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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Die Zukunft der juristischen Professuren

zösische Unterrichtsweise ist die der Kommentare, und sie führt, wie Bahr es
zutreffend bezeichnet, ein "dürftiges Bazillenleben." Mag nun auch diese
Unterrichtsweise je nach der Persönlichkeit des Lehrers in Frankreich immer
noch verschieden sein: das eine steht fest, daß es als die Hauptaufgabe der
französischen Rechtsschulen gilt, die Kenntnis des geltenden französischen Rechts
dem Rechtsschüler beizubringen.

Und gerade hierin liegt der wichtige Gegensatz des französischen und des
deutschen Rechtsunterrichts, wenigstens wie dieser bis vor wenig Jahren in
Deutschland betrieben wurde. Das bürgerliche Recht wird natürlich immer
der wichtigste Teil des ganzen Nechtsunterrichts sein, und der Mittelpunkt
des gesamten Unterrichts im bürgerlichen Recht war bis vor wenig Jahren
in Deutschland das "Gemeine Recht," d. h. das Römische Recht in der ihm
durch eine fast zwei Jahrtausende währende Entwicklung gewordnen Gestalt,
also ein Recht, das nur für etwa fünfzehn Millionen Deutscher praktische
Geltung hatte, demnach für etwa fünf Sechstel der Studierenden gar keine
praktische Bedeutung beanspruchen konnte. Aber es wurde auch kein Gewicht
darauf gelegt, dem Studierenden die Kenntnis des geltenden Gemeinen Rechts
beizubringen, sondern die ganze Unterrichtsweise war mehr exegetisch-geschichtlich,
so als sollten sämtliche Studierende zu Professoren des Römischen Rechts aus¬
gebildet werden. Volle fünf Stunden die Woche hörte der Studierende römische
Rechtsgeschichte, weitaus zum größten Teil eine Darstellung der römischen
Gerichts- und Staatsverfassung. Und auch bei der Darstellung des geltenden
Gemeinen Rechts, also der Pandekten und des neben ihnen geltenden deutschen
Privatrechts, wurde dem Studierenden, wie der berühmte Rechtslehrer Mulder*)
es bezeichnend ausdrückt, nicht ein Bild von dem geltenden Recht, sondern
ein "Zerrbild, ein seltsam zusammengewürfelter Stoff geboten, sehr ungleich
in seinen Bestandteilen, sowohl was den Ursprung als auch was die praktische
Anwendbarkeit betrifft." Rechts einrichten gen des römischen und des germa¬
nischen Rechts, die völlig abgestorben sind und für das geltende Recht nicht
die allergeringste Bedeutung hatten, wurden bei den Vorlesungen über Pandekten
und deutsches Privatrecht ausführlich erläutert.

Der Hauptteil des Corpus Juris, die sogenannten Pandekten oder Di-
gesten, sind bekanntlich eine Zusammenstellung von "Fragmenten" aus den
Schriften römischer Rechtsgelehrter, also willkürlich zusammengewürfelte Stellen
aus rechtswissenschaftlichen Werken, die vor etwa zweitausend Jahren für ein
Staatswesen geschrieben worden waren, das von dem unsrigen himmelweit ver¬
schieden ist. Da gab es Lruves -surisoovsMorum die Menge, und im Grunde
genommen war im Gemeinen Recht alles und jedes "kontrovers," sodaß schon
Friedrich der Große im Jahre 1746 schrieb, alle Mängel der Rechtspflege
seien zurückzuführen auf das "ungewisse lateinische römische Recht, welches
nicht allein ohne Ordnung kompiliret worden, sondern worin sinSnIae IkZes
xro et voudra disputiret oder nach eines jeden Caprice limitiret und extendiret
werden." Und da dieses Römische Recht, wie erwähnt worden ist, der Mittel-



*) Die Reform des juristischen Unterrichts (1873) S, 10.
Die Zukunft der juristischen Professuren

zösische Unterrichtsweise ist die der Kommentare, und sie führt, wie Bahr es
zutreffend bezeichnet, ein „dürftiges Bazillenleben." Mag nun auch diese
Unterrichtsweise je nach der Persönlichkeit des Lehrers in Frankreich immer
noch verschieden sein: das eine steht fest, daß es als die Hauptaufgabe der
französischen Rechtsschulen gilt, die Kenntnis des geltenden französischen Rechts
dem Rechtsschüler beizubringen.

Und gerade hierin liegt der wichtige Gegensatz des französischen und des
deutschen Rechtsunterrichts, wenigstens wie dieser bis vor wenig Jahren in
Deutschland betrieben wurde. Das bürgerliche Recht wird natürlich immer
der wichtigste Teil des ganzen Nechtsunterrichts sein, und der Mittelpunkt
des gesamten Unterrichts im bürgerlichen Recht war bis vor wenig Jahren
in Deutschland das „Gemeine Recht," d. h. das Römische Recht in der ihm
durch eine fast zwei Jahrtausende währende Entwicklung gewordnen Gestalt,
also ein Recht, das nur für etwa fünfzehn Millionen Deutscher praktische
Geltung hatte, demnach für etwa fünf Sechstel der Studierenden gar keine
praktische Bedeutung beanspruchen konnte. Aber es wurde auch kein Gewicht
darauf gelegt, dem Studierenden die Kenntnis des geltenden Gemeinen Rechts
beizubringen, sondern die ganze Unterrichtsweise war mehr exegetisch-geschichtlich,
so als sollten sämtliche Studierende zu Professoren des Römischen Rechts aus¬
gebildet werden. Volle fünf Stunden die Woche hörte der Studierende römische
Rechtsgeschichte, weitaus zum größten Teil eine Darstellung der römischen
Gerichts- und Staatsverfassung. Und auch bei der Darstellung des geltenden
Gemeinen Rechts, also der Pandekten und des neben ihnen geltenden deutschen
Privatrechts, wurde dem Studierenden, wie der berühmte Rechtslehrer Mulder*)
es bezeichnend ausdrückt, nicht ein Bild von dem geltenden Recht, sondern
ein „Zerrbild, ein seltsam zusammengewürfelter Stoff geboten, sehr ungleich
in seinen Bestandteilen, sowohl was den Ursprung als auch was die praktische
Anwendbarkeit betrifft." Rechts einrichten gen des römischen und des germa¬
nischen Rechts, die völlig abgestorben sind und für das geltende Recht nicht
die allergeringste Bedeutung hatten, wurden bei den Vorlesungen über Pandekten
und deutsches Privatrecht ausführlich erläutert.

Der Hauptteil des Corpus Juris, die sogenannten Pandekten oder Di-
gesten, sind bekanntlich eine Zusammenstellung von „Fragmenten" aus den
Schriften römischer Rechtsgelehrter, also willkürlich zusammengewürfelte Stellen
aus rechtswissenschaftlichen Werken, die vor etwa zweitausend Jahren für ein
Staatswesen geschrieben worden waren, das von dem unsrigen himmelweit ver¬
schieden ist. Da gab es Lruves -surisoovsMorum die Menge, und im Grunde
genommen war im Gemeinen Recht alles und jedes „kontrovers," sodaß schon
Friedrich der Große im Jahre 1746 schrieb, alle Mängel der Rechtspflege
seien zurückzuführen auf das „ungewisse lateinische römische Recht, welches
nicht allein ohne Ordnung kompiliret worden, sondern worin sinSnIae IkZes
xro et voudra disputiret oder nach eines jeden Caprice limitiret und extendiret
werden." Und da dieses Römische Recht, wie erwähnt worden ist, der Mittel-



*) Die Reform des juristischen Unterrichts (1873) S, 10.
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[0568] Die Zukunft der juristischen Professuren zösische Unterrichtsweise ist die der Kommentare, und sie führt, wie Bahr es zutreffend bezeichnet, ein „dürftiges Bazillenleben." Mag nun auch diese Unterrichtsweise je nach der Persönlichkeit des Lehrers in Frankreich immer noch verschieden sein: das eine steht fest, daß es als die Hauptaufgabe der französischen Rechtsschulen gilt, die Kenntnis des geltenden französischen Rechts dem Rechtsschüler beizubringen. Und gerade hierin liegt der wichtige Gegensatz des französischen und des deutschen Rechtsunterrichts, wenigstens wie dieser bis vor wenig Jahren in Deutschland betrieben wurde. Das bürgerliche Recht wird natürlich immer der wichtigste Teil des ganzen Nechtsunterrichts sein, und der Mittelpunkt des gesamten Unterrichts im bürgerlichen Recht war bis vor wenig Jahren in Deutschland das „Gemeine Recht," d. h. das Römische Recht in der ihm durch eine fast zwei Jahrtausende währende Entwicklung gewordnen Gestalt, also ein Recht, das nur für etwa fünfzehn Millionen Deutscher praktische Geltung hatte, demnach für etwa fünf Sechstel der Studierenden gar keine praktische Bedeutung beanspruchen konnte. Aber es wurde auch kein Gewicht darauf gelegt, dem Studierenden die Kenntnis des geltenden Gemeinen Rechts beizubringen, sondern die ganze Unterrichtsweise war mehr exegetisch-geschichtlich, so als sollten sämtliche Studierende zu Professoren des Römischen Rechts aus¬ gebildet werden. Volle fünf Stunden die Woche hörte der Studierende römische Rechtsgeschichte, weitaus zum größten Teil eine Darstellung der römischen Gerichts- und Staatsverfassung. Und auch bei der Darstellung des geltenden Gemeinen Rechts, also der Pandekten und des neben ihnen geltenden deutschen Privatrechts, wurde dem Studierenden, wie der berühmte Rechtslehrer Mulder*) es bezeichnend ausdrückt, nicht ein Bild von dem geltenden Recht, sondern ein „Zerrbild, ein seltsam zusammengewürfelter Stoff geboten, sehr ungleich in seinen Bestandteilen, sowohl was den Ursprung als auch was die praktische Anwendbarkeit betrifft." Rechts einrichten gen des römischen und des germa¬ nischen Rechts, die völlig abgestorben sind und für das geltende Recht nicht die allergeringste Bedeutung hatten, wurden bei den Vorlesungen über Pandekten und deutsches Privatrecht ausführlich erläutert. Der Hauptteil des Corpus Juris, die sogenannten Pandekten oder Di- gesten, sind bekanntlich eine Zusammenstellung von „Fragmenten" aus den Schriften römischer Rechtsgelehrter, also willkürlich zusammengewürfelte Stellen aus rechtswissenschaftlichen Werken, die vor etwa zweitausend Jahren für ein Staatswesen geschrieben worden waren, das von dem unsrigen himmelweit ver¬ schieden ist. Da gab es Lruves -surisoovsMorum die Menge, und im Grunde genommen war im Gemeinen Recht alles und jedes „kontrovers," sodaß schon Friedrich der Große im Jahre 1746 schrieb, alle Mängel der Rechtspflege seien zurückzuführen auf das „ungewisse lateinische römische Recht, welches nicht allein ohne Ordnung kompiliret worden, sondern worin sinSnIae IkZes xro et voudra disputiret oder nach eines jeden Caprice limitiret und extendiret werden." Und da dieses Römische Recht, wie erwähnt worden ist, der Mittel- *) Die Reform des juristischen Unterrichts (1873) S, 10.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/568>, abgerufen am 04.07.2024.