse, auf das Recht oder gar die Pflicht
des Historikers, so ist auch dagegen Widerspruch erhoben worden. Schopen¬
hauer nämlich, also ein Verehrer Goethes, findet nicht nur die Leute ver¬
ächtlich, die zum Beispiel Kants alten Hut und allerlei Autographen auf¬
merksam und ehrfurchtsvoll angafften, sondern auch die, die eifrig bemüht
seien, das Stoffliche der Dichterwerke, zum Beispiel die Faustsage und ihre
Literatur, sodann die persönlichen Verhältnisse und Begebenheiten im Leben
des Dichters, die zu seinem Werk Anlaß gegeben haben, zu erforschen und
gründlich kennen zu lernen. Sie glichen dem, der im Theater eine schöne
Dekoration sieht und nun auf die Bühne eilt, die hölzernen Gerüste, von
denen sie getragen wird, zu besichtigen. Noch ungünstiger urteilt Schopen¬
hauer über die weitläufigen Untersuchungen des Lebens Goethes von der
moralischen Seite, „um zu sehen, ob sie nicht dort irgendeinen Makel ent¬
decken können" . . . Auch hier ist Schopenhauer etwas Berserker. Immerhin
könnte er, dessen starke Seite die geschichtliche Betrachtung nicht war, sich jetzt
auf einen Historiker als Bundesgenossen berufen, da Treitschke die Arbeit der
Zunft der Goetheforscher pedantisch nennt, eine neue, wenig erfreuliche Spiel¬
art des deutschen gelehrten Philistertums. Dem, was Schopenhauer Wahres


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[0701] Literargeschichtliches Eindruck stören würde. So sucht sich denn jeder heraus, was ihm erreichbar ist oder paßt. Und so wird es auch sein bei einer Reihe von Schriften, die mit großem Fleiß dem Studium einiger literarischer Persönlichkeiten ge¬ widmet sind." Zunächst Goethe und kein Ende. Hätten wir von ihm nur die „Werke, eine Bildsäule, wie etwa die des Sophokles im Lateran, ein paar Lebens¬ nachrichten, wie von den großen attischen Tragikern, so wüßten wir immerhin noch mehr von ihm als von jenen. Denn er hat uns nicht bloß sein Leben beschrieben, in Vers und Prosa individuelle Bekenntnisse gemacht, sondern auch in den Annalen und dergleichen gesprochen, außerdem versichert: Es ist mir wirklich sonderbar zumute, daß diese vier zarten Bündchen, die Resultate eines halben Lebens, mich in Rom aufsuchen. Ich kann wohl sagen, es ist kein Buchstabe darin, der nicht gelebt, empfunden, genossen, gelitten, gedacht wäre (Zweiter Aufenthalt in Rom, 22. September 1787). Wir würden dann den unerreicht großen Dichter und seine wunderbare Fülle anstaunen und sagen, daß sich Zartheit, Tiefe, Erhabenheit, Schönheit in einziger Verbindung zeigen, daß nur eine kerngesunde Natur zu solchen Leistungen befähigt war, daß er, obgleich er die Welt kannte, sie optimistisch bejahte: Und doch sang ich gläubigerweise, Daß mir die Geliebte treu, Daß die Welt, wie sie auch kreise, Liebevoll und dankbar sei. Vermutlich wären wir glücklicher ohne das gelehrte Wissen über ihn, das doch bis zu einem gewissen Grade den unmittelbaren Genuß seiner Werke be¬ einträchtigt. So offenherzig er nun selbst gewesen ist, so bleibt doch zweifelhaft, ob ihm alle unsre Nachforschungen über sein Leben sympathisch gewesen wären. Beruft man sich auf das psychologische Interesse, auf das Recht oder gar die Pflicht des Historikers, so ist auch dagegen Widerspruch erhoben worden. Schopen¬ hauer nämlich, also ein Verehrer Goethes, findet nicht nur die Leute ver¬ ächtlich, die zum Beispiel Kants alten Hut und allerlei Autographen auf¬ merksam und ehrfurchtsvoll angafften, sondern auch die, die eifrig bemüht seien, das Stoffliche der Dichterwerke, zum Beispiel die Faustsage und ihre Literatur, sodann die persönlichen Verhältnisse und Begebenheiten im Leben des Dichters, die zu seinem Werk Anlaß gegeben haben, zu erforschen und gründlich kennen zu lernen. Sie glichen dem, der im Theater eine schöne Dekoration sieht und nun auf die Bühne eilt, die hölzernen Gerüste, von denen sie getragen wird, zu besichtigen. Noch ungünstiger urteilt Schopen¬ hauer über die weitläufigen Untersuchungen des Lebens Goethes von der moralischen Seite, „um zu sehen, ob sie nicht dort irgendeinen Makel ent¬ decken können" . . . Auch hier ist Schopenhauer etwas Berserker. Immerhin könnte er, dessen starke Seite die geschichtliche Betrachtung nicht war, sich jetzt auf einen Historiker als Bundesgenossen berufen, da Treitschke die Arbeit der Zunft der Goetheforscher pedantisch nennt, eine neue, wenig erfreuliche Spiel¬ art des deutschen gelehrten Philistertums. Dem, was Schopenhauer Wahres

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/701>, abgerufen am 04.07.2024.