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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Der Mönch von weinfelden

liebes Dasein. Gyllis hätte glauben können, die Zeit stehe still, wenn ihm nicht
durch allerlei kleine Anzeichen zum Bewußtsein gebracht worden wäre, daß der ewige
Wechsel von Blühen und Welken, von Geborenwerden und Sterben jenseits des
Hügelrandes seinen ununterbrochnem Gang gehe. Bei seineu Beobachtungen, die er
Sonntags früh vom Turmfensterlein aus anstellte, bemerkte er eines Tages, daß
Theis Kuep nicht mehr so aufrecht einherschritt wie früher, daß er sich auf eiuen
Stab stützte, und daß er, so zeitig er auch von Schalkenmehren aufbrechen mochte,
doch zuweilen von Jüngern überholt wurde. Andre, die sonst regelmäßig zum
Gottesdienste gekommen waren, blieben nach und nach fern. Krankheit und die
Beschwerden des Alters hielten sie von dem gewohnten Gange zurück, bis sie sich
eines Tages zum letztenmal einstellten -- die Füße voran und mit großem Ge¬
folge -- und nicht wieder nach der neuen Heimat zurückkehrten. Die Gräber auf
dem Kirchhof mehrten sich, und der Pastor zimmerte mit eigner Hand manchem,
der jünger war, als er selbst, ein Kreuzlein und schnitzte die Buchstaben R. I. ?. 8.
hinein. Und die Lücken, die der Tod riß, füllte das Leben wieder aus. Die Kinder
wuchsen heran, gründete" eiuen eignen Hausstand oder zogen in die Welt, wo die
Arbeit nicht so schwer und das Brot nicht so hart war, wie auf den rauhen Höhen
der Eifel.

Nur Rehe Ströthers Häuflein schien immer dasselbe zu bleiben. In Kopfzahl
und Stufenfolge merkte man keine Veränderung. Aber der treue Pfarrherr, der
in jedem Jahre eines von Rehes Kindern zu trauen und ein andres zu taufen
hatte, wußte, daß es auch hier keinen Stillstand gab. Eins aber bekümmerte ihn
herzlich: das neue Geschlecht, das in Schalkenmehren heranwuchs und das versunkne
Dorf nur aus den Erzählungen der Eltern kannte, zeigte wenig Anhänglichkeit an
das Weinfelder Kirchlein. Die Bursche" und Mädchen, durch neue und festere Bande
mit dem Dorf, worin sie aufgewachsen waren, verbunden, konnten nicht recht verstehn,
weshalb sie einer Messe wegen, die sie in Schalkenmehren ja auch hören konnten,
den weiten Weg machen sollten. Da blieben sie denn allmählich weg, und die
Gemeinde, zu der der alternde Pastor allsonntäglich sprach, glich mehr und mehr
der Bewohnerschaft eines Greisenspittels. So kam es, daß der Kirchgänger mit
jedem Jahre weniger wurden, und daß es Gottesdienste gab, an denen nur vier
oder fünf, ja einmal nur zwei Gemeindemitglieder teilnahmen.

Der große Tag kam heran, wo sich der Untergang Weiufeldens zum funfzigsten
male jährte. Gyllis beabsichtigte, das Anniversar diesmal besonders festlich zu
begehn, und versprach sich von der Feier eine große Wirkung auf die Teilnehmer
und eine erneute Belebung des kirchlichen Sinnes in seiner Gemeinde.

Mit rührendem Fleiße arbeitete er die Predigt aus und unterzog sich, obwohl
er von der Last des Alters gebeugt und halb erblindet war, der Mühe, das liebe
Gotteshaus mit eigner Hand zu säubern und zu schmücken. Trotz der drückenden
Sommerhitze holte er am Vorabend im Walde mehrere Lasten Tannengrün und
Blumen, wand bis spät in die Nacht Kränze und hängte die bunten Gewinde um
Altäre und Kanzel, um Taufbrunnen und Tür. Bei der Arbeit überkam ihn zu
etlichen malen eine seltsame Schwäche, die ihn zwang, sein Werk zu unterbreche"
und in einem Betstuhle Rast zu halten. Der Zustand war ihm ungewohnt, er
schrieb ihn der Überanstrengung zu und der schier unerträglichen Schwüle, die schon
geraume Zeit über dem Talkessel brütete und das müde Hirn des Greises wie mit
eisernen Klammern umspannte.

Der Festtag brach an, ohne daß die Nacht Erfrischung gebracht hätte. Rot
und dunstig stieg die Sonne über dem Hügelrande im Osten empor. Gyllis, der
sein Lager zeitig verlassen hatte, stand an der Kirchhofsmauer und ließ den Blick
seiner schwachen Augen gen Aufgang schweifen -- genau wie damals, vor einem
halben Jahrhundert. Und wieder verdeckte ein trüber Schleier die Tiefe, aber der
Schleier rührte nicht von Staub und Nebel her, sondern von der Trübung seines
Gesichts. Da war ihm, als hätte er das unterirdische Rollen wieder vernommen,


Der Mönch von weinfelden

liebes Dasein. Gyllis hätte glauben können, die Zeit stehe still, wenn ihm nicht
durch allerlei kleine Anzeichen zum Bewußtsein gebracht worden wäre, daß der ewige
Wechsel von Blühen und Welken, von Geborenwerden und Sterben jenseits des
Hügelrandes seinen ununterbrochnem Gang gehe. Bei seineu Beobachtungen, die er
Sonntags früh vom Turmfensterlein aus anstellte, bemerkte er eines Tages, daß
Theis Kuep nicht mehr so aufrecht einherschritt wie früher, daß er sich auf eiuen
Stab stützte, und daß er, so zeitig er auch von Schalkenmehren aufbrechen mochte,
doch zuweilen von Jüngern überholt wurde. Andre, die sonst regelmäßig zum
Gottesdienste gekommen waren, blieben nach und nach fern. Krankheit und die
Beschwerden des Alters hielten sie von dem gewohnten Gange zurück, bis sie sich
eines Tages zum letztenmal einstellten — die Füße voran und mit großem Ge¬
folge — und nicht wieder nach der neuen Heimat zurückkehrten. Die Gräber auf
dem Kirchhof mehrten sich, und der Pastor zimmerte mit eigner Hand manchem,
der jünger war, als er selbst, ein Kreuzlein und schnitzte die Buchstaben R. I. ?. 8.
hinein. Und die Lücken, die der Tod riß, füllte das Leben wieder aus. Die Kinder
wuchsen heran, gründete» eiuen eignen Hausstand oder zogen in die Welt, wo die
Arbeit nicht so schwer und das Brot nicht so hart war, wie auf den rauhen Höhen
der Eifel.

Nur Rehe Ströthers Häuflein schien immer dasselbe zu bleiben. In Kopfzahl
und Stufenfolge merkte man keine Veränderung. Aber der treue Pfarrherr, der
in jedem Jahre eines von Rehes Kindern zu trauen und ein andres zu taufen
hatte, wußte, daß es auch hier keinen Stillstand gab. Eins aber bekümmerte ihn
herzlich: das neue Geschlecht, das in Schalkenmehren heranwuchs und das versunkne
Dorf nur aus den Erzählungen der Eltern kannte, zeigte wenig Anhänglichkeit an
das Weinfelder Kirchlein. Die Bursche» und Mädchen, durch neue und festere Bande
mit dem Dorf, worin sie aufgewachsen waren, verbunden, konnten nicht recht verstehn,
weshalb sie einer Messe wegen, die sie in Schalkenmehren ja auch hören konnten,
den weiten Weg machen sollten. Da blieben sie denn allmählich weg, und die
Gemeinde, zu der der alternde Pastor allsonntäglich sprach, glich mehr und mehr
der Bewohnerschaft eines Greisenspittels. So kam es, daß der Kirchgänger mit
jedem Jahre weniger wurden, und daß es Gottesdienste gab, an denen nur vier
oder fünf, ja einmal nur zwei Gemeindemitglieder teilnahmen.

Der große Tag kam heran, wo sich der Untergang Weiufeldens zum funfzigsten
male jährte. Gyllis beabsichtigte, das Anniversar diesmal besonders festlich zu
begehn, und versprach sich von der Feier eine große Wirkung auf die Teilnehmer
und eine erneute Belebung des kirchlichen Sinnes in seiner Gemeinde.

Mit rührendem Fleiße arbeitete er die Predigt aus und unterzog sich, obwohl
er von der Last des Alters gebeugt und halb erblindet war, der Mühe, das liebe
Gotteshaus mit eigner Hand zu säubern und zu schmücken. Trotz der drückenden
Sommerhitze holte er am Vorabend im Walde mehrere Lasten Tannengrün und
Blumen, wand bis spät in die Nacht Kränze und hängte die bunten Gewinde um
Altäre und Kanzel, um Taufbrunnen und Tür. Bei der Arbeit überkam ihn zu
etlichen malen eine seltsame Schwäche, die ihn zwang, sein Werk zu unterbreche»
und in einem Betstuhle Rast zu halten. Der Zustand war ihm ungewohnt, er
schrieb ihn der Überanstrengung zu und der schier unerträglichen Schwüle, die schon
geraume Zeit über dem Talkessel brütete und das müde Hirn des Greises wie mit
eisernen Klammern umspannte.

Der Festtag brach an, ohne daß die Nacht Erfrischung gebracht hätte. Rot
und dunstig stieg die Sonne über dem Hügelrande im Osten empor. Gyllis, der
sein Lager zeitig verlassen hatte, stand an der Kirchhofsmauer und ließ den Blick
seiner schwachen Augen gen Aufgang schweifen — genau wie damals, vor einem
halben Jahrhundert. Und wieder verdeckte ein trüber Schleier die Tiefe, aber der
Schleier rührte nicht von Staub und Nebel her, sondern von der Trübung seines
Gesichts. Da war ihm, als hätte er das unterirdische Rollen wieder vernommen,


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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/603>, abgerufen am 02.07.2024.