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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Der Mönch von tveinfelden

deren Bau sie eben begonnen hatten, im Stich, schleppten aus dem Kirchenwald
Stämme und aus einem nahen Steinbruch Tuffblöcke herbei und wetteiferten mit¬
einander in rastloser Arbeit, bis sich das neue Pfarrhaus, der Stolz der Gemeinde,
neben der Kirche erhob. Ehe noch der Herbst ins Land kam, war das Pastorat
fertig, ein bescheidner Bau, kaum mehr als die Klause eines Einsiedlers, aber in
seiner schweigenden Einsamkeit die rechte Behausung für einen Mann, der mitten
im Leben dem Leben entsagt hatte.

Und jeden Sonntag, wenn Gyllis, der zum Zeugnisse seiner Demut auch den
Dienst eines Küsters verrichtete und sich hierin nur an den großen Festen von
Noldes unterstützen ließ, das Glöcklein läutete, pilgerten die Weinfelder von ihrem
neuen Wohnsitze zu- dem heimatlichen Gotteshause herauf. Dann schaute der Pfarr¬
herr aus dem Fensterlein des Turmes und freute sich, wenn er seine Herde auf
der Höhe des Uferrandes heranziehen sah, und wenn er jeden Einzelnen erkannte.
Theis Kuep kam gewöhnlich zuerst, er schritt mit würdevoller Gemessenheit seines
Wegs dahin, wie es sich für einen Mann schickt, dessen Stimme in der Gemeinde
Gewicht hat. Nach ihm erschien dann meist Bettes vom Fuhrt, der arme Narr,
der jedesmal, wenn er das Weinfelder Glöcklein hörte, die zuversichtliche Hoffnung
hegte, nun würde das Dorf wieder vom Grunde des Maars emporgetaucht sein,
samt seiner Ziege und seinem Feiertagsgewand, und der immer von neuem ent¬
täuscht war, wenn er, oben auf der Höhe angelangt, unten in der Tiefe den blei¬
grauen Wasserspiegel erblickte. Und dann folgten alle die andern mit Weib und
Kind: Johann Peuchen, Doreh im Broehl, Cord von der Aarlei, Peter Seger,
Wirich Kessel, und wie sie alle hießen, sonntäglich geputzt und in der Hand ein
Rosmarinsträußlein. Wenn aber über den Höhenrand ein ganzes Häuflein auf
einmal sichtbar wurde, dann wußte Gyllis, daß es Rehe Ströther mit ihren Elfen
war. Die tapfere kleine Frau hatte nämlich dem Witwenstand bald entsagt und
einen blutjungen Schalkenmehrener Burschen geheiratet, der nicht viel älter aussah
als ihr blondköpfiger Linnert, und den sie sorgsamer behüten mußte als alle ihre
Kinder.

Auch andre Schalkenmehrener stellten sich ein, wenigstens anfangs, wo Gyllis
Predigten für sie noch den Reiz des Neuen und Außergewöhnlichem hatten. Ganz
zuletzt kamen aber immer die Leute vom Wawernerbe. Sie hielten darauf, daß
zwischen ihnen und den ehemaligen Hintersassen des Burghauses ein Abstand von
wenigstens hundert gutgemessenen Schritten war, hatten auch zum ewigen Gedächtnis
ihres Glanzes das Gader ihrer Haustür in der Sakristei aufgehängt.

Wurde Hochamt und Predigt auch das ganze Jahr über fleißig besucht, so
fand sich die kleine Gemeinde doch nur an einem Tage nahezu vollzählig ein:
am 28. Juni. Dann feierte man das Anniversar der Unglücksnacht. Der Pastor
las eine Totenmesse für die arme Sünderin, die der Abgrund verschlungen hatte,
hielt darauf eine Gedenkpredigt und beschloß die Feier mit einem Lob- und Dank¬
gebet. An solchen Tagen war die Kirche mit Laubgewinden und Blumen ge¬
schmückt, und vor dem Bilde des heiligen Ägidius brannten zwei pfundige Wachs¬
kerzen, deren Kosten Gyllis aus seinen eignen knappen Einkünften bestritt.

So gingen die Jahre dahin. Der Einsiedler im Weinfelder Pastorat merkte
es kaum. Sein Eifer ließ nicht nach, und seine Sorge um die Gemeinde kannte
kein Aufhören. Sogar den Wechsel der Jahreszeiten spürte er wenig, und wenn
nicht der Winter ein weißes Leichentuch über das Land gebreitet hatte, bot der
Talkessel dem Beschauer vom Frühling bis in den Herbst immer genau denselben
Anblick. Denn durch die Bodenerschütterung der Schreckensnacht war die dünne
Schicht fruchtbaren Erdreichs, die den braunen Lavaboden der Berghänge bedeckt
hatte, gelockert worden, und der Regen hatte sie nach und nach in den See hinab¬
gespült und das mürbe Gestein des Untergrundes bloßgelegt. Da wuchsen weder
Sträucher noch Kräuter; nur Moose, Flechten und ein kurzes hartes Gras, das sogar
die genügsamen Schafe verschmähten, fristeten auf dem dürren Geröll ihr kümmer-


Der Mönch von tveinfelden

deren Bau sie eben begonnen hatten, im Stich, schleppten aus dem Kirchenwald
Stämme und aus einem nahen Steinbruch Tuffblöcke herbei und wetteiferten mit¬
einander in rastloser Arbeit, bis sich das neue Pfarrhaus, der Stolz der Gemeinde,
neben der Kirche erhob. Ehe noch der Herbst ins Land kam, war das Pastorat
fertig, ein bescheidner Bau, kaum mehr als die Klause eines Einsiedlers, aber in
seiner schweigenden Einsamkeit die rechte Behausung für einen Mann, der mitten
im Leben dem Leben entsagt hatte.

Und jeden Sonntag, wenn Gyllis, der zum Zeugnisse seiner Demut auch den
Dienst eines Küsters verrichtete und sich hierin nur an den großen Festen von
Noldes unterstützen ließ, das Glöcklein läutete, pilgerten die Weinfelder von ihrem
neuen Wohnsitze zu- dem heimatlichen Gotteshause herauf. Dann schaute der Pfarr¬
herr aus dem Fensterlein des Turmes und freute sich, wenn er seine Herde auf
der Höhe des Uferrandes heranziehen sah, und wenn er jeden Einzelnen erkannte.
Theis Kuep kam gewöhnlich zuerst, er schritt mit würdevoller Gemessenheit seines
Wegs dahin, wie es sich für einen Mann schickt, dessen Stimme in der Gemeinde
Gewicht hat. Nach ihm erschien dann meist Bettes vom Fuhrt, der arme Narr,
der jedesmal, wenn er das Weinfelder Glöcklein hörte, die zuversichtliche Hoffnung
hegte, nun würde das Dorf wieder vom Grunde des Maars emporgetaucht sein,
samt seiner Ziege und seinem Feiertagsgewand, und der immer von neuem ent¬
täuscht war, wenn er, oben auf der Höhe angelangt, unten in der Tiefe den blei¬
grauen Wasserspiegel erblickte. Und dann folgten alle die andern mit Weib und
Kind: Johann Peuchen, Doreh im Broehl, Cord von der Aarlei, Peter Seger,
Wirich Kessel, und wie sie alle hießen, sonntäglich geputzt und in der Hand ein
Rosmarinsträußlein. Wenn aber über den Höhenrand ein ganzes Häuflein auf
einmal sichtbar wurde, dann wußte Gyllis, daß es Rehe Ströther mit ihren Elfen
war. Die tapfere kleine Frau hatte nämlich dem Witwenstand bald entsagt und
einen blutjungen Schalkenmehrener Burschen geheiratet, der nicht viel älter aussah
als ihr blondköpfiger Linnert, und den sie sorgsamer behüten mußte als alle ihre
Kinder.

Auch andre Schalkenmehrener stellten sich ein, wenigstens anfangs, wo Gyllis
Predigten für sie noch den Reiz des Neuen und Außergewöhnlichem hatten. Ganz
zuletzt kamen aber immer die Leute vom Wawernerbe. Sie hielten darauf, daß
zwischen ihnen und den ehemaligen Hintersassen des Burghauses ein Abstand von
wenigstens hundert gutgemessenen Schritten war, hatten auch zum ewigen Gedächtnis
ihres Glanzes das Gader ihrer Haustür in der Sakristei aufgehängt.

Wurde Hochamt und Predigt auch das ganze Jahr über fleißig besucht, so
fand sich die kleine Gemeinde doch nur an einem Tage nahezu vollzählig ein:
am 28. Juni. Dann feierte man das Anniversar der Unglücksnacht. Der Pastor
las eine Totenmesse für die arme Sünderin, die der Abgrund verschlungen hatte,
hielt darauf eine Gedenkpredigt und beschloß die Feier mit einem Lob- und Dank¬
gebet. An solchen Tagen war die Kirche mit Laubgewinden und Blumen ge¬
schmückt, und vor dem Bilde des heiligen Ägidius brannten zwei pfundige Wachs¬
kerzen, deren Kosten Gyllis aus seinen eignen knappen Einkünften bestritt.

So gingen die Jahre dahin. Der Einsiedler im Weinfelder Pastorat merkte
es kaum. Sein Eifer ließ nicht nach, und seine Sorge um die Gemeinde kannte
kein Aufhören. Sogar den Wechsel der Jahreszeiten spürte er wenig, und wenn
nicht der Winter ein weißes Leichentuch über das Land gebreitet hatte, bot der
Talkessel dem Beschauer vom Frühling bis in den Herbst immer genau denselben
Anblick. Denn durch die Bodenerschütterung der Schreckensnacht war die dünne
Schicht fruchtbaren Erdreichs, die den braunen Lavaboden der Berghänge bedeckt
hatte, gelockert worden, und der Regen hatte sie nach und nach in den See hinab¬
gespült und das mürbe Gestein des Untergrundes bloßgelegt. Da wuchsen weder
Sträucher noch Kräuter; nur Moose, Flechten und ein kurzes hartes Gras, das sogar
die genügsamen Schafe verschmähten, fristeten auf dem dürren Geröll ihr kümmer-


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[0602] Der Mönch von tveinfelden deren Bau sie eben begonnen hatten, im Stich, schleppten aus dem Kirchenwald Stämme und aus einem nahen Steinbruch Tuffblöcke herbei und wetteiferten mit¬ einander in rastloser Arbeit, bis sich das neue Pfarrhaus, der Stolz der Gemeinde, neben der Kirche erhob. Ehe noch der Herbst ins Land kam, war das Pastorat fertig, ein bescheidner Bau, kaum mehr als die Klause eines Einsiedlers, aber in seiner schweigenden Einsamkeit die rechte Behausung für einen Mann, der mitten im Leben dem Leben entsagt hatte. Und jeden Sonntag, wenn Gyllis, der zum Zeugnisse seiner Demut auch den Dienst eines Küsters verrichtete und sich hierin nur an den großen Festen von Noldes unterstützen ließ, das Glöcklein läutete, pilgerten die Weinfelder von ihrem neuen Wohnsitze zu- dem heimatlichen Gotteshause herauf. Dann schaute der Pfarr¬ herr aus dem Fensterlein des Turmes und freute sich, wenn er seine Herde auf der Höhe des Uferrandes heranziehen sah, und wenn er jeden Einzelnen erkannte. Theis Kuep kam gewöhnlich zuerst, er schritt mit würdevoller Gemessenheit seines Wegs dahin, wie es sich für einen Mann schickt, dessen Stimme in der Gemeinde Gewicht hat. Nach ihm erschien dann meist Bettes vom Fuhrt, der arme Narr, der jedesmal, wenn er das Weinfelder Glöcklein hörte, die zuversichtliche Hoffnung hegte, nun würde das Dorf wieder vom Grunde des Maars emporgetaucht sein, samt seiner Ziege und seinem Feiertagsgewand, und der immer von neuem ent¬ täuscht war, wenn er, oben auf der Höhe angelangt, unten in der Tiefe den blei¬ grauen Wasserspiegel erblickte. Und dann folgten alle die andern mit Weib und Kind: Johann Peuchen, Doreh im Broehl, Cord von der Aarlei, Peter Seger, Wirich Kessel, und wie sie alle hießen, sonntäglich geputzt und in der Hand ein Rosmarinsträußlein. Wenn aber über den Höhenrand ein ganzes Häuflein auf einmal sichtbar wurde, dann wußte Gyllis, daß es Rehe Ströther mit ihren Elfen war. Die tapfere kleine Frau hatte nämlich dem Witwenstand bald entsagt und einen blutjungen Schalkenmehrener Burschen geheiratet, der nicht viel älter aussah als ihr blondköpfiger Linnert, und den sie sorgsamer behüten mußte als alle ihre Kinder. Auch andre Schalkenmehrener stellten sich ein, wenigstens anfangs, wo Gyllis Predigten für sie noch den Reiz des Neuen und Außergewöhnlichem hatten. Ganz zuletzt kamen aber immer die Leute vom Wawernerbe. Sie hielten darauf, daß zwischen ihnen und den ehemaligen Hintersassen des Burghauses ein Abstand von wenigstens hundert gutgemessenen Schritten war, hatten auch zum ewigen Gedächtnis ihres Glanzes das Gader ihrer Haustür in der Sakristei aufgehängt. Wurde Hochamt und Predigt auch das ganze Jahr über fleißig besucht, so fand sich die kleine Gemeinde doch nur an einem Tage nahezu vollzählig ein: am 28. Juni. Dann feierte man das Anniversar der Unglücksnacht. Der Pastor las eine Totenmesse für die arme Sünderin, die der Abgrund verschlungen hatte, hielt darauf eine Gedenkpredigt und beschloß die Feier mit einem Lob- und Dank¬ gebet. An solchen Tagen war die Kirche mit Laubgewinden und Blumen ge¬ schmückt, und vor dem Bilde des heiligen Ägidius brannten zwei pfundige Wachs¬ kerzen, deren Kosten Gyllis aus seinen eignen knappen Einkünften bestritt. So gingen die Jahre dahin. Der Einsiedler im Weinfelder Pastorat merkte es kaum. Sein Eifer ließ nicht nach, und seine Sorge um die Gemeinde kannte kein Aufhören. Sogar den Wechsel der Jahreszeiten spürte er wenig, und wenn nicht der Winter ein weißes Leichentuch über das Land gebreitet hatte, bot der Talkessel dem Beschauer vom Frühling bis in den Herbst immer genau denselben Anblick. Denn durch die Bodenerschütterung der Schreckensnacht war die dünne Schicht fruchtbaren Erdreichs, die den braunen Lavaboden der Berghänge bedeckt hatte, gelockert worden, und der Regen hatte sie nach und nach in den See hinab¬ gespült und das mürbe Gestein des Untergrundes bloßgelegt. Da wuchsen weder Sträucher noch Kräuter; nur Moose, Flechten und ein kurzes hartes Gras, das sogar die genügsamen Schafe verschmähten, fristeten auf dem dürren Geröll ihr kümmer-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/602>, abgerufen am 04.07.2024.