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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Literargeschichtliches

Und doch ist das für die Biographie wichtig. Von Carlyle zum Beispiel
wird behauptet, er Hütte gar nicht heiraten dürfen; ähnlich stand es an¬
scheinend, wie G. Brandes in seiner interessanten Studie andeutet, mit dem
dänischen Schriftsteller Sören Kierkegaard, der auch wirklich nicht geheiratet
hat. (Vgl. Servaes, Kleist S. 11.) Aber nun die vielen andern! Zur Ge¬
schichte ferner gehört nicht nur die Weltgeschichte, sondern die Stüdtegeschichte,
Dorfgeschichte, Ansiedlungsgeschichte. Wollen wir davon wenigstens so viel
wissen, wie wir können?

Vor dieser Möglichkeit werden sich denn doch die meisten mit Entsetzen
abwenden, auch wenn sie die Relativität geschichtlicher Erkenntnis bestreiten,
die zum Beispiel Nietzsche in die paradoxe Formel gebracht hat: Alle Historiker
erzählen von Dingen, die nie existiert haben, außer in der Vorstellung. Oder
wird man mit demselben Nietzsche sagen: Die Erkenntnis auch der hä߬
lichsten Wirklichkeit ist schön? Dann wüßte ich nicht, wie wir dem Wunsche
entgehn könnten, von allen Menschen auch Photographien oder Büsten zu
haben. Denn das gehört ja auch zu den Tatsachen, ist Ausprägung der Per¬
sönlichkeit.

Wir leiden unter der Tyrannei des Gegebnen, wie nicht selten in der
Kunst unter der Tyrannei traditioneller Formen. Das Gegebne wird fort¬
während zu vermehren gesucht, wie jetzt besonders durch Grabungen. Die
Darstellung wird nuanciert durch eine neue Art der Betrachtung, wie zum
Beispiel durch die Betonung der Wirtschaftsgeschichte. Aus alledem folgt, daß
wenn nicht einmal ein Wunder geschieht, nicht einmal neben einer "Geschichte"
die andern den Atem verlieren, die Erkenntnis der Wahrheit immer zweifelhaft
bleiben und sich in der Wissenschaft wiederholen wird, was aus der Malerei
bekannt ist, daß eine Landschaft von zehn Malern zehnfach verschieden ge¬
malt wird.

Da sich die Kategorien der Betrachtung ändern, auch sich zugleich die
lichens- und hassenswerten Archive zuweilen aus all ihrem Papier noch
etwas Leben auspressen lassen, so kann man allerdings an sich einer Gene¬
ration nicht einen Vorwurf daraus machen, daß sie eine Revision früherer
historischer Anschauungen vornimmt, wie auch Treitschke gegenüber Ranke an.
deutet. Freilich steht im Grunde der endgiltige Gewinn für die Wahrheit oder
für die Weltanschauung dahin, und wir werden uns kaum enthalten, die
Historiker wegen ihrer furchtbaren Arbeit zu bedauern und zu fürchten, daß
zu viel Kraft für diese Dinge ausgegeben werde.

Betrachtungen dieser Art scheinen mir zwar zu dem Bekenntnis zu drängen,
daß nicht alles Wißbare wissenswert ist, daß sich aber doch das Wissenswerte
nicht durch eine scharfe Definition umgrenzen läßt. Deshalb bleibt in der Tat
dem persönlichen Geschmack sein Recht.

Die ersten Leser des Faust und die meisten der jetzigen haben durchaus
nicht alles gewußt, was jetzt einige Faustphilologen wissen. Seine Wirkung
hat er vermutlich am meisten auf die verhältnismäßig naiven Geister aus¬
geübt. So wird es auch bleiben, zumal da das philologische Einzelwissen
immer nur Eigentum weniger bleibt, vermutlich auch den gesamten ästhetischen


Literargeschichtliches

Und doch ist das für die Biographie wichtig. Von Carlyle zum Beispiel
wird behauptet, er Hütte gar nicht heiraten dürfen; ähnlich stand es an¬
scheinend, wie G. Brandes in seiner interessanten Studie andeutet, mit dem
dänischen Schriftsteller Sören Kierkegaard, der auch wirklich nicht geheiratet
hat. (Vgl. Servaes, Kleist S. 11.) Aber nun die vielen andern! Zur Ge¬
schichte ferner gehört nicht nur die Weltgeschichte, sondern die Stüdtegeschichte,
Dorfgeschichte, Ansiedlungsgeschichte. Wollen wir davon wenigstens so viel
wissen, wie wir können?

Vor dieser Möglichkeit werden sich denn doch die meisten mit Entsetzen
abwenden, auch wenn sie die Relativität geschichtlicher Erkenntnis bestreiten,
die zum Beispiel Nietzsche in die paradoxe Formel gebracht hat: Alle Historiker
erzählen von Dingen, die nie existiert haben, außer in der Vorstellung. Oder
wird man mit demselben Nietzsche sagen: Die Erkenntnis auch der hä߬
lichsten Wirklichkeit ist schön? Dann wüßte ich nicht, wie wir dem Wunsche
entgehn könnten, von allen Menschen auch Photographien oder Büsten zu
haben. Denn das gehört ja auch zu den Tatsachen, ist Ausprägung der Per¬
sönlichkeit.

Wir leiden unter der Tyrannei des Gegebnen, wie nicht selten in der
Kunst unter der Tyrannei traditioneller Formen. Das Gegebne wird fort¬
während zu vermehren gesucht, wie jetzt besonders durch Grabungen. Die
Darstellung wird nuanciert durch eine neue Art der Betrachtung, wie zum
Beispiel durch die Betonung der Wirtschaftsgeschichte. Aus alledem folgt, daß
wenn nicht einmal ein Wunder geschieht, nicht einmal neben einer „Geschichte"
die andern den Atem verlieren, die Erkenntnis der Wahrheit immer zweifelhaft
bleiben und sich in der Wissenschaft wiederholen wird, was aus der Malerei
bekannt ist, daß eine Landschaft von zehn Malern zehnfach verschieden ge¬
malt wird.

Da sich die Kategorien der Betrachtung ändern, auch sich zugleich die
lichens- und hassenswerten Archive zuweilen aus all ihrem Papier noch
etwas Leben auspressen lassen, so kann man allerdings an sich einer Gene¬
ration nicht einen Vorwurf daraus machen, daß sie eine Revision früherer
historischer Anschauungen vornimmt, wie auch Treitschke gegenüber Ranke an.
deutet. Freilich steht im Grunde der endgiltige Gewinn für die Wahrheit oder
für die Weltanschauung dahin, und wir werden uns kaum enthalten, die
Historiker wegen ihrer furchtbaren Arbeit zu bedauern und zu fürchten, daß
zu viel Kraft für diese Dinge ausgegeben werde.

Betrachtungen dieser Art scheinen mir zwar zu dem Bekenntnis zu drängen,
daß nicht alles Wißbare wissenswert ist, daß sich aber doch das Wissenswerte
nicht durch eine scharfe Definition umgrenzen läßt. Deshalb bleibt in der Tat
dem persönlichen Geschmack sein Recht.

Die ersten Leser des Faust und die meisten der jetzigen haben durchaus
nicht alles gewußt, was jetzt einige Faustphilologen wissen. Seine Wirkung
hat er vermutlich am meisten auf die verhältnismäßig naiven Geister aus¬
geübt. So wird es auch bleiben, zumal da das philologische Einzelwissen
immer nur Eigentum weniger bleibt, vermutlich auch den gesamten ästhetischen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/700>, abgerufen am 02.07.2024.