Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.Johann Friedrich Reichardt Kraftgenies gern lauschen, der Schüler Kants blieb doch in seinem Innersten Einen tiefen Blick in die Gedankenwelt und das Gemüt unsers Reichardts Johann Friedrich Reichardt Kraftgenies gern lauschen, der Schüler Kants blieb doch in seinem Innersten Einen tiefen Blick in die Gedankenwelt und das Gemüt unsers Reichardts <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0035" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/293654"/> <fw type="header" place="top"> Johann Friedrich Reichardt</fw><lb/> <p xml:id="ID_91" prev="#ID_90"> Kraftgenies gern lauschen, der Schüler Kants blieb doch in seinem Innersten<lb/> ein überzeugter Jünger der aufgeklärten Weltanschauung, die das freie, von<lb/> jeder Glnubensrücksicht unabhängige Denken als ein unveräußerliches Recht der<lb/> Vernunft in Anspruch nahm, allseitige religiöse Duldung und Anerkennung der<lb/> allgemeinen Menschenrechte forderte und voll froher Zuversicht die Lösung aller<lb/> dogmatischen, politischen und sozialen Fesseln von einer nahen Zukunft erwartete.<lb/> Vor allem betätigte er schon damals im Leben den schönen, humanen Enthu¬<lb/> siasmus für Glaubens- und Denkfreiheit, die edle, freudige Hilfsbereitschaft<lb/> für Elende und Bedrängte, besonders für Opfer tyrannischer Verfolgungssucht,<lb/> Tugenden, wie sie das in Edelmut schwelgende Zeitalter in den Idealgestalten<lb/> eines Nathan, Tellheim, Marquis Posa bewunderte. Als der freisinnige Abt<lb/> Blarer aus Wien, den Kaiser Joseph der Zweite, damit er vor den Jesuiten<lb/> sicher wäre, dem Berliner Gesandtschaftspersonal beigegeben hatte, von seinen<lb/> Verfolgern in Konstanz in strenge Haft gebracht worden war, reiste Reichardt,<lb/> sobald er die Bedrängnis seines Freundes erfuhr, vou seinem augenblicklichen<lb/> Aufenthaltsorte Neapel ohne Verzug über die Alpen, befreite Blarer glücklich<lb/> und brachte ihn bei zuverlässigen Freunden unter. Und einen jungen Ver¬<lb/> wandten, einen Demokraten Schmohl aus dem Lande Anhalt-Zerbst, dem wegen<lb/> eines Konflikts mit seinem Landesherrn das Schicksal drohte, nach Rußland<lb/> transportiert zu werden, rettete er aus der Gefahr, persans ihm zur Flucht<lb/> nach Amerika und unterstützte seine Eltern. Dieser Eifer für menschenfreund¬<lb/> liche Bestrebungen führte ihn damals zuerst mit dem schlesischen Grafen<lb/> Schlaberndorf zusammen, dem philanthropischen Sonderling, der zu jener Zeit<lb/> Deutschland und Europa durchreiste und, im Besitz eines ansehnlichen Ver¬<lb/> mögens, selbst völlig bedürfnislos eine großartige Wohltätigkeit übte. Reichardt<lb/> übernahm die Verwaltung einer von diesem Menschenfreunde eingerichteten<lb/> Armenkasse, aus der u. n. der unglückliche, in Berlin lebende, in tiefem Elende<lb/> verkommene Sohn des großen Bach, Friedemann, eine Unterstützung erhielt, und<lb/> veranlaßte Schlaberndorf, den von Armut gedrückten Matthias Claudius durch<lb/> ein Jahrgehalt von Nahrungssorgen zu befreien. Freilich eignete sich der<lb/> verschwenderische und sorglose Künstler mehr zur Anregung als zur regel¬<lb/> mäßigen Verwaltung solcher Unterstützungen. Eine Generalbeichte Reichardts an<lb/> den Grafen im Weimarer Goethearchiv gibt davon ein bedenkliches Zeugnis.</p><lb/> <p xml:id="ID_92"> Einen tiefen Blick in die Gedankenwelt und das Gemüt unsers Reichardts<lb/> gewährt uns die musikalische Zeitschrift Das Kunstmagazin, die er 1782 und<lb/> später herausgab. Der neueste Biograph Reichardts, W. Pauli, nennt das<lb/> Werk mit Recht eine große Tat. Großgütige Regenten ruft er an. die Ton¬<lb/> kunst dnrch Musikschulen und andre Mittel zu fördern. Den jungen Künstlern<lb/> will er den Weg zur wahren, hohen Kunst zeigen, indem er wertvolle<lb/> Schöpfungen großer italienischer, französischer und deutscher Meister mitteilt.<lb/> Vor allem preist er den großen Händel und widmet dein unsterblichen Gluck<lb/> bei seinem Tode ein begeistertes Gedächtniswort. Ja die gewaltige, schwer<lb/> verstündliche Tonsprache Sebastian Bachs sucht er seinen Lesern nahe zu bringen,<lb/> indem er in geistvoller Weise Goethes Schilderung des Straßburger Münsters<lb/> "uf die verschnörkelte Gotik der Nachsehen Musik anwendet.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0035]
Johann Friedrich Reichardt
Kraftgenies gern lauschen, der Schüler Kants blieb doch in seinem Innersten
ein überzeugter Jünger der aufgeklärten Weltanschauung, die das freie, von
jeder Glnubensrücksicht unabhängige Denken als ein unveräußerliches Recht der
Vernunft in Anspruch nahm, allseitige religiöse Duldung und Anerkennung der
allgemeinen Menschenrechte forderte und voll froher Zuversicht die Lösung aller
dogmatischen, politischen und sozialen Fesseln von einer nahen Zukunft erwartete.
Vor allem betätigte er schon damals im Leben den schönen, humanen Enthu¬
siasmus für Glaubens- und Denkfreiheit, die edle, freudige Hilfsbereitschaft
für Elende und Bedrängte, besonders für Opfer tyrannischer Verfolgungssucht,
Tugenden, wie sie das in Edelmut schwelgende Zeitalter in den Idealgestalten
eines Nathan, Tellheim, Marquis Posa bewunderte. Als der freisinnige Abt
Blarer aus Wien, den Kaiser Joseph der Zweite, damit er vor den Jesuiten
sicher wäre, dem Berliner Gesandtschaftspersonal beigegeben hatte, von seinen
Verfolgern in Konstanz in strenge Haft gebracht worden war, reiste Reichardt,
sobald er die Bedrängnis seines Freundes erfuhr, vou seinem augenblicklichen
Aufenthaltsorte Neapel ohne Verzug über die Alpen, befreite Blarer glücklich
und brachte ihn bei zuverlässigen Freunden unter. Und einen jungen Ver¬
wandten, einen Demokraten Schmohl aus dem Lande Anhalt-Zerbst, dem wegen
eines Konflikts mit seinem Landesherrn das Schicksal drohte, nach Rußland
transportiert zu werden, rettete er aus der Gefahr, persans ihm zur Flucht
nach Amerika und unterstützte seine Eltern. Dieser Eifer für menschenfreund¬
liche Bestrebungen führte ihn damals zuerst mit dem schlesischen Grafen
Schlaberndorf zusammen, dem philanthropischen Sonderling, der zu jener Zeit
Deutschland und Europa durchreiste und, im Besitz eines ansehnlichen Ver¬
mögens, selbst völlig bedürfnislos eine großartige Wohltätigkeit übte. Reichardt
übernahm die Verwaltung einer von diesem Menschenfreunde eingerichteten
Armenkasse, aus der u. n. der unglückliche, in Berlin lebende, in tiefem Elende
verkommene Sohn des großen Bach, Friedemann, eine Unterstützung erhielt, und
veranlaßte Schlaberndorf, den von Armut gedrückten Matthias Claudius durch
ein Jahrgehalt von Nahrungssorgen zu befreien. Freilich eignete sich der
verschwenderische und sorglose Künstler mehr zur Anregung als zur regel¬
mäßigen Verwaltung solcher Unterstützungen. Eine Generalbeichte Reichardts an
den Grafen im Weimarer Goethearchiv gibt davon ein bedenkliches Zeugnis.
Einen tiefen Blick in die Gedankenwelt und das Gemüt unsers Reichardts
gewährt uns die musikalische Zeitschrift Das Kunstmagazin, die er 1782 und
später herausgab. Der neueste Biograph Reichardts, W. Pauli, nennt das
Werk mit Recht eine große Tat. Großgütige Regenten ruft er an. die Ton¬
kunst dnrch Musikschulen und andre Mittel zu fördern. Den jungen Künstlern
will er den Weg zur wahren, hohen Kunst zeigen, indem er wertvolle
Schöpfungen großer italienischer, französischer und deutscher Meister mitteilt.
Vor allem preist er den großen Händel und widmet dein unsterblichen Gluck
bei seinem Tode ein begeistertes Gedächtniswort. Ja die gewaltige, schwer
verstündliche Tonsprache Sebastian Bachs sucht er seinen Lesern nahe zu bringen,
indem er in geistvoller Weise Goethes Schilderung des Straßburger Münsters
"uf die verschnörkelte Gotik der Nachsehen Musik anwendet.
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |